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Der doppelte Gustav

Über den Attersee und seine Säulenheiligen, das von Gustav Mahler wegkomponierte Höllengebirge und was mein Ururgroßvater mit Gustav Klimt zu bereden hatte

Zu den größten Wundern Österreichs zählen der Apfelstrudel, der Marillenstrudel und der Topfenstrudel. Aber das allergrößte Wunder ist der Attersee mit seinem augenbetörenden, in der Sonne glänzenden Türkis. Jetzt, wo der Sommer dahin ist und auch dem Herbst allmählich die Farben ausgehen, kommt es dir immer wieder in den Sinn. Du brauchst nur auf deine Füße zu schauen, die deine kleine Tochter dir angemalt hat. Noch ist der Lack nicht ab, noch kannst du es sehen: das leuchtende Blaugrün.

Manchmal nachts, kurz vor dem Erwachen, stellst du dir vor, wie du in der Stille des Morgens aus dem Zimmer schleichst. Sogar mit geschlossenen Augen würdest du den Weg finden. Die wackeligen Holzstufen hinab (Vorsicht bei der vorletzten!), über die taufeuchte Wiese mit den haselnußbraunen Schnecken, am Gasthof vorbei und die kleine Straße hinunter, neben der ein Bach gluckert und schäumt.

Und dann liegt er vor dir: windstill oder noch gewellt von einem nächtlichen Unwetter; auf und nieder bewegt sich der See, als würde er atmen – und vielleicht tut er es wirklich. Ja, tatsächlich, du glaubst es zu spüren, während du eintauchst mit den Füßen, den Beinen, während du die Arme ausstreckst, schwimmst.

Es ist, als hätte er nur auf dich gewartet. Ganz still ist es, niemand sonst ist da. Nur hin und wieder hörst du ein Plätschern, wenn ein Fisch aus dem Wasser springt. Am Ufer krähen die Hähne.

Das erste Mal, daß du im Attersee geschwommen bist ... Du erinnerst dich daran, als wäre es gestern gewesen. Dabei ist er dreizehn Jahre her: dieser Sommertag, an dessen Ende ein sintflutartiger Regen über euch hereinbrach. Ihr wart schon auf dem Heimweg, und vielleicht war das der Grund, daß der Himmel die dicksten Wolken über euch auswrang – als wollte er dir aufs Auge drücken, was du tief in deinem Inneren fühltest. Wahrscheinlich konnte er so wenig fassen wie ihr selbst, daß ihr schon wieder fort mußtet.

Und war es nicht wirklich widersinnig, gegen alle Vernunft? Gerade erst hattest du herausgefunden (Si apre in una nuova finestra), daß dein Ururgroßvater am Attersee eine Sommervilla besaß – und es sie hundert Jahre später noch immer gab. Freilich, sie gehörte jetzt fremden Leuten und sah anders aus als damals; aber was tat das zur Sache? Es war das Haus deiner Vorfahren, das da in Seewalchen an der Promenade stand: mit dem schönsten Blick auf dieses Türkis, dem du vom ersten Moment an verfallen warst.

Was für eine Entdeckung, daß lange vor dir schon ein Deckert sein Herz daran gehängt hatte! Die Liebe zum Attersee, dieser coup de foudre, steckte dir also in den Genen. Das einzige Erbe, das auf dich gekommen war – außer ein paar Postkarten, Fotos und einem Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof. Die Millionen des Wiener Großindustriellen und Firmenchefs Wilhelm Deckert? Pustekuchen!

Hand aufs Herz: Eigentlich hättest du dableiben müssen. Klingeln, einziehen, fertig. Morgens: Schwimmen im See. Abends: Schwimmen im See. Und dazwischen Apfelstrudel.

An diesem Tag konntest du immerhin einen Blick auf das Haus werfen. Er geriet dir – nein, nicht besitzergreifend! Eher sehnsüchtig, wie deine Frau sich erinnert. Du selber weißt noch, daß du gar nicht aufhören konntest zu schauen, während du durch Seewalchen gingst und dich alle paar Schritte fragtest, wie es hier wohl ausgesehen hatte: damals in der Sommerfrische der Deckerts.

Nur nach den Kastanienbäumen, die der bärtige Wilhelm auf der Promenade pflanzen ließ, hieltest du vergeblich Ausschau. Den letzten hatte man vor dreißig Jahren beim Bau des neuen Strandbades gefällt.

Ja, das eine oder andere wußtest du schon, als du dich auf den Weg machtest. Du wolltest ja nicht unvorbereitet sein bei diesem Rendezvous mit deiner Familiengeschichte. Vieles andere aber war dir noch unbekannt. Die Legenden, die am See im Umlauf sind – noch hatte sie dir keiner erzählt. Selbst von den beiden Säulenheiligen des Attersees nahmst du erst später Notiz.

Von Gustav Klimt, der von 1900 bis 1916 fast jeden Sommer hier verbrachte und über fünfzig Landschaftsgemälde schuf. Auf einem fing er die Farben des Sees so treffend ein, daß ein begeisterter Kritiker von einem „Rahmen voll Seewasser“ sprach.

Und von Gustav Mahler, der ein paar Jahre früher in seinem Komponierhäuschen in Steinbach nicht nur Teile der Zweiten und seine Dritte Sinfonie, sondern gleich das ganze Höllengebirge wegkomponierte! Das jedenfalls erklärte er dem Dirigenten Bruno Walter, der bei seiner Ankunft die Felsmassen ringsum bestaunte: „Sie brauchen gar nicht mehr hinzusehen – das habe ich alles schon wegkomponiert!“

Aber da hat er geflunkert. Über ein Jahrhundert später ist alles noch da: der See und das Höllengebirge, ja sogar das Gasthaus, in dem er damals logierte. Und auch den beiden Gustavs begegnet man auf Schritt und Tritt. Überall stößt man auf Gedenktafeln, Hinweisschilder und Aufsteller mit quadratischen Fenstern, durch die man auf das Blaugrün („Rahmen voll Seewasser“) blickt wie einst Klimt.

Nähert man sich der Anlegestelle von Unterach, stampft prompt ein Schiff heran, dessen dem Ufer zugewandte Seite ein Porträt von Mahler ziert. An Bord ist es, als würde man durch Klimts Farbkasten waten – die Teppiche in den Salons wurden mit Hilfe einer Künstlichen Intelligenz „im Gustav Klimt Style“ gestaltet. Nein, es gibt kein Entkommen!

Wüßte man es nicht besser, man könnte denken, nicht der Attersee, sondern Mahler und Klimt seien zuerst dagewesen – und dann erst wurde ihnen zu Ehren das Wasser eingelassen. Vielleicht sollte man ihn einfach in Gustavsee umbenennen, und die Leute könnten sich aussuchen, ob sie dabei an den Maler denken oder an Mahler.

Die Zeiten waren andere, als die beiden Gustavs am Attersee zu Werke gingen. Was heute der Tourismus ist, war damals die Sommerfrische. Um der Wiener Hitze zu entgehen, war das Salzkammergut ein beliebtes Ziel. Am Wolfgangsee und am Traunsee tummelte sich der Adel – nicht weit entfernt von Bad Ischl, wo das Kaiserhaus residierte. Dagegen waren am Attersee die liberalen Bürgerlichen zugange.

Mahler und Klimt hielten nicht Hof. Sie waren froh, den Zumutungen des Alltags entronnen zu sein. Sommerfrische, das hieß: Ruhe und Abgeschiedenheit, ein anderes Licht, einen freien Kopf – frei für neue Gedanken, Pläne, für Musik und Malerei.

Und dann war ja noch der Attersee selber. Mahler schwamm furchtlos ans gegenüberliegende Ufer. Klimt ruderte und setzte mit Kennermiene Segel; und als das Motorboot aufkam, war er einer der ersten, die über das glänzende Türkis knatterten. Bei einer Regatta fungierte er sogar als Schiedsrichter!

Mahler bevorzugte das Fahrrad oder ging zu Fuß. Und hatte er eine besonders harte kompositorische Nuß geknackt, stiefelte er zur Erholung in die Berge: im Rucksack gebratenes Hühnerfleisch und eine Thermosflasche mit schwarzem Kaffee.

Vier Sommer verbrachte Gustav Mahler ab 1893 in Steinbach. Das Domizil: ein Landgasthof am Fuße des Höllengebirges, vom Seeufer getrennt nur durch eine Wiese voller Feldblumen und Bienengesumm. Es war diese Wiese, die ihm schon bald nicht mehr aus dem Kopf ging. Wäre es nicht denkbar ...? Könnte man nicht ...?

Was ihm vorschwebte, war ein Häuschen auf eben jener Wiese: mit Tisch und Stuhl und einem Flügel. Das Wichtigste aber war kein Instrument und kein Möbelstück, sondern – die Stille. Denn damit war es im Gasthof nicht weit her. Unmöglich, die lärmenden Ausflügler oder gar die eigene Familie zum Schweigen zu verpflichten!

Rasch nahm der Gedanke Gestalt an, schon im Herbst lag ein Bauplan auf dem Tisch. Ein örtlicher Maurermeister machte sich ans Werk, und bereits in seinem zweiten Steinbacher Sommer arbeitete Mahler alle Tage in seinem Komponierhäuschen. Jeden Morgen ab halb sieben war er dort anzutreffen.

Halt! Treffen durfte man ihn dort nicht, natürlich nicht! Unter keinen Umständen sollte der Meister gestört werden: „bei Todesstrafe“, wie Mahlers Seelenfreundin Natalie Bauer-Lechner in ihrem Tagebuch notiert.

Um das zu verhindern, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Lärmende Dorfkinder bestach man mit Süßigkeiten und Spielzeug. Knechte kassierten einen Gulden, damit sie ihre Sensen nicht in Hörweite dengelten (was sie nun freilich erst recht taten). Und kam ein wandernder Musikant des Wegs, stürzte man mit einem „Abfindungszehnerl“ auf ihn los, so daß er „mitten im Ton“ verstummte.

Schlechter erging es nur den Tieren: „Hunde, Katzen, Hühner und Gänse konnten ihres Lebens in unserer Nähe nicht froh werden; sie wurden vertrieben und eingesperrt oder, wollten sie gar keine Ruhe geben, gekauft und verzehrt, um ihre Stimmen aus der Welt zu schaffen.“

Diese Methoden erwiesen sich als denkbar ungeeignet, wenn sich Mahler durch „pfeifende Schnitter“ oder „sing- und streitlustige Bauern“ gestört fühlte. Dann, erinnert sich Natalie Bauer-Lechner, „war es meiner ganzen Schlauheit und Überredungskunst anheimgegeben, den Ruhestörern begreiflich zu machen, was wir von ihnen wollten, und sie durch Bier, Trinkgeld oder weiß Gott was sonst zum Schweigen zu bringen. Wollte es gar nicht gelingen, so sagte ich ihnen, der Herr sei nicht ganz richtig im Kopf.“

Daß der Herr nicht ganz richtig im Kopf sei: das mag manch braver Bürger auch von Gustav Klimt gedacht haben, wenn er ihm am See begegnete. Mit seinem Vollbart und dem von Emilie Flöge geschneiderten wallenden Reformkleid hätte man ihn glatt für einen Jünger Jesu halten können – wären da nicht Leinwand und Staffelei gewesen, die er mit sich herumtrug.

Klimt wird es recht gewesen sein. Er haßte es, von fremden Leuten angesprochen zu werden. Für die Sommerfrischler, die ihn erkannten, hatte er nur mürrisches Schweigen übrig. Selbst das Angebot, ihm beim Transport seiner Malsachen zu helfen, lehnte er ab. Wenn es nicht regnete, ließ er sie lieber im Wald zurück: unter einem Haufen Laub vor neugierigen Blicken verborgen.

Wie Mahler war er schon frühmorgens auf den Beinen. Um sechs, schreibt er in einem Brief, stehe er auf, um vor dem Frühstück einen kleinen Buchenwald zu malen. Auch er brauchte die Stille, um arbeiten zu können.

Das war auch der Grund, weshalb er nur in seinem ersten Sommer am Attersee in jener Villa logierte, die heute vor allem mit ihm verbunden ist. Es war einfach zu viel los im Hause des k. u. k. Hoftischlermeisters Friedrich Paulick in Seewalchen!

Schon damals war die Villa Paulick die berühmteste Villa am See. Spektakulär war nicht nur ihre Lage am Wasser, sondern auch ihre Dachlandschaft und die vergoldete Neorenaissance-Kassettendecke im Salon, die aus dem Pavillon des Kaisers auf der Wiener Weltausstellung von 1873 stammte. Kein Wunder, daß sich über die Jahre reichlich Publikum einfand – und Klimt sich ein ruhigeres Quartier suchte.

Dank familiärer Verbandelungen blieb er auch danach ein gern gesehener Gast. Es gibt etliche Fotos, auf denen er zu sehen ist: im Garten, auf der Terrasse, vor dem Bootshaus, und oft in Gesellschaft von Emilie Flöge. Einmal sitzt er in einer Pferdekutsche, im Hintergrund erkennt man die Kirche.

Vom Sommerhaus, das dein Ururgroßvater erbauen ließ, bis zur Villa Paulick sind es zweihundert Meter; zur Kirche geht es ein kleines Stück bergauf. Seit du weißt, daß Klimt und er zur selben Zeit am selben Ort waren, stellst du dir vor, wie sich Gustav (der Maler ohne h) und Wilhelm begegnet sein könnten.

Könnten? Ach was – begegnet sind! Seewalchen ist nicht Wien; die Anzahl der Passanten auf der Promenade dürfte damals so überschaubar gewesen sein wie heute die der Schwäne vor dem Café Eiszeit. Es würde schon an ein Wunder grenzen, wären sie sich nie über den Weg gelaufen. Nur: wie solltest du das herausfinden – ob und wie, wann und wo?

Schon länger ging dir ein Gedanke durch den Kopf ... vielleicht war es bloß eine fixe Idee. Aber womöglich hattest du ja Glück! Zumindest wolltest du nichts unversucht lassen. Und solltest du auch nur das kleinste Zipfelchen einer Möglichkeit erspähen – mit wilder Entschlossenheit würdest du daran ziehen.

Als du in diesem Sommer an den Attersee fuhrst, hattest du eine Einladung in der Tasche, die sich so gewichtig anfühlte, als würdest du einen jener klobigen Telephonapparate mit dir führen, welche die Firma Deckert & Homolka damals herstellte.

Nachdem du letztes Jahr schon das Haus deines Ururgroßvaters hattest besichtigen dürfen, öffnete sich dir nun sogar das schmiedeeiserne Tor der Villa Paulick. Die Hausherrin bedauerte es, abwesend zu sein; aber sie hatte einen freundlichen Gruß hinterlassen – und die Erlaubnis, in den Gästebüchern zu stöbern.

Auf dich allein gestellt warst du trotzdem nicht. Dir zur Seite stand Franz Hauser (Si apre in una nuova finestra), der am See jeden Namen kennt, jeden Stein und jeden Bootssteg und alles weiß über die Villen an der Seewalchener Promenade und deren einstige Besitzer. Sogar Wilhelms Kastanienbäume, stell dir vor, hat er noch mit eigenen Augen gesehen!

Jetzt waren es vier Augen (und zwei Brillen), die nach der Nadel im Heuhaufen suchten. Ein zufällig vorbeiflatternder Zitronenfalter sah euch auf der Terrasse: stirnrunzelnd über die ledergebundenen Bücher gebeugt, die einst Friedrich Paulick gehörten. Das Heu waren die kunstvollen Krakel, mit denen sich seine Gäste verewigt hatten; die Nadel war der Wilhelm deines Ururgroßvaters, den es zu finden galt.

Eine fixe Idee? Ach was! Lag es nicht auf der Hand, daß der k. k. Schätzmeister und Sachverständige für Elektrotechnik dem nur vier Häuser weiter residierenden k. u. k. Hoftischlermeister zumindest einmal seine Aufwartung gemacht hatte? Und wenn nicht er selbst, dann doch wohl sein blitzgescheiter und in gesellschaftlichen Dingen umtriebiger Chefingenieurs-Sohn Friedrich, in dessen Aufzeichnungen sich gleich zweimal (1898 und 1903) die Notiz findet: „dem Kaiser Franz Josef I. vorgestellt worden“.

Wieviel Wert Friedrich auf dergleichen Dinge legte, zeigt auch noch ein Vermerk vom 9. Januar 1900. Da besuchte er „in Paradeuniform“ den kaiserlichen Hofball. Man glaubt, seine stolz geschwellte Brust zu sehen, als er notiert: „Dort alle Mitglieder des höchsten Hofes und den Kaiser Franz Josef I. ganz nahe gesehen.“ Und das beste: „Hofkoch Hampel gab mir den ganzen Czako voll Hofzuckerln.“ Kaum zu glauben, daß sich dieser Mensch eine Audienz in der Villa Paulick hätte entgehen lassen!

Und doch ... Wie hartnäckig ihr euch auch in die Bücher vertieftet und welche Mühe ihr euch gabt, noch die hieroglyphischsten Hinterlassenschaften zu entziffern: die Nadel im Heuhaufen – sie war nicht da.

Ein ums andere Mal zeigte Franz Hauser auf einen Krakel und erklärte dir, welch bedeutende Persönlichkeit sich dahinter verbarg: hier ein Villenbesitzer, da ein Großindustrieller, dort ein Künstler. Mochten sie auch schon lange tot sein oder sich höchstens (rein rechnerisch) noch über die Wiege des neugeborenen Franz gebeugt haben: Er kannte sie alle!

Nur der entscheidende Krakel, das letzte Puzzleteil, der missing link fehlte. Kein Deckert, nirgends.

Franz Hauser sah dir deine Enttäuschung an. Wohl um dich zu trösten, gab er zu bedenken, daß ja auch ein paar andere Namen aus der Nachbarschaft fehlten. In diesem Moment kam dir ein Gedanke. Was heißt: ein Gedanke? Es war der Gedanke, der alles vom Kopf auf die Füße stellte und dir deinen Irrtum vor Augen führte.

Fehlten die Unterschriften von Paulicks Nachbarn, hieß das ja nicht zwangsläufig, daß sie nicht seine Gäste gewesen waren. Vielleicht fanden sie es nur überflüssig, ihre Namen unter die der weitgereisten Besucher zu setzen. Selbst Gustav Klimt trug sich im Gästebuch nur ein einziges Mal ein.

Womöglich bewies die fehlende Nadel also das genaue Gegenteil! Daß nämlich Wilhelm Deckert nicht bloß ein seltener Gast, sondern ein regelmäßiger Besucher war: ein vertrautes Gesicht, ein Hausfreund, dem man, ohne zu fragen, eine Tasse Kaffee hinstellte – aber doch kein Gästebuch unter die Nase hielt.

Ja, genau so mußte es gewesen sein! Franz Hauser warf dir einen besorgten Blick zu, als du vor lauter Überschwang anfingst, über die Terrasse zu tänzeln, auf der einst dein Ururgroßvater gestanden, eine von Paulicks Zigarren geschmaucht und auf den in der Sonne glitzernden See geblickt hatte.

Ach, Wilhelm!

Viel weißt du nicht über diesen Vorfahren, der aus der schlesischen Stadt Glatz und kleinen Verhältnissen stammte, 1870 nach Wien ging und es mit glühendem Ehrgeiz und nimmermüdem Erfindergeist zum Firmenchef und Millionär brachte. Um die Jahrhundertwende war er Herr über eine „Telegraphen-, Telephon- und Blitzableiter-Bau-Anstalt“ mit 1000 Angestellten, mit einem Verkaufsgeschäft in der Kärntner Straße, Filialen in Budapest, Prag, Brünn, Paris und einer Vertretung in London.

Das einzige Foto, das du von ihm kennst, zeigt einen Mann mit schwarzem Vollbart, schwarzem Mantel und schwarzem Zylinder. Eine stattliche Erscheinung von der Sorte unnahbar. Er soll ein harter Hund gewesen sein, nicht besonders beliebt bei seinen Arbeitern, die ihm am 1. Mai schon mal die Scheiben einschmissen.

Ob er besonders kunstsinnig war? Keine Ahnung. Aber eine feine Nase in geschäftlichen Dingen hatte er ganz sicher. Und – einen Sinn für das Schöne. Dafür gibt es zwei Indizien. Erstens: die Alimente, die er einer, wie es in der zähneknirschenden Familienüberlieferung heißt, „bildhübschen Tänzerin“ für ihr gemeinsames Kind zahlte. Und zweitens: die Villa am Attersee.

Als Sommerfrischler in Seewalchen muß er Klimt schon gekannt haben, lange bevor „Der Kuß“ in Wien für Aufsehen sorgte. Die 25 000 Kronen, für die das Bild verkauft worden war, hätten Wilhelm wohl nur ein Schulterzucken entlockt. Aber: wie der Maler das Schöne mit dem Geschäftlichen verband, das dürfte ihm imponiert haben. Lag es da nicht nahe, daß die beiden Hausgäste von Friedrich Paulick ins Gespräch kamen?

Genau hier, denkst du, während du noch über die Terrasse tänzelst, könnten sie gestanden haben, an einem Sommertag wie heute. Und plötzlich siehst du sie vor dir – wie von Geisterhand diesem Nachmittag hinzugefügt. Da deinen Ururgroßvater: ohne Mantel und Zylinder. Und dort den Maler: etwas weniger vollbärtig, im wallenden Reformkleid.

Mit ungelenken Schritten tritt Wilhelm auf ihn zu. Er deutet eine Verbeugung an. „Gestatten ... Wilhelm Deckert ... Industrieller aus Wien ...“

Anders als erwartet, ist seine Stimme leise, fast sanft. Kein Knurren, kein Bellen, wie man es von einem harten Hund erwartet. Mit den Arbeitern, die ihm die Fenster eingeworfen haben, wird er anders geredet haben.

Klimt sagt nichts, aber sein Blick hat etwas Bohrendes, als wolle er ihn ergründen. Wortlos betrachtet er die Photographie, die Wilhelm ihm reicht. Du reckst den Hals und erkennst eine Frau in einem dunklen Kleid. Wo hast du sie schon einmal gesehen? Aber da fällt auch schon ihr Name. Tatsächlich! Es ist Rosa. Deine Ururgroßmutter.

„Ein Porträt“, hörst du Wilhelm sagen. „Rosa am Attersee ... umgeben von Rosen ... Aber natürlich ... Sie sind der Künstler ... selbstverständlich!“

Der andere hört schweigend zu, nickt – und schweigt noch immer. Es sieht so aus, als warte er noch auf etwas. Das scheint jetzt auch Wilhelm zu spüren. Noch einmal verbeugt er sich feierlich, dann liefert er das Fehlende nach: „Eins noch“, sagt er. „Geld spielt keine Rolle.“

Ein Lächeln huscht über die Züge des Malers. Er sagt etwas, das du nicht verstehst, und streckt Wilhelm eine harte, schwielige Hand entgegen. Der schüttelt sie geradezu überschwenglich. Man sieht ihm seine Erleichterung an.

„Wie wär’s?“ Er zeigt auf das weiße Tischtuch, auf dem Kaffeetassen stehen, Teller und das, was sie hier Mehlspeise nennen. Ein Wort, an das er sich nie gewöhnen wird.

„Topfen?“ fragt Gustav.

„Nein, besser!“ Wilhelm lacht. „Apfelstrudel.“

Quellen:

Natalie Bauer-Lechner: Erinnerungen an Gustav Mahler, Wien und Leipzig 1923

Erich Bernard, Judith Eiblmayr, Barbara Rosenegger-Bernard, Elisabeth Zimmermann: Der Attersee. Die Kultur der Sommerfrische, Wien 2008

Dietmar Grieser: Nachsommertraum im Salzkammergut. Eine literarische Spurensuche, Frankfurt am Main und Leipzig 1996

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