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Gedanken aus der Zelle

Wir protestieren vor der Springer-Druckerei, die Polizei fiel über uns her; schlug mehreren von uns ins Gesicht, schubste uns zu Boden, legte uns Handschellen an – allen, selbst einem Journalisten, der da war, um zu berichten. Sie durchsuchten uns, bewacht von abgerichteten Hunden, und luden uns dann in Gefangenentransporter. Nicht nur ich empfand das als Einschüchterung, nicht nur ich hatte das Gefühl: da tut die Berliner Stadtregierung dem Springer-Konzern einen Gefallen, aus Angst sonst die Rache des größten Medienkonzerns Deutschlands zu spüren. 

Morgens um halb vier schlug ein Wärter die Zellentür hinter mir zu. Ein schmaler Raum, eine Pritsche, ein Knäckebrot und ein Becher Wasser, ein Fenster mit Gittern davor. Gleichzeitig das Wissen: in den Zellen links und rechts von mir sind überall Menschen, die ich kenne, die ich liebe.

Zwei Versuche, etwas Schlaf zu bekommen, unterbrochen von einem kurzen Verhör durch eine Beamtin, später ging ich in der Zelle auf und ab. Draußen wurde es hell, das Fenster war auf Kipp und ich fing an zu pfeifen. Nichts Bestimmtes, einfach Melodien, die mir durch den Kopf gingen, und irgendwann hörte ich, dass mir jemand antwortete, es schien von draußen zu kommen vom Hof, also aus einer anderen Zelle, also von jemandem, den ich kenne. Die Person pfiff, ich pfiff und es fühlte sich irgendwann ein bisschen an, wie das schiefe Duett zweier Vögel im Wald. 

Nach einer Weile wurde ich müde, hörte auf zu pfeifen, setzte mich auf die Pritsche und hörte nur zu, hörte wie auf dem Gang die Wärter lachten und quatschten, und dann hatte ich auf einmal den Eindruck, dass das Pfeifen gar nicht von draußen, sondern vom Gang kam, von einem der Wärter, und der Gedanke kam, dass sich einer von ihnen auf das kleine Duett eingelassen hatte. Mein Herz machte einen Hüpfer, auch wenn ich nicht ganz sicher war, ob es stimmte. 

Das an mir selbst zu beobachten, freute mich noch mehr, weil es mir zeigte, dass ich gegen die da draußen keinen Groll hegte. Klar, gegen das System, das Menschen in Zellen sperrt, aber nicht gegen die Menschen, die da arbeiten. 

Vorher beim Protest wurde ich von einem Polizisten bewacht, während ich in Handschellen auf dem Boden saß. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte, er sei Kurde, habe früher auf dem Bau gearbeitet und sei erst später zur Polizei gegangen. Es sei für ihn vor allem ein sicherer Job, auch in Zeiten, in denen die KI alle anderen Jobs bedroht. 

Ich glaube, schlimm wird es in so einer Zelle nur, wenn man die da draußen anfängt zu hassen. Während ich da saß auf der Pritsche, dachte ich: Wenn du es schaffst, die zu lieben, die den Schlüssel zu deiner Zellentür haben, dann kann dich niemand mehr einsperren. Dann bist du frei. 


Und kollektiv? Ich glaube, das geht auch. Deshalb haben wir das Parlament der Menschen gegründet. Das hier habe ich zu seiner Eröffnung gesagt:


Herzlich Willkommen,

Schön, dass ihr alle da seid. Schön, euch alle hier zu sehen bei der Eröffnung des ersten Parlament der Menschen. Mein Name ist Raphael Thelen, ich darf heute dieses erste Parlament der Menschen für die Neue Generation eröffnen.

Und als erstes will ich aber danken, weil ich zwar hier vorne stehe, aber wir alle nicht hier sein würden, hätten nicht ganz, ganz, ganz, ganz, ganz viele Menschen in den letzten Wochen und Monaten und vor allem auch in den letzten Tagen richtig, richtig, richtig geackert.

Eigentlich sollte dieses Zelt Mittwoch aufgebaut werden.

Es sollte alles so ganz smooth gehen.

Es ist noch ein Feiertag, wir können das alles entspannt machen und dann bekamen wir einen Anruf von der Polizei, dass Selenski auf Staatsbesuch kommt und dieses ganze gesamte Gebiet hier wird zur Sicherheitszone erklärt und sollte niemand hier rein. Deswegen wurde hier noch bis vor 5 Minuten gehämmert und geschraubt und ich will mich ganz toll bei der Zeltfirma Yakone bedanken, die das möglich gemacht hat. Ich will mich auch bei der Polizei und der Versammlungsbehörde bedanken, die richtig viel möglich gemacht haben.

Und vor allem bei den vielen Leuten, die wirklich in den letzten 72 Stunden wie wahnsinnig durch Berlin gerast sind und hier mitgeholfen haben und angepackt haben, damit dieses Kuppel-Zelt jetzt hier steht, damit wir jetzt hier sitzen und stehen können.

Wir bei der neuen Generation stellen uns eigentlich laufend eine Frage. Und die ist: Was bedeutet es, Mensch zu sein in dieser Zeit und in dieser Welt? Was bedeutet es, Mensch zu sein und zu wissen, wie es um die Welt steht? Was bedeutet es, den Schmerz zu spüren?

Vielleicht auch die Freude, vielleicht auch die Freude von solchen Momenten, in denen wir zusammenkommen, in denen es sich anfühlt, als würde da was Neues aufgehen. Aber auch auf den Schmerz, den wir alle fast jeden Tag spüren, wenn wir die Nachrichten aufmachen, wenn wir vielleicht auch Verwandte anrufen, die wir in anderen Ländern haben. Wenn wir die Bilder sehen aus Gaza. Wenn wir davon lesen, wie Menschen ihre Familien nie wiedersehen werden, weil die deutsche Bundesregierung den Familiennachzug ausgesetzt hat. Wenn wir wieder mal erfahren, dass irgendwo die Klimakrise eskaliert, Wälder brennen oder wie jetzt in der Schweiz ein ganzes Dorf unter einem abstürzenden Gletscher begraben wird und 300 Menschen in einer Sekunde ihr Zuhause verlieren.

Wir fragen uns, was es bedeutet, Mensch zu sein und diese Angst zu spüren.

Diese Angst angesichts eines erstarkenden Faschismus, einer Partei, die da mittlerweile drin sitzt im Bundestag, offenkundig faschistisch, rechtsextrem, hat sich ihren Platz darin erkämpft. Die Angst zu spüren angesichts der Klimakrise.

Das letzte Mal, als ich mit den fünf, sechs Leuten zusammensaß, mit denen wir die neue Generation gegründet haben, war vor so wie drei Wochen und auf einmal kamen große Hagelkörner vom Himmel.

Mitten im Mai.

Und vorher hat es Wochen und Wochen und Wochen und Wochen nicht geregnet.

Und die Prognosen gehen davon aus, dass der Golfstrom um die Mitter der 2030er versiegen wird.

Das bedeutet dann einen kompletten Temperaturabsturz in Europa.

Was bedeutet es, mit dieser Angst davor zu leben? Und was bedeutet es, mit der Wut zu leben? Mit der Wut, weil wir wissen, dass das nicht von ungefähr kommt. Weil wir wissen, dass es Menschen gibt, die dahinterstecken, Systeme - dass es kein Naturgesetz ist, dass die Dinge passieren. Menschen, wie Friedrich Merz, der Kanzler sein sollte für alle Menschen in Deutschland und stattdessen sich ein kleines Kabinett zusammenbaut hat, von dem vor allem die reichsten Menschen in diesem Land profitieren. Die Wut darüber, dass die Reichen ihr Vermögen nicht einsetzen, damit es uns allen besser geht, sondern sie missbrauchen die Macht, die sie haben, damit es ihnen selbst besser geht.

Marlene Engelhorn, die Gründerin von Tax me Now, hat heute Morgen in der Pressekonferenz erzählt, wie das ist, wenn man superreich aufwächst. Sie hat über 25 Millionen geerbt und sie sagt, man glaubt einfach, man ist im Recht, weil man die Macht hat, Dinge zu verändern. Und diese Macht bedeutet, dass wir überstimmt werden, die diese Macht nicht haben. 

Und ich spüre diese Wut jeden Tag. Und ich spüre diese Angst. Und ich spüre den Schmerz. Aber natürlich spüre ich auch die Freude an dem, was wir tun. Und angesichts dem allem glauben wir bei der Neuen Generation, dass Mensch zu sein in dieser Zeit bedeutet, Entscheidungen zu treffen, sich zu entscheiden.

Man kann sich auf die Seite jener schlagen, die von diesem System profitieren, die dieses System sind, die dieses System tragen. Und ihr wisst, was dieses System bedeutet.

Das heißt Privilegien anhäufen auf Kosten anderer. Das heißt ausbeuten. Das heißt die Ellenbogen ausfahren. Das heißt sein eigenes Wohl über das Wohl anderer zu stellen.

Darauf basiert dieses ganze System.

Und das heißt, dieses Leben zu leben und dabei meistens dann nicht wirklich glücklich zu sein.

Wer hier glaubt wirklich, dass Donald Trump ein glücklicher Mensch ist? Wer hier glaubt, dass Elon Musk ein glücklicher Mensch ist? Wer hier glaubt, dass Alice Weidel eine glückliche Frau ist?

Ich glaube es nicht. Ich möchte nicht immer im Kampf leben.

Es gibt das alte Sprichwort: Andere zu hassen ist wie Gift trinken und zu hoffen, dass der andere stirbt. 

Man kann sich auch dafür entscheiden, das Gegenteil zu tun. Man kann auch sagen: Nein, ich fahre nicht die Ellenbogen aus. Nein, ich werde die nicht bekämpfen. Nein, ich werde die Menschen nicht beschimpfen, auch wenn ich sie nicht mag. Nein, ich werde nicht gewaltsam gegen sie vorgehen.

Man kann auch in der Welt sein und sich diesem System widersetzen, aber auf eine andere Art und Weise, indem man trotz alledem mit Vertrauen in die Welt geht. Trotz alledem mit einem offenen Herzen in die Welt geht. Indem man Hass mit Liebe begegnet.

Indem wir nicht zurückschlagen, sondern versuchen, einen anderen Weg zu finden, raus aus der Gewaltspirale, denn Gewalt produziert immer mehr Gewalt.

Es gibt diesen Weg des offenen Herzens, des Vertrauens und das macht verletzlich.

Das kann weh tun. Wenn ich jemandem mein Vertrauen schenke, dann mache ich mich verletzlich gegenüber dieser Person und das kann missbraucht werden und das kann weh tun. Aber ich glaube, wenn ich mich den ganzen Tag im Kampf befinde und wenn ich den ganzen Tag mit geschlossenem Herzen rumlaufe, weil ich das tun muss, wenn ich im Kampf bin, dann bin ich schon verletzt. Ich glaube, das ist nicht das bessere Leben.

Und so kann ich mich jeden Tag dafür entscheiden, wie begegne ich meiner Umwelt? Wie begegne ich meinen Mitmenschen? Wie begegne ich den Menschen auf der Straße, auf der Arbeit, meiner Familie?

All das kann ich jeden Tag entscheiden: Ich begegne euch wieder mit Vertrauen.
Und wenn man das macht und das wisst ihr, das weiß ich auf jeden Fall aus eigener Erfahrung, dann kann so viel passieren.

Dann können wir gemeinsam wachsen. Dann kann Heilung stattfinden.

Dann ist 1 + 1 plötzlich nicht mehr 2, sondern viel mehr als das, weil das Nullsummenspiel aufhört.

In diesem System, in dem wir derzeit leben, ist mein Gewinn meistens dein Verlust.

Und wenn wir uns aber begegnen im Vertrauen von Mensch zu Mensch und uns gegenseitig das Beste wünschen, dann kann Magie entstehen.

Dann beginnen die Dinge zu tanzen.

Und das kann man, wie ich meinte, jeden Tag im Alltag machen.

Ich zu dir, du zu mir, wir als Individuen voneinander.

Und das kann man aber auch machen kollektiv, als Bewegung.

Wir können uns Räume schaffen. Wir können Bewegungen bauen. Wir können kollektiv anders handeln.

Und dieses Parlament ist der Aufbruch in eine neue Welt, ist der Versuch, einen Ort zu schaffen, an dem andere Regeln gelten.

Indem wir uns als Menschen begegnen auf Augenhöhe.

Und es hat nicht zufällig eine Kuppelform.

Diese Kuppel steht quasi für diese Kuppel, die ihr da hinter euch seht oben auf dem Reichstag. Diese Kuppel steht für Transparenz.

Deswegen wurde sie so groß und gläsern da oben drauf gebaut.

Aber allzu oft herrscht da keine Transparenz. Allzu oft herrschen da nur Lobbyinteressen.

Wir hatten heute Morgen in der Pressekonferenz auch Marco Bülow sprechen.

Marco Bülow saß fast 20 Jahre für die SPD da drin und hat versucht, Politik zu machen für die Menschen und ist dann gegangen, weil er gesagt hat: Wenn man nicht mit den Lobbys kooperiert, dann wird man nicht ernst genommen. Dann verliert man. Dann wird man verlassen.

Und deswegen schreibt er mittlerweile Bücher.

Lest sie.

Lobbyland ist sein erstes, Korrumpiert sein zweites.

Dieses Versprechen von Transparenz, das mal gegeben wurde, was da drin herrschen soll, wurde gebrochen.

Und das ist dramatisch angesichts der Probleme, die ich eben aufgezählt habe.

Wenn keine Politik mehr für die Menschen gemacht wird, sondern für Unternehmen, die den Planeten zerstören, dann haben wir ein großes Problem. Und deswegen haben wir dieses Parlament der Menschen gegründet.

Weil wir kollektiv eine andere Welt leben wollen. Weil wir zusammen eine andere Welt bauen wollen. Weil wir eine andere Entscheidung treffen wollen. Weil wir es versuchen wollen, dieser großen zerstörerischen Maschine, in der wir leider allzu oft allzu viel Zeit verbringen, etwas entgegenzusetzen, etwas aus Liebe heraus, etwas Großes, etwas Schönes, einen Aufbruch.

Und deswegen haben wir euch eingeladen. Deswegen habt ihr euch eingeladen.

Ihr wart so mutig, hierhin zu kommen, eure Namen in den Lostopf zu werfen, zu sagen: Da will ich Teil von sein. Ich will Teil sein, wenn darüber gesprochen wird, wie wir den Einfluss von Geld auf unsere Gesellschaft zurückdrehen.

Und für mich ist das eine große große Freude, euch zu sehen, euch in den nächsten Tagen zuzusehen, wie ihr das machen werdet, angeleitet von jemandem, der wie kein Zweiter wahrscheinlich in Deutschland die Expertise dafür hat, Jascha Rohr, der einfach weiß, welche Magie darin liegt, wenn Menschen gemeinsam diese Arbeit machen.

Unter den richtigen Umständen.

Denn auch das hat Marco Bülow heute Morgen erzählt, die Umstände im Bundestag, wo man als Partei gegeneinander bestehen muss, führt immer in diese Hierarchie und immer in diesen Kampf und da können keine guten Lösungen herbeigerufen werden.

Es werden Brüche auf uns zukommen.

Das System, in dem wir leben, ist extrem instabil. Wir werden wahrscheinlich Revolutionen erleben in unserer Lebenszeit.

Und die Gegenseite ist bereit für eine Revolution. Die AfD, die ganzen Demonstranten, die man auf der Straße sehen kann, die rechtsextremen Separatisten, die in Brandenburg in den Wäldern mit Waffen trainieren, die sind ready für eine Revolution und die wissen auch, was sie wollen.

Und ich glaube, unsere Aufgabe muss es sein, uns klarzumachen, was wir wollen. Und das wird eure Aufgabe sein, die ihr hier sitzt und ausgelost wurdet. Eure Aufgabe wird es sein, eine Vision auszuarbeiten.

Wo wollen wir hin als Gesellschaft? Welche neue Welt wollen wir eigentlich erschaffen?

Und ich glaube, das ist keine kleine Aufgabe, aber ich glaube, es ist eine freudige Aufgabe. Und ich glaube aus meiner Erfahrung der letzten Jahre, in denen ich immer wieder erlebt habe, nicht nur, dass wenige Menschen einen großen Unterschied machen können, sondern auch, dass man überhaupt einen Unterschied machen kann, freue ich mich auf all das, was ihr tun werdet.

Auf diesen Aufbruch in eine neue Welt.


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