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Band 1, Kapitel 4

Vor einem Viertelleben war noch einiges anders. Besser? Schlechter? Anders. Und vor allem ist es nun schon lange vergangen. Oder auch nicht.

Wenn du lieber hören als lesen möchtest, ist hier die Audiodatei für dich:

Sonntag. Vor einem Viertel Leben

  „Hättet ihr euch nicht an einem anderen Tag treffen können?“
Ellen lag auf Jakobs Couch und nuckelte an einer kleinen orangegelben Frucht, bevor sie diese aus ihrem Blütenkörbchen rupfte und verspeiste.
Jakob stand ein paar Meter entfernt in der Küche und briet Eier und Speck.
 „Tut mir leid, ich konnte da keine Rücksicht auf deine Schichten nehmen.“
Die Sonntagmorgensonne schien durch die Südostfront des Wohnzimmers, der Fernseher lief stumm im Hintergrund mit der Wiederholung einer Gerichtsshow.
 „Und? Geht ihr jetzt miteinander?“ Sie gluckste leise.
 „Willst du Orangensaft oder einen anderen Saft haben? Kreuze an: Rhabarber oder Grapefruit?“
 „Ich bin nicht so der Safttyp, das weißt du doch.“
 „Ja, ich weiß. Du vergisst generell öfter zu trinken, deswegen versuche ich, dir Saft unterzujubeln. Und mehr Frisches zu der Jahreszeit schadet auch nicht.“
 „Hast du wieder Tomaten ins Rührei geschnibbelt?“
 „Natürlich.“
 „Wenn das nicht tatsächlich lecker wäre, müsste ich dir ja böse sein bei all der Ignoranz.“
 „Ignoranz? Ich dachte, das sei aufmerksam. Und wer mag keine Tomaten?“
 „Ist es, ist es. Wobei du mich mit diesen kleinen Tomaten hier glaube ich auch gekriegt hast. Die sind komisch, aber gut.“
 „Physalis“, sagte Jakob.
 „Klingt wie eine Krankheit.“
 „Nein, das ist Syphilis.“
 „Ach nee. – Guck mal, da können wir doch perfekt den Bogen zurück zu dir und der guten Anna spannen. Wie ist es weitergegangen?“
 „Nicht so weit, dass wir über Syphilis sprechen müssten.“
Jakob stellte den Herd aus und verteilte Rührei auf zwei Teller, auf denen bereits mehrere Scheiben gebratenen Schinkens letzten Dampf aushauchten.
 „Lass uns vor dem Fernseher essen“, Ellen richtete sich auf und schob die Schale mit den Physalis beiseite, um Platz für Jakob und die Teller zu machen.
 „Ich dachte, wir wollten uns unterhalten.“
 „Jaja, aber ich will jetzt wissen, wie das da ausgeht.“ Sie nickte Richtung Fernseher, auf dessen Zweidimensionalität sich zwei Menschen stumm anschrien.
 „Du hattest doch sowieso keinen Ton an.“
Jakob stellte die Teller auf den Couchtisch und ging zurück in die Küche.
Sie schaltete den Fernseher aus.
 „Ist doch ein guter Kompromiss: Couchfrühstück, aber ohne Glotze.“
Er nahm zwei Tüten Saft aus dem Kühlschrank und zwei große Gläser aus einem der glänzend weißen Hochschränke.
 „Finde ich auch. Sehr gut. Ich habe jetzt entschieden, dass du entweder Maracujasaft oder Ananassaft trinken wirst. Komm schon, das sind praktisch Kindersäfte, Zuckerwasser, einen davon musst du mögen.“
 „Jaja. Du trinkst den doch selber nicht. Dass du den kaufst… – Also, wie war es?“
 „Gastfreundschaft. Ist mir zu sauer, weißt du doch. – Wir mögen uns, haben wir beschlossen. Das ist doch schon mal was.“ Jakob setzte sich zu ihr und hielt ihr beide Safttüten entgegen. Ellen deutete auf die Maracujatüte.
 „Hast du dich ein bisschen in sie verguckt?“ Sie warf ihm einen Röntgenblick von der Seite zu.
 „Ich finde sie irgendwie interessant. Ich denke, das ist schon mal nicht schlecht. Interessant genug, um mich zu freuen, als sie neulich zurückgerufen hat, interessant genug, um mich zu ärgern, dass ich das Telefonat dann so verbockt habe und interessant genug wohl, um mich in der Bahn etwas plump anzustellen, als ich sie wieder getroffen habe. Ja. Interessant.“
 „Interessant.“ Ellen ließ das Wort im Raum stehen und schnupperte an dem Glas Saft, das Jakob ihr eingegossen hatte, als könne es reizende Chemikalien enthalten, „Interessant sage ich auch, wenn jemand sich die Haare abgeschnitten hat und es scheiße aussieht. Das ist ja schon fast so wie nett.“
 „Interessant im Sinne von: Sie hat mein Interesse.“
 „Interessiert sich dein Frontallappen für sie oder sind deine Eier zumindest auch wenigstens ein bisschen involviert?“
 „Ich hab dir doch beschrieben, wie sie aussieht: groß, sehr schlank, hübsches Gesicht mit schönem Mund und starken Wangenknochen. Anziehen kann sie sich auch ganz gut und sie hat irgendwie ein Kilo Haar am Hinterkopf weggeflochten, also ja, mein Testosteron findet sie auch interessant. Das steht aber hinten an.“
 „Hinter was?“, fragte Ellen mit vollem Mund und spülte schnell mit Saft nach. „Ha, jetzt hast du mich tatsächlich gekriegt! Salziges Essen und Saft, du Genie...!“
Jakob nickt grinsend.
 „Ihre Person interessiert mich. Sie ist gleichzeitig sehr offen und auch sehr verschlossen. Sie kann gut erzählen und auch viel, aber eigentlich sagt sie dabei nichts.“
 „Smalltalk?“
 „Nein, gar nicht. Sie hat starke Meinungen. Aber von sich, was sie so tut, wer sie ist, da gibt sie wenig Preis. Ich kann dir sagen, dass sie sauer ist wegen der Studiengebühren, aber ich weiß nicht, ob und was sie studiert. Ich weiß, dass sie familiär sehr eingebunden ist, aber ich weiß nicht, womit.“
 „Aber du weißt zumindest konkret, dass sie Single ist?“
 „Nein...“
 „Vollhorst, du!“
 „...davon bin ich jetzt einfach mal ausgegangen, als sie mit ins Vanilla gekommen ist. Mach mich jetzt nicht fertig!“
 „Du bist echt ein Anfänger… Also hast du dich doch in sie verguckt. Dass du grad nicht blass geworden bist, ist ja schon alles.“
 „Vielleicht. Ich fand es schön, sie kurz in den Arm zu nehmen, als wir uns verabschiedet haben. Aber das muss ja noch nichts heißen. Ich finde sie interessant. Und schwierig. Vielleicht finde ich sie auch interessant, weil sie schwierig ist. Kann man kühl und hitzig gleichzeitig sein? Ich mag mich da in nichts verrennen.“
Ellen spülte noch mal Maracujaspeckeier herunter und gestikulierte dann mit Messer und Gabel in Jakobs Richtung, sodass er vorsichtshalber etwas auswich.
 „Doch! Du solltest dich mal wieder richtig in sowas verrennen. Du solltest mal nicht schlafen können, weil du nur noch an ein Mädchen denken musst. Du solltest mal wieder durch die Stadt laufen, stundenlang, weil du hoffst, sie da zufällig zu sehen. Du wohnst ja mittlerweile nur noch in deinem Kopf. Du solltest mal wieder total irrational sein und eine Runde schmachten. Das solltest du! Das täte dir gut. Ob das jetzt ausgerechnet mit dieser Anna sein muss, weiß ich nicht. Aber wenn du sie schon interessant findest, dann bist du mit ihr schon mal weiter als mit deiner Kathrin. Und wie lange ist das jetzt her? Da warst du wie alt? Dreiundzwanzig? Fünfundzwanzig?“
 „Fast richtig. Gerade dreiundzwanzig zu Anfang und noch nicht fünfundzwanzig am Ende. Ich bin kein herzloser Roboter! Das weißt du! Sei nicht so fies.“
 „Doch, ich bin fies! Jakob Winter, eigentlich hast du nichts weiter zu tun, als dich mal fallen zu lassen. Wann warst du das letzte Mal richtig verliebt?“
Jakobs Kopf fuhr herum, diesmal mit nur einer Braue scharf zur Spitze gezogen.
 „Ellen, was soll das jetzt?“
 „Wann?“
 „So gesehen noch mit einundzwanzig, zweiundzwanzig. Worauf willst du hinaus? Ich dachte wir reden hier über Anna.“
 „Tun wir doch. Gleich wieder zumindest. Jakob, das ist grob sieben Jahre her. Länger! Das ist etwa ein Viertel deiner Lebenszeit. Es wird mal wieder Zeit. Ich fänd das wirklich wichtig.“

  „Hallo Tom, hier ist Ellen!“
 „Hi Ellen“, Tom Winter war seinerseits bei sich zu Hause und hatte den Sonntagnachmittag mit seinen Hanteln verbracht, bis sein Handy geklingelt hatte.
 „Bist du zu Hause?“
 „Ja, ich trainiere.“
 „Kann ich hochkommen? Ich stehe unten.“

Tom schien noch zu dampfen, als er nach einem kurzen Sprung unter die Dusche mit Ellen in die Küche ging, um dort am Tresen mit ihr Schlieren in die Luft zu rauchen.
 „So, was ist denn so wichtig? Oder wolltest du nur Kippen schnorren?“
Ellen, auf dem Hocker ihm gegenüber, wirkte etwas wie ein Kind im Hochstuhl. Ihr langer pendelnder Pferdeschwanz und die rosa Sweatjacke mit petrolfarbenen Sternchen machten den Eindruck nicht besser.
 „Ich war gerade bei deinem Bruder. – Aber Zigaretten nehme ich auch, ja.“
Tom hielt ihr die Schachtel hin, während er sich selbst Feuer gab. Mit den knallroten Schrankfronten, der Theke und den zwei überquellenden Aschenbechern war Toms Kochbereich das krasse Gegenstück zum weißen, cleanen Nahrungszubereitungsbereich seines Bruders. Alles war ein bisschen angedreckt, wirkte trotz der guten Qualität studentisch, etwas unordentlich und abgefeiert. Und entweder der Mülleimer oder die Spülmaschine verströmte einen leicht vergorenen Geruch.
Ellen zückte ein Röllchen aus der Packung und nahm Tom danach das Zippo ab.
 „Und, was macht der Lange? Ist er spielsüchtig geworden oder hat zehn Autos gekauft? “
 „Ach!“, Ellen wischte den Unsinn weg, um etwas scheinbar noch viel Unsinnigeres nachzulegen. „Sich mit Frauen treffen!“
 „Frauen?!“, Tom blies scharf Rauch aus. „Mehrzahl? Du verarschst mich.“
 „Ja, nee, also mit einer. Ich wollte es dramatischer gestalten.“
 „Ist so doch schon dramatisch genug.“ Tom lachte.
 „Pass auf, weswegen ich hier bin – außer den Kippen –, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“
 „Okay, der da wäre?“
Tom hörte Ellen zu und driftete etwas ab.

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 „Ich denke, wir sollten das lassen.“ Toms Haar war fast dasselbe: Schrägpony, etwas wuschelig, vielleicht eine Spur kürzer als er es mit sechsundzwanzig trug. Die Gesichtszüge waren etwas weicher und er hatte mit zwanzig unter keinen Umständen Bart auch nur den Hauch eines Bartes stehen lassen.
 „Was?“, Ellen lag auf seinem Bett.
 „Wir sollten nicht zusammenziehen.“
Sie setzte sich auf versuchte irgendwie zu verstehen, was gerade geschah.
Tom stand am Fenster und sah hinunter in den Garten, in dem seine Eltern die Terrasse für das geplante Sommerabschlussgrillen präparierten.
 „Wie kommst du denn jetzt darauf?!“
Er stopfte die Hände in die Taschen und zuckte die Achseln.
 „Es war alles ein bisschen hart in den letzten Monaten. Das Abi allein hätte mir ja schon gereicht. Ich glaube nicht, dass mir das jetzt guttun würde. Und... Ich glaube, es wäre besser, wenn wir nicht zusammenziehen.“
Ellen schüttelte den Kopf.
 „Tom, was soll das jetzt?! Wir waren uns doch einig: jeder für den anderen und jeder für sich. Du deine Playstation, ich meine rosa Bettwäsche. Du baust dir eine Bar, ich krieg einen Schminktisch. Nette Rollenverteilung und dazwischen eine Tür zum Zumachen und eine gemeinsame Küche mit Putzplan.“
Tom sagte nichts.
 „Was hat deine Meinung geändert?“, fragte Ellen.
 „Ich werde mit Jakob wohnen“, sagte er plump.
 „Was? Bist du irre?“
 „Nein, aber er!“, Tom warf ihr einen fast schon bösen Blick zu.
 „Warum bleibt er nicht zu Hause wohnen oder sucht sich was allein? Er ist alt genug!“
 „Pff! Als ob es darauf ankäme, wie alt er ist!“
 „War das seine Idee?“
 „Nein, meine.“
 „Das ist doch lächerlich!“, Ellen tigerte im Zimmer auf und ab. „Was willst du damit erreichen? Und wie soll das dann mit uns funktionieren, wenn er da auch wohnt?“
 „Das ist egal.“
 „Ich bin dir egal?“
 „Das habe ich nicht gesagt.“
 „Was sagt er denn dazu?“ Ellen schnaubte.
 „Er will das auch nicht.“
 „Ja und was soll das dann?“
 „Er muss hier raus und nach allem was war, werde ich nicht das Risiko eingehen, dass er irgendwo alleine ist. Ellen, er ist mein Bruder! Ich will ja nicht mein Leben mit ihm verbringen. Vielleicht ein Jahr oder so. Je nach dem.“
 „Ein Jahr?“
 „Oder so.“
 „Tom, ich warte nicht ein Jahr auf deine Großzügigkeit.“
 „Ich weiß.“
Ellen blieb der Mund offen stehen.
 „Worüber reden wir hier überhaupt?“
 „Darüber, dass wir besser nur Freunde sein sollten. Es gibt einfach Wichtigeres im Moment. Ich habe keine... Zeit? für uns – für dich. Das wird alles nicht funktionieren.“
Ellen schluckte und nickte dann.
 „Okay“, antwortete sie leise und nahm ihre Tasche, die neben der Tür stand, „Okay, dann sind wir eben nur Freunde.“
Tom schüttelte traurig den Kopf.
 „Nein, nicht nur. Nur eben nicht mehr so.“
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Ende März versank die Sonne noch recht früh hinter dem Horizont, vor dem sich die Häuserdächer wie Scherenschnitte gegen den Himmel stellten. Jakob war allein zu Hause und las „Nie im Leben“, ein Buch, das seine Mutter ihm mitgegeben hatte. Auf dem Cover kniff ein sommersprossiger Junge die Augen zusammen und grinste breit. Nachdem er eine Seite zum dritten Mal angefangen hatte, ohne unten angelangt noch zu wissen, worum es oben gegangen war, legte er das Buch zur Seite und ging auf die Dachterrasse. Er wohnte im fünften Stock und die Stadt lag von einem gelbbläulichen Dämmerstreifen umkränzt vor und unter ihm. Es mochte noch laut sein in manchen Straßen, dort oben war es ruhig, Autos und Menschen schallten nur gedämpft hinauf. Richtung Innenstadt hatte der Himmel bereits die orangewarme Tönung von in Luftfeuchtigkeit reflektierter Straßenbeleuchtungen angenommen. Schaute Jakob direkt nach oben, war der Himmel dunkelgrau, keine Wolken, aber dennoch schafften es nur die hellsten Sterne als blasse Punkte mit flauer Korona durch den Dunst zu glimmen. Es war kalt, keine zehn Grad so ohne Sonne.
Jakob lief in der Wohnung meist barfuß und auch hier draußen blieb er dabei, auch wenn er wegen der Kälte unwillkürlich die Zehen auf den gerillten Douglasien-Planken einrollte.
Er erinnerte zum gefühlt hundertsten Mal das Gespräch mit Ellen. Und das mit Anna. Dann wieder mit Ellen.
War das jetzt wirklich schon sieben Jahre her? Damals war er noch in der Oberstufe gewesen. Sieben Jahre oder acht oder neun, je nachdem, was er mitzählte. So vieles hatte sich seitdem verändert. Zum Glück.
Er fröstelte und schlang die Arme um sich, hatte aber dennoch nicht vor, wieder nach drinnen zu gehen. Stattdessen beobachtete er, wie sich zunächst die Härchen an den Armen aufstellten und dann die Schultern verkrampften, um den Rücken zu runden und den Kopf einzuziehen, was weniger Temperaturangriffsfläche verhieß.
Alles hatte sich geändert. Und eigentlich alles hin zum Guten. Und trotzdem hatten Ellens Worte ihn mehrmals voll in der Magengrube erwischt, in der sich immer noch ein kleiner fester Ball ungemütlich umher wälzte.
 „Eigentlich hast du nichts weiter zu tun, als dich mal fallen zu lassen!“
War das so? Keine Verpflichtungen zu haben bedeutete nicht, keine Verpflichtungen zu haben. Oder zumindest Themen, die man Verpflichtungen nennen konnte. Vor sich selbst.
 „Und was ist mit dir?“, hatte sie gefragt.
Zu Recht. Ellen kannte ihn wie sonst niemand. Außer noch Tom, aber der war sein Bruder und hatte so gesehen einige Jahre Vorsprung. Aber sonst...? Selbst Marvin, sein mit Abstand bester Freund nach Ellen, hatte keine Ahnung. Wobei auf dieser Ahnungslosigkeit und der Tatsache, dass Marvin ebenfalls adoptiert war, ihre Freundschaft gründete, die eigentlich eher den Titel „langjährige Bekanntschaft“ verdiente. Zu Mitschülern aus dem Gymnasium hatte Jakob, wenn überhaupt, nur noch sehr losen Kontakt.
Er rief sich die Verabschiedungsgeste mit Anna im Arm ins Gedächtnis. Die Erinnerung daran fühlte sich bei weitem nicht so gut an, wie er zu Ellen gemeint hatte. Es war eher etwa so, wie ein leerer Bauch: seltsam hohl und schwächend.
Er hatte Anna versprochen, es ihr zu überlassen, ob und wann sie sich wieder melden wollte. Das bereute er mittlerweile.
Eine Hupe direkt vor dem Wohnhaus riss ihn aus seinen Gedanken und er ging zurück in die etwas trockene Heizungswärme des Wohnzimmers und ließ die breiten Lamellenrollläden herunter.
Im Arbeitszimmer drückte der schwere Ordner, den er von seinen Eltern mitgenommen hatte. Daneben sein Collegeblock mit Vorlesungsmitschriften, die er noch nicht nachgearbeitet hatte.
Seine Motivation für beide Tätigkeiten war irgendwann im Tagesverlauf versickert.
Er klappte sein MacBook auf und wartete den Moment ab, bis es hochfuhr und der violette Standarddesktop erschien, was ihn grob fünfeinhalb Jahre zurückwarf.

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 „Gar kein persönlicher Hintergrund? Schade, da war ich aber gerade neugierig.“
Jakob sah zu dem Mädchen neben sich. Sein damaliges sandwichdickes Notebook hatte einen grünen, ein wenig an algiges Wasser im Sonnenlicht erinnernden Bildschirmhintergrund.
 „Hi, ich bin Kathrin“, lächelte sie ihn an und reichte ihm etwas umständlich ob der klapptischigen Enge im Hörsaal die Hand.
 „Jakob.“
Eineinhalb Stunden später stand sie auf, versperrte ihm aber kurzzeitig den Weg, saß sie doch näher am Treppenaufgang als er.
 „Kommst du heute Abend zur Ersti-Party?“
 „Ähm...“
 „Ich würd mich freuen!“, sagte Kathrin und ging.

Jakob fühlte sich deplatziert auf der Party, was nicht nur daran lag, dass er seit einem Jahr nicht mehr zu den Erstsemestern gehörte und die Vorlesung nur belegt hatte, weil er sie in seinem ersten Semester nur sehr unvollständig besucht hatte.
Tom neben ihm hatte sichtlich Spaß.
 „Heute geh ich nicht allein nach Hause!“, verkündete er in fröhlichem Singsang.
 „Du bist unmöglich!“
 „Spricht da der Neid aus dir?“ Tom trank einen Energydrink mit alkoholischem Extra. „Zeig mir mal das Mädchen aus deiner Vorlesung, nicht, dass ich da sonst noch jemanden abgreife, der eigentlich für dich bestimmt gewesen wäre.“
Jakob schob seine Brille fest gegen die Nasenwurzel und räusperte sich. Er hatte bereits die ganze Zeit über die relative Menge an Studenten abgesucht, die entweder tanzten oder sich trinkend unterhielten.
Schließlich entdeckte er Kathrin zusammen mit drei weiteren Mädchen am anderen Ende des schwülwarmen Raumes. Sie fing seinen Blick auf und lächelte, er sah weg.
 „Hey, sie mag dich“, Tom grinste. „Und ich kann dann ja mal eine ihrer Freundinnen anlabern. Ihr Literaturfritzen seht mir ja größtenteils etwas blass aus. Sportstudent zieht doch da bestimmt.“
 „Ich weiß gar nicht, was ich machen soll“, gab Jakob zu und rieb sich die Oberarme.
 „Drum wird es Zeit, dass du es lernst. Immerhin kannst du dich ja auf euer kleines Gespräch im Hörsaal berufen.“
 „Jaaa... zumindest keine Kaltakquise...“
 „Was? Nee, so sprichst du sie nicht an. Geh einfach hin und sei nett.“
 „Ich weiß nicht...“
 „Alter, du bist eine dreiundzwanzigjährige Jungfrau mit Klugscheißerbrille. Mach dich mal locker, das fällt sonst noch auf mich zurück.“ Tom boxte ihn in die Seite. „Und wenn es nicht klappt, dann hast du zumindest mal geübt. Und beim nächsten Mal nimmst du Kontaktlinsen. Obwoooohl... obwohl, obwohl, ach lass die Brille! Schultern runter, Brust raus! So!“
Jakob nickte langsam.
 „Los!“, befahl Tom. „Du gehst vor, sonst wird das unglaubwürdig. Ich komme gleich nach.“
Tom gab Jakob mit zu einem V gespreizten Zeige- und Mittelfinger zu verstehen, dass er ein Auge auf ihn haben würde und ging sich an der Bar zwei neue Getränke besorgen.
Jakob schob sich am Rand der Tanzfläche vorbei, sich der Tatsache unangenehm bewusst, dass er von zwei Seiten beobachtet wurde und – noch viel unangenehmer: Er argwöhnte, dass Toms kurzes Coaching von der Gruppe Mädchen nicht unbemerkt geblieben war.
Kathrin lächelte in leicht gerötete Wangen hinein. Ihr knapp brustlanges mittelblondes Haar trug sie offen, dazu ein T-Shirt mit einem Muffin- und Erdbeertörtchen-Print. Die Gebäckstücke hielten Händchen und spazierten auf der Unterschrift Sweet Sugar herum. Jakob fand den Print dämlich, den Rest des Mädchens aber hübsch. Er selbst hatte mit seinem schwarzen langärmligen Kapuzenpullover etwas zu viel an für die zunehmende Enge und Wärme im Raum. Dennoch war er sich sicher, dass ein T-Shirt keine bessere Wahl gewesen wäre.
Kathrin nahm ihm das Ansprechen ab.
 „Hallo Jakob“, sie strahlte. „Schön, dass du auch hier bist.“
 „Hi“, er wusste nicht wohin mit seinen Augen, geschweige denn mit dem Rest von sich.
 „Ich hab dich in den anderen Vorlesungen noch gar nicht gesehen“, redete sie weiter, „und in der Orientierungswoche auch nicht.“
 „Ich bin im dritten Semester“, gab Jakob zu und hatte das Gefühl, eine Lüge zu offenbaren, obwohl er bisher ja noch überhaupt keinen vollständigen Satz mit Kathrin gewechselt hatte, „Ich habe die Vorlesung im ersten Semester irgendwie verpasst“, murmelte er.
Kathrin schien das gut zu finden. Wahrscheinlich schlicht wegen der Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er älter war als die übrigen Partygänger sich damit erhöhte. In jedem Fall reifer als sie sich mit ihrem T-Shirt-Print labelte.
 „Cool, dann kannst du mir ja ein paar Tipps geben. Oder hast du ein paar Altklausuren?“
Jakob sagte nichts.
 „Ach, vergiss es“, Kathrin winkte ab. „Heute Abend erst mal ein bisschen Party, was? – Das sind Michaela, Natalie und Sina.“
Jakob bekam einen kraftvollen Schlag in den Rücken.
 „Hier bist du also!“, Tom grinste ihn selbstsicher an, in der freien Hand hielt er an den Becherrändern zusammengedrückt zwei Getränke von hellgelber Farbe, aber ohne Kohlensäurebläschen.
Die weibliche Vierergruppe sah die beiden fragend an.
 „Das ist mein Bruder.“
 „Tom, hi!“, antwortete er für sich selbst. „Jake, ich hab dir was zu trinken mitgebracht.“
Jakob zog die Brauen nach oben.
 „Äh...“
 „Ach ja, Mensch Sorry, willste nicht wegen dem Antibiotika.“
Weges des Antibiotikums, dachte Jakob. Nicht, dass er gerade welches nahm. Dann begriff er.
 „Äh, ja, besser nicht, oder nicht so viel, vielleicht...“
 „Will von euch jemand?“, Tom bot das übrige Getränk an und Jakob seufzte innerlich. Keine Minute später hatte Tom die schwarzhaarige Sina, die ihre schlagendsten Argumente in ein zu enges Oberteil gequetscht hatte, in ein Gespräch verwickelt. Michaela und Natalie hatten beschlossen, tanzen zu gehen, während Kathrin anfing, Jakob auszufragen, was er so machte.
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Jakob schüttelte sich. Sein so gesehen erster Abend mit Kathrin war grausam gewesen. Seine eigene, schon kaum noch als Schüchternheit zu entschuldigende Unsicherheit war ihm rückblickend peinlich. Aber er hatte einfach nicht gewusst, wie.

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Kathrin hatte sich in den Wochen darauf angewöhnt, zur Literaturgeschichte-Veranstaltung immer eine Viertelstunde früher zu kommen und Jakob einen dankbaren Platz am Gang freizuhalten, der es ihm erlaubte, seine Extremitäten etwas besser unterbringen zu können, als es ihm irgendwo im Mittelteil des Hörsaals möglich gewesen wäre. Meistens erzählte sie ihm von verschiedenen Komödien – vorzugsweise mit Ben Stiller –, die sie mit ihrer Mitbewohnerin geguckt hatte, versuchte Gespräche über Musik und Bücher anzuschließen und am fünften Freitag in Folge fragte sie ihn schließlich vorsichtig, ob er wohl Lust hätte, mit ihr am Nachmittag in die Stadt zu gehen. Nur, um sich dort auch in der Bibliothek anzumelden, sie war ja nicht aus Mörln und vielleicht könne er ihr auch das eine oder andere nette Eckchen zeigen.
Jakob hatte sich einverstanden erklärt und sich am selben Abend etwas übertölpelt bei Kathrin in der WG-Küche wiedergefunden. Steffi, ihre Mitbewohnerin, war über das Wochenende bei ihren Eltern.
 „Ich fände es schön“, sagte sie, als sie sich durch ihre DVD-Sammlung gewühlt hatte, auf der Suche nach einem Film, den sie für gut genug hielt, um ihn mit Jakob anzusehen, „wenn du auch für einen blöden Film bleiben würdest“, und ihre Wangen waren ganz rosa gewesen.
Einem Jetzt-oder-Nie-Gefühl folgend, hatte Jakob sich neben sie vor das DVD-Regal gehockt, genickt und sie geküsst.
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Ob das ein Fehler gewesen war, hatte er sich auch mehr als fünf Jahre später noch nicht zufriedenstellend beantworten können. Von dem Abend an, war Kathrin Erikson seine Freundin gewesen. Seine erste richtige und bisher auch einzige. Wenn ihm auch sonst nicht viel dazu einfiel, so hatte das zumindest dazu geführt, dass sich die brüderliche WG ein Vierteljahr später aufgelöst hatte, zugunsten von zwei sogenannten Singlewohnungen. Dass Jakob partout Argumente fand, die gegen Kathrin als Dauerpräsenz sprachen, hatte ihn erst im Nachhinein stutzig gemacht. Schließlich waren sie noch nicht lange zusammen. Ein paar Monate. Da war es doch nicht weiter ungewöhnlich, dass er da nichts überstürzen wollte und er schlicht keine Lust mehr auf Toms unmittelbare Zeugenschaft von was auch immer hatte. Tom hatte den Entschluss gutgeheißen, was sollte also falsch daran sein?

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Glossar

MacBook: Dieses und andere Apple-Produkte werden genannt, da sie die Verwender stark labeln in ihrem Blick sowohl auf Design als auch Image als auch auf "kann und will ich mir leisten". 

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