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Posthegemonie: Politik jenseits der Kompromisse

Source: stablediffusion.com.



22.02.2024



Liebe Leute,

oder vielmehr heute: liebe humanistische Mitte, liebe Allies im Kampf, wenngleich nicht für Klimagerechtigkeit, dann immerhin gegen die AfD und den grassierenden Faschismus. Wir müssen schon wieder reden, diesmal über die Rolle von Polarisierung, von Konflikt und Gewalt in unseren Zukünften. Also über Dinge, über die Ihr nur ungern redet, die Ihr normalerweise weit von Euch weist, und auf die Ihr Euch noch weniger gern intellektuell oder gar praktisch vorbereitet.

And I get it, I really do.

Persönlich kenne ich keine Person, die gerne nichtkonsensuelle Gewalt anwendet, und nur Wenige, die wirklich konfliktaffin sind. Natürlich ist es angenehm, sich nie im Leben selbst verteidigen zu müssen, zu wissen, es gibt immer Institutionen und Personen, die Euch beschützen. Ich weiß, wie sehr Ihr Eure nach innen und aus Eurer Perspektive weitgehend befriedeten Leben schätzt, und damit einhergehend das Gefühl, durch diese Befriedung gleichsam den Höhepunkt welthistorischer Evolution darzustellen.

Und wahrscheinlich haben meine Argumente von vor zwei Wochen (Opens in a new window), als ich darauf hinwies, dass irgendwo auf der Welt ständig Gewalt vielleicht nicht in Eurem Sinne und mit Eurer aktiven Billigung, aber in Eurem Interesse und mit Eurer passiven Billigung ausgebübt wird, diese Verdrängungsdynamiken noch nicht durchbrechen können, denn, wie sollten sie auch? Die Argumente bezogen sich ja auf den Ist-Zustand, sind also schon durch Euren bürgerlichen Herrenzynismus (Sloterdijk I) normalisiert und wegrationalisiert.

Die neue hässliche Welt der Posthegemonie

Deswegen möchte ich heute mit Euch über die Zukunft sprechen, über eine Zukunft der Post-Hegemonie: über eine Zukunft eskalierender Konflikte im internationalen System, die starke Feedbackeffekte auf die nationale Politikebene haben werden; eine Zukunft eskalierender Konflikte auf der nationalen und lokalen Ebene, weil immer mehr Krisen und Kollapsdynamiken Unsere Gesellschaften immer mehr herausfordern werden; eine Zukunft, in der es weniger stuff (“materielles Wachstum”) geben wird, mit dem führende gesellschaftliche Gruppen diese Konflikte hegemonial befrieden können.

“Hegemonie” meint hier erstmal die Fähigkeit "führender" (Gramsci: dirigente) sozialer Gruppen (Klassenfraktionen, etc.) oder Akteure, durch die Verteilung von Mehrwert oder anderer “benefits” stabile gesellschaftliche Bündnisse zu bauen. Sowohl international wie national bewegen wir uns auf eine posthegemoniale Ära zu, in der immer weniger Konflikte durch einen hegemonialen Akteur befriedet werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es mehr knallen wird, literally auf allen Ebenen. Wie so oft geht es also auch in diesem Blogtext wieder mal um Kollapsdynamiken, und Unsere (Un-)Fähigkeit, uns darauf vorzubereiten. Also dann: auf in eine Zukunft jenseits politischer Kompromisse, in eine Zukunft voller Polarisierung, Konflikte und Gewalt. What fun...

Internationale Konflikte: Das Ende der “Pax Americana”

“Ohne Frieden ist Alles nichts”, kommentierte einst Willy Brandt, und aus dieser Perspektive war Alles in Nord- und Westeuropa seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ziemlich viel. Die EU passte unter den militärischen Schutzschild der globalen Hegemonialmacht USA, und Kriege fanden üblicherweise anderswo statt, Gewalt wurde zwar in unserem Interesse (so bestand ja in der BRD durchaus ein kollektives Interesse an der Aufrechterhaltung der weltweiten US-Hegemonie, in der die EU als “friedlicher” Juniorpartner ein im globalen Vergleich mehr als komfortables Dasein fristen konnte; man nannte dies die Pax Americana, den amerikanischen Frieden) angewandt, aber wir mussten es nicht selbst tun. Glück gehabt.

Genau wann das Ende dieser US-Hegemonie begann, also des Zustandes, in dem die USA im (westlichen) internationalen System ganz oben sitzen, ihnen der Löwenanteil der Vorteile zum Beispel eines liberalen Handelssystems zukommen, sie dafür aber auch die Hauptlast der Kosten der Aufrechterhaltung dieses Systems tragen müssen, wird kontrovers diskutiert, manche datieren das auf den Anfang der 1970er zurück, manche erst auf den Beginn der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff.. Klar ist aber, dass die Phase der “neoliberalen Globalisierung” der letzte globale kapitalistische Entwicklungsschub war, der politisch und technologisch von den USA dominiert wurde. Das Ende des heroischen Neoliberalismus markiert das Ende des “unipolaren Moments” in den internationalen Beziehungen, und den Beginn eines globalen “Interregnums” (Gramsci).

In diesem Interregnum bahnt sich etwas an, dass oft als “Thukydides-Falle” bezeichnet wird: abgeleitet von dieser klassischen Analyse des Konflikts zwischen Sparta, der etablierten Großmacht, und Athen, dem rising challenger, wird argumentiert, dass der Konflikt zwischer einem im Abstieg begriffenen Hegemon und einer aufsteigenden neuen Großmacht beinahe unausweichlich zu massiven Konflikten im internationalen System führt. Oft, meist zwischen dem absteigenden Hegemon und der aufsteigenden Großmacht (vgl. UK und Frankreich, UK und USA vs. Deutschland...), aber manchmal auch “nur” durch eine Vielzahl von “proxy wars”, wie im Kalten Krieg, in dem es zwar nie zu direkten Kampfhandlungen zwischen USA und der Sowjetunion kam, kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihren “Proxies” aber alltäglich war.

Die heutige Konfliktlinie im internationalen System verläuft offensichtlich zwischen den USA, immer noch Anführer der “Western Alliance”, und China, das sich mal als Anführer der Staaten des globalen Südens aufführt, mal als Pate einer globalen Allianz autoritärer Staaten. China übernimmt die Führung in der versuchten (blockierten?) Transformation hin zum Elektrokapitalismus (the artist formerly known as “green capitalism (Opens in a new window)”), fordert seine Nachbarn im “Südchinesischen Meer” immer offener heraus, pusht die “Lösung” der “Taiwan-Frage”, baut massiv sein Militär, sowie seine Spionage- und Informationskrieg-Strukturen aus. Die USA versuchen im Gegenzug, ihr Netzwerk aus Bündnissen, Basen und Bombern im Südpazifik wieder zu stärken, gegen chinesische Tech-Firmen wie Huawei vorzugehen, und chinesische Produkte aus den eigenen Lieferketten herauszudrängen.

Natürlich muss die Rivalität nicht im direkten Krieg USA-China enden, auch nicht in einer Vielzahl komplexer “proxy wars” um den Zugang zu vor allem Bergbauressourcen, die der Elektrokapitalismus in größerer Menge braucht, als der fossile. Aber die Wahrscheinlichkeit ist äußerst groß, und die Empirie der Gegenwart stärkt auf jeden Fall die These, dass wir uns in eine Zukunft rapide eskalierender internationaler Konflikte zubewegen, was, wie wir an der Kontroverse um die Ukraine-Unterstützung erkennen, massive Feedbackeffekte auf die nationale Politikebene haben wird. Mehr Krieg bedeutet mehr Militarismus, bedeutet mehr Erziehung zur Gewaltfähigkeit, one way or the other.

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Innergesellschaftliche Konflikte: mehr Druck im Kessel

Auch innerhalb von Gesellschaften wird es immer mehr Konflikte geben, auch wenn es im internationalen System nicht so chaotisch wäre, wie es ist. Der Hauptgrund dafür liegt in dem, was oft als “Polykrise” bezeichnet wird, dem Ineinandergreifen einer Reihe grundsätzlich kausal separater Krisendynamiken, die genau die gesellschaftliche Überlastung produziert, die wir heute unter dem Begriff “Veränderungs-” oder “Krisenmüdigkeit” diskutieren.

Wie wirken sich diese Krisen zusammen auf die politischen Prozesse hierzulande aus? Verzeiht mir, wenn ich an dieser Stelle mal at length aus einem sehr klugen taz-Artikel (Opens in a new window) zitiere:

“(D)ie Transformation hin zu Klimaneutralität einschließlich der Gestaltung des damit einhergehenden wirtschaftlichen Strukturwandels; die Anpassung an jene Folgen des Klimawandels, die gar nicht mehr zu verhindern sind; der Umgang mit demografischem Wandel und weltweit zunehmenden Migrationsbewegungen; das Schaffen besserer Schul- und Berufsbildung. Das alles braucht Geld, und zwar ebenfalls viel mehr, als derzeit dafür ausgegeben wird.

Wenn all diese Bedarfe in den nächsten Jahren in scharfe Konkurrenz gebracht werden mit dem Aufbau militärischer Kapazitäten, wird es noch schwieriger, gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Der Aufstieg rechtsextremer Parteien ist das sichtbarste Symptom dafür, dass dieser ohnehin schon massiv bröckelt.”

Die Vielzahl von Krisen stellt so viele (längst nicht nur finanzielle) Ansprüche an die Gesellschaft, dass dies sogar die Fähigkeit des äußerst klug designten deutsche Politkorporatismus überfordert, durch die Verteilung von Bakshish gesellschaftliche Kompromisse zu schmieden. Gesellschaftliche Kompromisse (meist auf Kosten interner oder externer marginalisierter Gruppen und natürlich des Planeten) wiederum sind das, was zu innergesellschaftlichem Frieden führt. Mehr Krise führt zu weniger Kompromiss führt zu mehr Konflikt.

Is eigentlich ganz einfach.

Weniger (Zeugs) ist mehr (Konflikt)

To make matter worse stehen wir als Gesellschaften nicht nur vor zunehmend vielen unlösbaren Krisen (wicked problems), wir haben auch immer weniger Schmiermittel, um die zu ihrer Befriedung (wenn schon nicht Lösung) notwendigen Kompromisse zu erleichtern.

Ganz grob formuliert beruht die Fähigkeit eines führenden, potenziell hegemonialen Akteurs, ein stabiles gesellschaftliches Bündnis zur Durchsetzung seiner (und der Juniorpartner) Interessen zu bauen, auf der Fähigkeit, sich selbst und den Juniorpartnern Mehrwert zuzuschieben, sie also am gesellschaftlichen Frieden, den sie durch ihre Kompromisse herstellen, zu beteiligen. So wurde zum Beispiel die industrielle Arbeiter*innenklasse in den fordistischen Nachkriegs- und Wohlfahrtsstaatskapitalismus eingebunden, indem ihr Interesse an stabilen Jobs, an Lohnsteigerungen und breiteren materiellen Konsummöglichkeiten erfüllt wurde, oft auf Kosten arbeitender Menschen im globalen Süden, und, wie schon erwähnt, des Planeten.

In einem Zeitalter aber, in dem wir immer mehr “planetare Grenzen” (Rockström) überschreiten, sinken globale Wirtschaftswachstumsraten, steigen auch die Grenzkosten jedes Bisschen “Wachstums”, wird es immer schwieriger, globale Produktionskapazitäten immer weiter zu erhöhen, um immer mehr Menschen die Teilhabe am konsumistischen Heilsversprechen des globalen Kapitalismus zu gewähren. Es wird in Zukunft relativ immer weniger Zeugs geben, also einen langsameren Anstieg der Mehrwertproduktion, als vorher, daher weniger Kompromissschmiermittel. Weniger Kompromisse heißt mehr Konflikte, ergo mehr Polarisierung und Gewalt.

Obviously.

Es ist nicht Alles schlecht in der Posthegemonie...

Wie genau Ihr Euch auf diese Zukunft vorbereitet, ob Ihr Euch überhaupt auf die Argumente oben einlassen könnt, ist natürlich Eure Sache. Aber zu glauben, dass das immer schon illusorische bürgerliche “wir sind friedlich, Gewalt ist immer falsch”-Dogma sich aufrechterhalten lassen wird, ist extrem naiv – und genau solche Naivität führt, wenn sie sich an der Realität dereinst bricht, zu Verrohung, zu Ressentiment, trägt zum Rechtsruck bei.

Daher möchte ich mich von Euch für heute mit einem Konzept verabschieden, an das mich die kluge Malene Gürgen (Opens in a new window) kürzlich erinnerte: “Veränderung passiert nicht ohne Konflikt und Polarisierung.”

Warum ist das wichtig, und vielleicht sogar ein Bisschen ermutigend? Weil Ihr auch wisst, dass wir Uns verändern müssen, individuell, vor allem aber als Gesellschaft(en). Wenn also Veränderung nicht ohne Konflikt und Polarisierung möglich ist, vielleicht könnt Ihr Euch, wissend, dass es Veränderung braucht, zu diesen Dynamiken weniger ablehnend, etwas positiver verhalten. Denn ich sage Euch: Konflikt, Polarisierung, ja, auch Gewalt, wird in Euren Leben schon sehr bald eine viel größere Rolle spielen, als Ihr gewohnt seid. Darauf solltet Ihr vorbereitet sein. Wenn schon nicht physisch – dann doch wenigsten intellektuell und moralisch.

Mit konfliktaffinen Grüßen,

Euer Tadzio


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