Mit zwei Händen
Wir kamen beide gerade von der Leipziger Buchmesse, und jetzt saßen eine Freundin und ich in einem indischen Fastfood-Restaurant am Hauptbahnhof und redeten über die Revolution. Sie und ich, wir sind beides Menschen, die laut und schnell reden, und irgendwann musste ich mich mal umdrehen, weil ich dachte: alle hören wahrscheinlich gerade zu, und unsere Unterhaltung ist irgendwie surreal.
An einem Punkt fragte sie: “Aber wie sollen wir das denn schaffen mit den paar wenigen Menschen, die wir sind?” Und ich meinte: “Wir sind die Menschen, die die Vorbereitung machen für den Augenblick, wenn die Lage eskaliert, und viele Menschen wütend sind.” Wir sind die, die die Vorbereitung machen, damit dann nicht der Faschismus übernimmt, sondern der Wandel friedlich bleibt.
Eine Viertelstunde zu Fuß von dem Fastfood-Restaurant steht die Nikolaikirche. In den 1980ern fingen dort junge Menschen an, für den Frieden zu beten. Sie hörten auch nicht auf, als der Druck auf sie wuchs. Zeitweise mussten sie auf eine Seitenkapelle ausweichen, weil sie nur noch wenige waren, aber sie machten weiter, weil sie daran glaubten, dass Frieden nötig und möglich ist.
Im Nachbarland Polen gingen zehntausende Menschen der Solidarność-Bewegung friedlich auf die Straße. Die Situation im Ostblock und auf der ganzen Welt spitzte sich zu. Die DDR, der ganze Stasi-Staat, schwankte. Irgendwann blieben die Menschen mit ihren Friedensgebeten nicht mehr in der Kirche. Mit Kerzen in den Händen gingen sie auf die Straße, und das in einem Staat, in dem gefoltert und auf “Republikflüchtlinge” geschossen wurde.
Die Menschen, die da beteten, hatten sich teils bewusst, teils unbewusst, seit Jahren darauf vorbereitet. „Eine brennende Kerze in der Hand braucht zwei Hände. Da kann man keine Steine werfen”, sagt ein Pfarrer damals. Und in dieser Überzeugung lag ihre Kraft. Wenn die Polizei angriff, schwächte das das Regime, denn die Bevölkerung empörte sich. Wenn die Polizei nicht angriff, wuchs die Bewegung weiter, mehr Menschen überwanden ihre Angst, und dann waren plötzlich 70.000 Menschen in Leipzig auf der Straße und riefen: „Keine Gewalt!“, und: „Freiheit! Demokratie!“
In seinem Buch “Protest” beschreibt Srdjan Popovic eine ähnliche Szene. Er gehörte zu den Gründer:innen von Otpor!, der Bewegung, die den serbischen Diktator Slobodan Milosevic stürzte.
Seitdem trainiert Popovic Revolutionär:innen auf der ganzen Welt in gewaltfreiem Widerstand, auch eine Gruppe Ägypter:innen, die ihm immer wieder sagten: “Das funktioniert bei uns nicht.” In den Jahren darauf eskalierte die globale Finanzkrise und die Klimaerhitzung zerstörte weltweit Ernten. Die Lebensmittelpreise stiegen, die Menschen in Ägypten konnten sich ihr Brot nicht mehr leisten. Popovics Schüler:innen waren im Zentrum der Besetzung des Tahrir-Platz. Eine friedliche Revolution, wie wir sie brauchen, wollen wir die Klimakrise überleben.