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Julien hier mit der siebten Treibhauspost. In meinem vorherigen Artikel (Opens in a new window) ging es noch um gute Nachrichten aus der Klimapolitik – gewonnene Gerichtsurteile, Banken ohne Kohle und andere erste Schritte in richtige Richtungen.

Heute nicht. Wer gerade ein Frühsommerhigh hat, sollte vielleicht weiterzappen. Wer aber bereit ist, für neueste und verdammt wichtige Erkenntnisse aus der Klimaforschung: jetzt einschalten! Sie betreffen nämlich jegliche klimapolitische Forderungen.

#07 Analyse

Der Münzwurf des Weltklimarats

Ein australischer Think Tank rechnet in seiner neuesten Publikation mit den Berechnungen des Weltklimarats ab. Das Ergebnis: Wir haben viel weniger CO₂-Budget und viel weniger Zeit als angenommen. ~ 8 Minuten Lesezeit

Ganz selten schaffen es Zahlen, einen wirklich sprachlos zu machen. Und selten ist man mittlerweile noch wirklich geschockt angesichts neuer Erkenntnisse zur Klimakrise. Bei der aktuellen Publikation des australischen Think Tanks Breakthrough (National Center for Climate Restoration) war ich beides.

Warum? Weil dort in Frage gestellt wird, ob selbst die ambitioniertesten Klimaziele, die momentan die “radikalsten” politischen Vertreter°innen und Aktivist°innen fordern, ausreichen, um die schlimmsten Folgen der Klimakrise abzuwenden. Die Kernaussage: Die Berechnungen, auf denen die internationalen Klimaziele ausgelegt werden sollen, seien problematisch.

Sie seien viel zu optimistisch.

Das Briefing

  • Das Pariser Klimaabkommen basiert auf den Empfehlungen des IPCC (Weltklimarat).

  • Der IPCC ist die wissenschaftliche Instanz für die Modellierung der Klimakrise. Auf Basis der IPCC-Berechnungen werden internationale Verhandlungen geführt und nationale Gesetze geschrieben beziehungsweise angepasst (wie im April in Deutschland (Opens in a new window)).

  • Konkret: Die IPCC-Modelle, insbesondere der 1,5°C-Sonderbericht, geben verschiedene Budget-Szenarien aus, worauf politische Entscheidungsträger°innen ihr Handeln basieren sollen. 

Die Bredouille des Weltklimarats

Der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change oder schlicht “Weltklimarat”) ist eine UN-Institution mit der Aufgabe, den wissenschaftlichen Stand der Forschung zum Klimawandel zusammenzufassen. 195 Regierungen, 120 Beobachter-Organisationen, diverse Akademien der Wissenschaften verschiedener Staaten und renommierte wissenschaftliche Expert°innen sind am IPCC beteiligt. Geballte Kompetenz also für das dringendste Problem unserer Zeit.

Vertreter°innen des IPCC 2018: Viel Verantwortung auf wenig Schultern. 📸: The Porto Protocol

Die Hauptberichte kommen alle sechs bis sieben Jahre heraus; der nächste erscheint im kommenden Jahr. Dazwischen gibt es Sonderberichte, wie den zur globalen Erwärmung von 1,5°C (Opens in a new window) von 2018. In diesem modelliert der IPCC das verbleibende CO₂-Budget für verschiedene Erderwärmungs-Szenarien (zum Beispiel eben 1,5°C oder 2°C). Diese sind abhängig von bestimmten Erfolgswahrscheinlichkeiten, genauer gesagt 50 Prozent oder 67 Prozent Chance, dass eine bestimmte Gradzahl nicht überschritten wird.

Beispiel: Es verbleiben noch 420 Gigatonnen CO₂, um zu 67 Prozent Wahrscheinlichkeit eine Erderwärmung von 1,5°C nicht zu überschreiten.

Was passiert, wenn 1,5°C überschritten werden? Es wird wiederum wahrscheinlicher, dass einzelne Kipppunkte der Ökosysteme das tun, was sie am besten können, nämlich kippen. Das hätte katastrophale Folgen für den Planeten: mehrjährige Dürreperioden, unaufhaltsame Eisschmelze, häufige Extremwetterereignisse, Ernährungsunsicherheit.

Was sind denn diese CO₂-Budgets, von denen immer alle reden? Und was haben sie mit Bierdeckeln zu tun? Lies nach in der Treibhauspost #01 (Opens in a new window).

So weit, so abstrakt. Wichtig ist vor allem: An diesen IPCC-Modellen orientieren sich so gut wie alle globalen klimapolitischen Forderungen. Je nachdem wie viel CO₂ nämlich noch ausgestoßen werden kann, bleibt ein bestimmtes Zeitfenster für die globale Dekarbonisierung. Je weniger freies Budget, desto weniger Zeit.

Es ist also verdammt essentiell, dass die Modelle des IPCC richtig sind und passende Annahmen treffen.

Und genau daran hat der australische Think Thank Breakthrough ziemliche Zweifel.

Breakthroughs Abrechnung 

Ganz kurz: Breakthrough, kennt man die? Vielleicht noch nicht. Mit dabei ist aber kein Unbekannter: Hans Joachim Schellnuber, ehemaliger Direktor des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und frisch geehrter Bundesverdienstkreuzträger (Opens in a new window). Und Scientists for Future haben die bisher meist beachtete Publikation von Breakthrough “What lies beneath?”, ins Deutsche übersetzt (Opens in a new window) und halten sie für “sorgfältig recherchiert und gut belegt”.

In ihrer neuesten Publikation vom April 2021 mit dem unaufgeregten Titel “Carbon Budgets for 1,5 & 2°C” (Opens in a new window) hat Breakthrough nun diverse Einwände an den Modellen des IPCC.

Wir haben die Hauptkritikpunkte für euch zusammengefasst:

1) Zu optimistische Annahmen
Im Breakthrough-Bericht heißt es: “Eine Erwärmung um 1,5°C ist bis 2030 oder früher wahrscheinlich, unabhängig von allen Maßnahmen, die in der Zwischenzeit ergriffen werden. Dies ist das Ergebnis der vergangenen Emissionen und wird unabhängig vom Emissionspfad in den nächsten zehn Jahren eintreten.”

Das Problem mit den 1,5°C-Szenarien des IPCC ist unter anderem, dass sie auf einer großflächigen und kosteneffizienten Nutzung von BECCS (Bioenergy with Carbon Capture and Storage) basieren. Also Technologien, die der Atmosphäre CO₂ entziehen. Diese Annahme ist laut Breakthrough jedoch hoch spekulativ. Denn: Diese Technologien sind noch in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung. Sich darauf auszuruhen, dass wir in Zukunft schon die nötigen Technologien haben werden, um eine zu starke Erwärmung wieder rückgängig zu machen, ist hoch riskant. 

Außerdem basieren die 1,5°C-Szenarien auf einem jahrzehntelangen “Overshoot”. Damit gemeint sind Zeiträume, in denen die Temperatur die 1,5°C-Grenze “kurzzeitig” überschreitet und sich anschließend wieder auf 1,5°C einpendelt. Das heißt aber, dass in diesem Overshoot-Zeitraum die Gefahr relativ hoch ist, Kipppunkte zu überschreiten.


2) Aerosole “beschönigen” die Klimamodelle
Es klingt fast schon ironisch, aber durch das Verbrennen fossiler Energieträger werden Schwefel-Aerosole frei, die einen kühlenden Effekt aufs Klima haben. Wenn die Nutzung von Erdöl und Kohle zurückgeht, nimmt entsprechend auch die Konzentration der Aerosole ab. Niedrigere Emissionen durch fossile Brennstoffe in den nächsten zwei Jahrzehnten würden den Trend der Erderwärmung daher weniger stark abschwächen als angenommen.


3) Rückkopplungseffekte des Erdsystems werden unterschätzt oder ignoriert
Positive Rückkopplungen können dazu führen, dass uns das bisschen Kontrolle über die Erderwärmung, die wir vielleicht noch haben, entgleitet – einfach weil die Folgen der Erderwärmung sich dann gegenseitig potenzieren würden. Ganz automatisch. Das lässt der IPCC in seinen Berichten aber nahezu außer Acht.

Leider nicht mehr so permanent: Permafrostboden in Kanada. 📸: Creative Commons 4.0

Das gravierendste Beispiel: Das Schmelzen der Permafrostböden und das dabei frei werdende Methan werden in den IPCC-Modellen zwar explizit genannt, aber nicht einkalkuliert. Weitere solcher Effekte, bei denen zum Beispiel vermehrt CO₂ aus der Natur frei wird, sind ebenfalls unterrepräsentiert.

4) In den bestehenden Budgets ist zu viel Risiko einkalkuliert
Jedes Budget-Szenario kommt mit einer Wahrscheinlichkeit (siehe oben). Konkret: 50 oder 67 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit für eine bestimmte Gradzahl. Das wären zwar gute Odds im Casino, aber vielleicht nicht bei einer nie dagewesenen Klimakrise mit unmittelbar bevorstehenden Kipppunkten und genau einer Chance, diese nicht zu überschreiten. 

Denn im Umkehrschluss bedeuten diese recht niedrigen Erfolgswahrscheinlichkeiten auch, dass man einen Misserfolg zu 33 beziehungsweise 50 Prozent riskiert. Damit überlässt man so etwas Essentielles wie den Fortbestand wichtiger Erdsysteme quasi einem Münzwurf.


5) “Fat-tail risks” werden unterschätzt
Nochmal diese Risiko-Wahrscheinlichkeit. Diesmal geht es aber um Worst-Case-Szenarien. Die sind nämlich leider relativ wahrscheinlich in der Klimakrise. Das hängt damit zusammen, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Erderwärmung nicht gleichmäßig ist, sondern hinten raus einen “fat tail” hat (siehe Abbildung).

Sieht langweilig aus, ist aber wichtig: Die Wahrscheinlichkeiten, für Worst-Case-Szenarien sind nicht normalverteilt (links), sondern haben einen “fat tail” (die “Rutsche” rechts). Man beachte die >10% für 6°C oder mehr. 📈: Breakthrough

Extreme Erderhitzung von über 6°C sind also relativ wahrscheinlich. Konkret: Über zehn Prozent für ein Modell bei dem die wahrscheinlichste Erwärmung bei 2°C bis 3°C liegt. 

Breakthrough zieht folgenden Vergleich: Wer würde in ein Flugzeug mit zehn Prozent Chance auf einen Absturz steigen?

Woran liegt es aus Sicht des Think Tanks, dass der IPCC so optimistisch beziehungsweise risikoreich CO₂-Budgets verteilt? Ich habe mal beim Leiter von Breakthrough nachgefragt.

Aus Wissenschaft wird politischer Konsens

David Spratt ist Forschungsleiter des Think Tanks und hat die aktuelle Publikation mitverfasst. Aus seiner Sicht ist das Hauptproblem, dass sich in den IPCC-Reports häufig nur der kleinste gemeinsame Nenner durchsetzt. Vor allem bei der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger°innen, einer Art Übersicht des Reports für Politiker°innen, auf die das meiste mediale Interesse fällt.

Sieht sympathisch aus, kann aber auch austeilen: Breakthrough-Forschungsleiter David Spratt. 📸: Screenshot YouTube (Opens in a new window)

Laut Spratt wird quasi Satz für Satz darüber abgestimmt, welche von den Forscher°innen ausgearbeiteten Inhalte dann tatsächlich in die Zusammenfassung kommen. Das Problem dabei: Die abstimmenden Vertreter°innen des IPCC verfolgen durchaus eigene politische Interessen.

Spratt befürchtet, dass so der Klimakrise gegenüber skeptisch eingestellte Staaten wie Russland, verschiedene Golfstaaten oder teilweise auch die USA Einfluss nehmen können auf bestimmte Inhalte. Vor allem solche, die zwar ein hohes Risiko für's Klima mit sich bringen, aber eine noch sehr geringe Datenlage haben. Die Zusammenfassungen würden so de facto zu einem politischen Dokument.

Reaktion – Fehlanzeige

Nochmal kurz schwarz auf weiß: Es kann also sein, dass die Zahlen, auf denen der globale “Rettungsplan” für die Klimakrise basiert (oder besser: basieren soll) viel zu optimistisch und zu risikoreich sind?

Da wird es doch bestimmt eine angemessene Reaktion des IPCCs darauf gegeben haben, oder?

“Meines Wissens hat der IPCC keine formelle Antwort auf unsere Veröffentlichungen gegeben, und es ist auch nicht zu erwarten, dass sie es tun werden”, sagt Forschungsleiter Spratt.

Aber es gab doch bestimmt einen Aufschrei aus der Forschungsgemeinschaft?

“Bisher gab es ebenfalls keine nennenswerte Reaktion aus der wissenschaftlichen Community auf das Budget-Paper. Einige Antworten haben einfach die Tatsache vernachlässigt, dass fast alle CO₂-Budgets für ein 1,5°C-Szenario einen großen “Overshoot” in Richtung 2°C Erwärmung annehmen.”

Aber dass 33 bis 50 Prozent Misserfolgs-Wahrscheinlichkeit in Kauf genommen werden, muss doch zumindest Diskussionen anfachen, oder?

“Über unsere Kritik am mangelhaften Risikomanagement herrscht fast komplettes Schweigen. Menschen akzeptieren nicht einmal 1 Prozent “Risiko des Versagens”, wenn sie eine Brücke überqueren oder in einen Aufzug steigen. Was ist also die ethische Grundlage dafür, dass politische Entscheidungsträger°innen und Regulierungsbehörden so große Risiken akzeptieren, wenn es um den Planeten geht?”

Und jetzt?

An dieser Stelle – Kommentar-Modus: on.

Es wirkt erstmal komplett frustrierend. Selbst die Prognosen einer unabhängigen wissenschaftlichen Institution wie dem IPCC, die ja durchaus zur Dringlichkeit aufrufen, sind immer noch zu optimistisch?

Breakthrough packt in ihre Kritik an den IPCC klimapolitische Forderungen, die teilweise die von Klimaaktivist°innen in den Schatten stellen. Konkret: CO₂-Neutralität bis 2030 und ein radikales Umstellen der Volkswirtschaften auf dieses Ziel.

Als Beispiel zieht Spratt die Anstrengungen von Staaten in Kriegszeiten heran. Jegliche Vergleiche und Bezüge zum zweiten Weltkrieg werden in Deutschland zurecht kritisch beäugt. Spratt geht es aber vor allem darum, aufzuzeigen, dass es möglich ist, immense Mittel zur Verfügung zu stellen, wenn der Schutz der eigenen Bevölkerung das übergeordnete Ziel ist.

So hat im Jahr 1942 die USA 31 Prozent und Großbritannien sogar 52 Prozent ihres BIPs für Verteidigungsausgaben aufgewendet. In Deutschland waren es für den Umweltschutz 2018 ganze 2,2 Prozent.

Was mich besonders stutzig macht: Wieso gibt es keine politische Diskussion darüber, was ein ethisch vertretbares Risiko ist, in Klima-Worst-Case-Szenarien reinzuschlittern? Wieso darf der IPCC quasi im Alleingang entscheiden, ohne dass es eine nennenswerte transparente oder demokratische Rücksprache gibt, ob ein Münzwurf eine akzeptable Wahrscheinlichkeit ist, um Kipppunkte zu überschreiten und 4°C Erderwärmung oder mehr zu riskieren? 

Es wäre doch zumindest ein Fall für Ethikräte. Der deutsche Ethikrat war auch in der Corona-Krise immer wieder gefragt, wenn schwerwiegende moralische Entscheidungen getroffen werden mussten wie die Impfreihenfolge.

Die ethische Angemessenheit und politische Deutung der wissenschaftlichen Erkenntnisse des IPCC sollten auf keinen Fall so unhinterfragt bleiben, wie sie es jetzt sind.

Klar, selbst die eventuell recht optimistischen CO₂-Budgets des IPCCs werden momentan noch so gut wie gar nicht berücksichtigt in der internationalen Klimapolitik. Die Frage, ob eine Korrektur der Budgets nach unten überhaupt etwas bewirken würde, ist berechtigt.

Vielleicht ist aber auch die Info, dass es jetzt schon kein Budget mehr gibt, der Weckruf, den es braucht. Außer natürlich man hat Lust auf einen Münzwurf um das Klima. Kopf oder Zahl?

Also eh alles egal? Nein, genau im Gegenteil. Sollte die Kritik zutreffend sein, war es noch nie wichtiger als jetzt, irgendwie aktiv zu werden. Wenn es keine Rest-Budgets mehr gibt, können wir und die Politik uns die nervenaufreibenden Diskussionen um die Höhe und die Verteilung ja zumindest sparen und stattdessen einfach handeln.

Um den Downer, den dieser Artikel ohne Zweifel hinter sich herzieht, etwas leichter zu machen, zwei Vorschläge:

Wie unsere Spendenaktion gelaufen ist

Wir haben in der vergangenen Woche mit unserer Spendenaktion übrigens drei Tonnen CO₂ eingespart. 1 Euro pro neu°er Leser°in war der Deal. Am Ende durften wir 75 Euro an die Klimawette schicken. Vielen Dank fürs fleißige Teilen!

Hier könnt ihr unser Interview mit Andrea Kostrowski von der Klimawette nachlesen (Opens in a new window).

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Schönes Wochenende
Julien

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Topic Forschung

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