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Band 1, Kapitel 3

Jakob und Anna sehen sich wieder. Und Anna hat etwas dagegen. Eigentlich. Aber. Aber aber.

Wenn du lieber hören statt lesen möchtest, ist hier die Audiodatei für dich:

Samstag. Impuls

Es vergingen genau drei Tage, bis sich die Winzigkeit der Welt bewies und Jakob Winter und Anna Tormann erneut aufeinandertrafen. Diesmal bedurfte es dafür keines Platzregens, sondern schlicht und einfach der Tatsache, dass Wochenende war und beide in derselben Stadt mit derselben U-Bahn fuhren.

Die Haltestelle waberte voller Menschen mit Einkaufstüten, die einander ignorierten und sich allerhöchstens als potenzielle Konkurrenten um einen Sitzplatz wahrnahmen. Die Luft zog kalt und feucht und Jakob beobachtete aus den Augenwinkeln das unbewusste Aufeinanderzu- und wieder Voneinanderwegdriften einander fremder Menschen. Die Abstände der einzelnen Personen und Grüppchen folgten einem Konzentrationsgradienten zwischen weit gestreutem leicht beschleunigtem Rolltreppenbereich und dicht gedrängter träger Bahnsteigkante, dem Bedürfnis nach Abstand und dem gleichzeitigen Konkurrenzausschluss, was die nächste Transportmöglichkeit anging, folgend. Eine Gruppe Teenager driftete so auf ihn zu, da sich in ihrer Nähe eine Mutter-Vater-Kind-Konstellation zur Masse addiert hatte und sie somit zu einem weniger dichten Plätzchen auswichen. Jakob spürte amüsiert in sich dasselbe Verlangen, einen Schritt zur Seite zu treten, als hätte das Annähern der Jugendlichen einen Impuls ausgelöst. Er widerstand, nur um zu sehen, was passierte. Zwei der Jungs mit Basecaps, die sie absichtlich eng trugen, damit sie höher auf dem Kopf aufsaßen, sahen zu ihm auf und zogen unwillkürlich eine irritierte Grimasse, weil er sich nicht wegbewegte. Jakob beobachte sie aus den Augenwinkeln und tat so, als würde er sie nicht bemerken und etwas auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig beobachten. Der Drang, Platz zu machen, wuchs, aber er blieb stehen. Die Clique driftete weiter und der Impuls in ihm nahm wieder ab. Er grinste und fragte sich, ob blinde Menschen dasselbe Fortstreben wahrnahmen, obwohl sie die Personen um sich herum nicht sahen. Er schloss für zwei Sekunden die Augen, um herauszufinden, dass es ohne Sicht ein wesentlich stärkerer Impuls wurde, dafür aber ein ungerichteter. Ein weg statt eines nach rechts. Als er die Augen öffnete, quietschte die Bahn um die Biegung am Ende des Schachts.

Er erkannte Annas Hinterkopf bereits vom Bahnsteig aus, während die U40 sich langsam zur vorgesehenen Markierung bremste. Ein mützengroßer, hellbraungeflochtener Dutt drückte sich von innen an der mit Kratz-Graffiti verunzierten Scheibe platt. Im Geflecht steckte derselbe helle Stab, wie zu Beginn der Woche. Eine Verwechslung erschien äußerst unwahrscheinlich.
Jakob trat in den schlecht klimatisierten Dunst der Samstagnachmittagsinnenstadtlinie und bog in den Gang zum Riesendutt ein. Annas Viersitzer war voll belegt mit ihr, einer gegenüber schmunzelnden Oma, deren orthopädische Schuhe in Annas Fußraum drängten, einem Schüler mit iPod, der dankbarerweise nicht lief, sondern in toten Schnüren aus den Ohren baumelte und einem in speckiger Daunenjacke schwitzenden Mitvierziger, der den Blick von seiner Augenhöhe auf Jakobs Hüfte an ihm aufwärts wandern ließ, aber an der Brust stoppte, als er erkannte, dass dort kein Kontrolleursschildchen angesteckt war.
Die ältere Dame lächelte ihn an: ein Gesprächspartner? Der junge Mann guckte doch so...
Jakob lächelte höflich aber kurz zurück und horchte einen Sekundenbruchteil in sich hinein – der Impuls war ähnlich – bevor er Anna ansprach, die mit einer Tageszeitung vor sich eine Mauer zu der redseligen alten Dame gebildet hatte. Jakob sah, dass sie nicht las, sondern in die Zeilen döste. Vermutlich hatte die Zeitung in der Bahn gelegen. Es war schwer vorstellbar, dass Anna sich dieses Blatt selbst gekauft haben sollte.
 „Hallo Anna.“
Sie zuckte kurz und nahm die Zeitung herunter. Sie war ungeschminkt und das U-Bahnlicht tat sein Übriges, um sie müde aussehen zu lassen. Mit etwas Verzögerung reagierte ihre untere Gesichtshälfte mit unehrlich lächelnder Begrüßung.
 „Hallo Jakob.“
Irgendwo zwischen Annas Ohren meldete sich eine Stimme zu Wort:Warum denn ausgerechnet jetzt?! Ob man ihr das ansah? Vielleicht. Jakob bemerkte ein Zucken über ihren Brauen, das zwischen Verwunderung und Ablehnung alles heißen konnte.
Die U-Bahn bremste bereits im Anflug auf die nächste Station wieder ab und die speckige Jacke samt kolossalem Mann darin wuchtete sich hoch. Anna schaute zu Jakob auf, der dem Dicken auf den schlecht gegelten, kopfhautglänzenden Schädel gucken konnte und, so gut es ihm in der vollen Bahn möglich war, zurückwich, um ihn aus dem Abteil quellen zu lassen. Diesem Impuls gab er gerne nach, eine Berührung mit der Jacke wollte er tunlichst vermeiden.
 „Darf ich?“, fragte er in die zeitliche und räumliche Lücke hinein und deutete auf den frei gewordenen Platz. Er hätte schwören können, dass sich das Polster, von seiner Last befreit, immer noch langsam wieder aus der Sitzkuhle nach oben bewegte. Jakob hatte eine Abneigung gegen dicke Menschen, egal ob in schmuddeliger Kleidung oder nicht. Eine Abneigung, die er mit der noch größeren Abneigung gegen diese ungerechte und irrationale Aversion in Schach halten konnte. Wenn auch nur mit Mühe. Das Gefühl war jedes Mal schneller als die Moral.
 „Ja, sicher“, Anna selbst rückte sich auf ihrem Platz etwas zurecht. Die Bahn war schmal und noch schmaler waren die Sitze. Bei einer Person mit Jakobs Konfektionsgröße bestand nun zumindest nicht mehr die Gefahr, dass Oberschenkeldimensionen über die Sitzschalen hinweg auf sie zu drängten. Aus ihrer Positionsjustierung schloss er, dass sie ähnlich über den Mittvierziger geurteilt hatte wie er, was gleichermaßen unfair, aber auch nachvollziehbar war. Die Moral sagte: Oder sie wollte nicht an die Speckjacke. Jakob nickte innerlich und entließ den Dicken endlich aus seinen Gedanken.
 „Ist das jetzt Zufall?“, Anna blinzelte mehrmals heftig, um die verschiedenen Bedenkenträger in ihrem Kopf für einen Moment zum Schweigen zu bringen.
 „Ich weiß nicht.“ Das letzte Abbremsen der Bahn gab ihm beim Sichniederlassen einen Schubs und er plumpste etwas ungelenk neben sie, gänzlich hinein in eine Situation, die andere Menschen herum ausschloss.  „Ich war gerade in der Stadtbibliothek. Das ist nicht weiter ungewöhnlich. – Was macht dein Kopf?“
 „Lässt Haare wachsen“, antwortete sie und fügte, der Aber-aber-Stimme in sich Gehör schenkend, hinzu: „Entschuldige, dass ich dich am Telefon so abgekanzelt habe. Es war ein etwas unglücklicher Zeitpunkt.“
 „Und jetzt? Ist jetzt ein besserer Zeitpunkt?“
Sie zog ihre Brauen nicht hoch, wie er das von sich selber kannte, es war mehr ein winziges Zucken. So, wie er es eben schon einmal bemerkt hatte: ein Schalter legte sich um, ihre Stimme hatte etwas Spitzes bekommen, als müsste sie jemandem über den Mund fahren.
 „Sag mal, ist das deine Art zu flirten? Bisschen offensiv vielleicht. Ich sitze schon in einer Ecke, das macht das Gespräch nicht angenehmer.“
Da waren sie, die hochgezogenen Augenbrauen, Jakob konnte sich selbst in der Spiegelung der im Tunnel dunklen Scheibe sehen. Auch wie er kurz nach Luft schnappte. Fühlte er sich ertappt? Missverstanden? Kommunikation war doch sonst nicht seine Schwäche. Wobei ihn Annas schnelle Stimmungswechsel aus dem Konzept brachten.
 „Nein, eigentlich nicht. Ich wollte nur fragen.“ Ich flirte???
 „Ah, normalerweise machst du sowas nicht. Aber jetzt, hier, das ist natürlich eine Ausnahme, richtig?“, sie pustete von unten gegen ihren Pony und senkte die Stimme, „Aus der Masche strickt sich die Männerwelt ihre Bettwäsche.“
Dazu sagte er nichts, sondern schmunzelte über ihren Vergleich, zumal er meinte, einen unterschwelligen Seufzer rausgehört zu haben.
Anna grinste nun über ihn, wie er dasaß und sie durch seine randlose Brille (randlose? hatte sie nicht einen schwarzen Rahmen gehabt?) etwas ratlos ansah. Ja. Oberwasser. Das fühlte sich besser an, als im Regen das in Ohnmacht gestürzte Weibchen zu sein. Allerdings hatte er ihr besser gefallen, solange er sicherer aufgetreten war. Er fing sich wieder, indem er zu eben dieser Ratlosigkeit stand.
 „Und“, versuchte er den Faden wieder aufzunehmen, sein Blick eilte kurz zur Anzeige der nächsten Haltestelle (Obermarkt), „und nun?“
 „Was?“
 „Zufall oder nicht, ich hab mich gerade gefreut, dich hier zu treffen. Du scheinst da noch geteilter Meinung zu sein... Es ist Samstag und in einer Station sind wir in der Innenstadt. Kennst du das Vanilla?“
 „Vom Hörensagen.“
 „Wenn du schon findest, dass ich flirte, dann kann ich ja auch dabei bleiben und dich auf einen Kaffee im Vanilla einladen.“
Sie schaute ihn an, zog die Oberlippe ähnlich hoch, wie er zuvor die Brauen und spürte bereits, wie ihr Körper erneut schwer der Massenträgheit folgte.
 „Obermarkt“, bemerkte die Frau im Lautsprecher, „Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“
Er legte den Kopf schräg. Wieder Augenbrauen.
 „Das ist nur ein Vorschlag. Nur ein Kaffee. Oder Tee. Was du magst. Vielleicht mögen wir uns ja gar nicht.“
 „Mögen wir uns?“, Anna lachte. Keine Zeit! brüllte es in ihr, Wohngeldantrag, Wäsche waschen, aufhängen, staubsaugen, einkaufen, Belege kopieren, KEINE KERLE! – Geh mit, sagte Aber-aber.
Die Bahn ruckelte. Und hielt.
Augenbrauen. Fand sie das jetzt lustig oder schon nervig?
Die Türhydraulik zischte, die Gummilippen schmatzten klebrig auseinander.
 „Na, dann testen wir das aus.“
Anna schlug die Zeitung zusammen, legte sie auf dem Sitz ab und stand auf – und ihr wurde bewusst, dass dieser merkwürdige Typ nicht nur offensichtlich mehrere Brillen hatte, sondern gerade auch zum ersten Mal mit Zähnen lächelte.

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