Tannenbäume und gute Vorsätze
Von Hasnain Kazim - Magdeburg und Afghanistan / Tannenbaumkauf / Gute Vorsätze / Doppelgänger
Liebe Leserin, lieber Leser,
herzlichen Dank für die vielen Zuschriften zum Quiz in den letzten “Erbaulichen Unterredungen”. Die richtige Antwort: Es handelte sich um die Nationalhymne der Elfenbeinküste. Alle Zuschriften waren richtig, manche schrieben “Côte d’Ivoire”, was natürlich auch korrekt ist. Für die ersten drei habe ich jeweils ein Exemplar meines Buches “Deutschlandtour” auf den Weg gebracht, die Sendungen sollten demnächst in Zürich, Dülmen und Grevenbroich ankommen, die Gewinner sind informiert.
Magdeburg und Afghanistan
Die Bluttat von Magdeburg wirkt nach. Sie überschattete Weihnachten. Sie hat vielen Menschen direkt Leid und Trauer gebracht. Sie macht wütend.
Und wie zu erwarten war, riefen Leute noch am Abend der Tat aus dem eher rechten Spektrum: “Ein Muslim! Ein Islamist! Ein Ausländer! War doch klar! Zuwanderung stoppen! Grenzen dicht!”
Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Täter um einen 2006 aus Saudi-Arabien geflüchteten Typen handelte, der in Deutschland sein Studium abschloss und als Arzt arbeitete. Aus dem rechten Lager hieß es nun: “Aha, so ist das also mit den Ärzten aus dem Ausland!” Pauschal wurden die vielen, vielen Menschen aus dem Ausland, die in unserem Gesundheitswesen arbeiten, verunglimpft und mit diesem Mörder in einen Topf geworfen.
Dann stellte sich heraus, dass dieser Typ die “AfD” feiert, den Islam hasst, Elon Musk toll findet und auch sonst sehr viel Unsinn und Bösartiges von sich gegeben hat. Und schon riefen einige aus dem eher linken Spektrum: “Ein Rechtsextremist! Ein ‘AfD’-Anhänger! Rechtsextremismus ist das größte Problem in der Welt!”
Uff. Man wünscht sich manchmal, die Menschen mögen einfach nur schweigen.
Es wird aufzuarbeiten sein, warum die vielen Warnungen vor dem Typen unbeachtet blieben, wo er doch so viele Drohungen im Netz abgelassen hatte. Wieso sich so jemand radikalisierte, in welche Richtung genau - und warum so jemand überhaupt als Arzt arbeiten durfte und auf Patienten losgelassen wurde.
Terror ist in Pakistan übrigens Alltag. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass man, wenn man dort ein Restaurant oder eine Shoppingmall oder ein Hotel betritt, kontrolliert wird wie am Flughafen. Dass Militär und Polizei allgegenwärtig sind und es an jeder größeren Straßenkreuzung Soldaten hinter Sandsäcken gibt. Pistolen und Gewehre überall. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird Pakistan von Terror erschüttert. In den zurückliegenden Monaten hat es wieder zugenommen, leider.
Die Regierung macht, zu Recht, vor allem die (pakistanischen) Taliban dafür verantwortlich. Die Terroristen überziehen das Land mit Gewalt, schicken Bombenleger und Selbstmordattentäter - und ziehen sich dann im Westen des Landes in die Stammesgebiete zurück, wo der pakistanische Staat nur begrenzt Einfluss hat. Von staatlicher Souveränität kann da nicht die Rede sein. Oder sie verschwinden gleich über die Grenze, nach Afghanistan, wo sie Unterschlupf finden.
Die pakistanische Luftwaffe hat vergangene Woche deshalb Stellungen der Taliban in der afghanischen Provinz Paktika angegriffen und dabei nach eigenen Angaben Dutzende Kämpfer getötet. Nach Angaben der Taliban selbst wurden vor allem Frauen und Kinder getötet.
Meine Quellen bestätigen, je nach dem, wen ich frage, mal die eine, mal die andere Version.
Nun ist Paktika eine ziemlich dünn besiedelte, ländliche Provinz, die vor allem aus Dörfern besteht. Taliban-Kämpfer, die sich dorthin zurückziehen, leben dort sicher bei ihren oder befreundeten Familien. Es ist deshalb zu befürchten, dass bei solchen Angriffen immer auch Unbeteiligte sterben. Ich befürchte aber auch, dass solchem Terror nur auf diese Weise beizukommen ist. Denn nichts zu tun, bedeutete, dass man den Terroristen freie Hand ließe und ihr Einfluss weiter wüchse und der Terror zunähme. Pakistan hat damit in seiner Geschichte allzu oft sehr schlechte Erfahrung machen müssen.
Es ist ein Dilemma, immer, und jedes Reden und Schreiben darüber ist zynisch.
Die Taliban in Afghanistan jedenfalls, die seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan im August 2021 Frauen aus der Öffentlichkeit nahezu verbannt und ihnen die Möglichkeit zu Bildung genommen haben und die Fernsehen und Film und Fotos und Musik und Literatur und überhaupt: Kultur ablehnen, bedienten sich diese Woche der bösen, bösen westlichen Plattform “X”, ehemals “Twitter”, um allen Ernstes zu verkünden, der Angriff der pakistanischen Luftwaffe sei ein “barbarischer Akt” und eine “eindeutige Aggression, die gegen alle internationalen Grundsätze verstößt”.
Look, who’s talking!
Trotzdem wird sich irgendwo in Europa irgendjemand finden, der in Solidarität mit den ach so friedliebenden, internationale Grundsätze beachtenden und überhaupt: “antiimperialistischen” und “antikapitalistischen” Taliban demonstrieren wird.
Uff.
Oh, Tannenbaum!
Seit ich denken kann, hatten wir zu Weihnachten einen Tannenbaum. Ich bin in dem Dorf Hollern-Twielenfleth im Alten Land, in Niedersachsen, groß geworden, dort, an der Elbe, stand das Atomkraftwerk Stade. Unsere Nachbarin arbeitete dort und bekam vom Kraftwerksbetreiber jedes Jahr einen Baum geschenkt, den sie in manchen Jahren wiederum uns schenkte, weil der Baum zu groß war und sie in ihrer kleinen Wohnung kein solch großes Ding aufstellen wollte. (Und nein, der Baum strahlte nicht von selbst.) In anderen Jahren besorgten Freunde meiner Eltern einen Baum. Und manchmal wiederum kauften meine Eltern selbst einen. Es gab jedenfalls keine Tradition, dass wir Jahr für Jahr irgendwo hingingen, um selbst einen Baum zu fällen.
Seit ich in Wien lebe, kaufen wir jedes Jahr einen Baum aus dem Waldviertel, immer vom selben Bauern, dessen Familie zu Weihnachten mithilft und in der Stadt Bäume verkauft. Wie bei Familie Hoppenstedt ist unser Baum immer “grün und umweltfreundlich”. Wir kaufen ihn in der Innenstadt und transportieren ihn dann entweder zu Fuß oder mit einem Bollerwagen oder, seit zwei Jahren, mit einem Lastenfahrrad nach Hause.
Dieses Jahr postete ich in den “sozialen” Medien dieses Foto:
Es kamen, ich hatte es geahnt, Dutzende Zuschriften in den unterschiedlichen “sozialen” Medien und vor allem per E-Mail.
Manchmal, das gebe ich zu, provoziere ich gerne, und deshalb veröffentlichte ich das Bild noch einmal und schrieb dazu: “Dieses Foto, das ich gestern gepostet habe, ‘triggert’ viele: Leute, die gegen Weihnachtsbäume sind; Leute, die gegen Lastenräder sind; Leute, die gegen Hundehaltung sind ; Leute, die einen Skandal darin sehen, dass da ein Kind ohne Helm sitzt. Deshalb poste ich dieses Bild mit Vergnügen noch einmal. Einfach so.”
[Zwei nachträgliche Anmerkungen am Rande: Ich kann das oft missbrauchte Wort “triggern” nicht leiden. Und: Das Lastenrad ist eines zum Hundetransport, es steht “Babboe Dog” drauf, daher die Kommentare.]
Und siehe da, jetzt wurde das Bild auf Facebook bis heute knapp 25.000 Mal gelikt, auf X/Twitter immerhin 8500 Mal. Angezeigt wurde es auf Facebook 1,8 Millionen Mal, auf X/Twitter 386.000 Mal. Verrückt. Da sieht man mal, dass man mit Dingen, über die Leute sich aufregen, Aufmerksamkeit erzeugen, sprich: Klicks generieren kann.
Nächstes Jahr im Dezember werde ich ein Bild davon veröffentlichen, wie ich mit einem Monstrum von dieselbetriebenem SUV einen riesigen Plastiktannenbaum von “Tedi” oder “Woolworth” hole, mal sehen, was die Leute dann schreiben.
Guter Vorsatz: weniger aufregen, mehr widersprechen!
Aufmerksamkeit ist ein hohes Gut, offensichtlich mehr denn je. Dafür riskieren manche auch eine überspitzte Zeile, eine gewagte These, eine idiotische Aussage, eine sinnbefreite Aktion.
Ich habe mir für das neue Jahr vorgenommen, noch häufiger zu widersprechen, wenn ich Widerspruch für angebracht halte. Zum Beispiel, wenn jemand allen Ernstes in einem Interview behauptet, das Einfamilienhaus sei “eine sexistische Wohnform”. (Opens in a new window)
Das Gespräch ist lesenswert, und der Architekt Jan Engelke, der an der TU München lehrt, sagt interessante Dinge. Der Aussage: “Statt neu zu bauen, sollten wir uns viel mehr mit dem bestehenden Wohnraum auseinandersetzen” kann ich zum Beispiel durchaus etwas abgewinnen. Und die Feststellung, dass Einfamilienhäuser im Vergleich zu größeren Immobilien mit mehreren Wohneinheiten eher ineffizient sind, was das Verhältnis Ressourcen zur Bewohnerzahl angeht, lässt sich mathematisch untermauern.
Aber die pauschale Ablehnung, die Benennung als “sexistisch”, die Verbindung des Wohnungsbaugesetzes von 1956 mit der “Blut-und-Boden”-Ideologie der Nationalsozialisten, das Abstempeln des Einfamilienhauses als “konservativ” - inklusive des Familienbildes, das er damit verbindet -, die Verachtung des Aufgeräumten, Ordentlichen, das “Framing” [Anmerkung: noch so ein Wort, das ich nicht leiden kann…] als “privilegiert”, obwohl er selbst in einem Einfamilienhaus groß geworden ist, die Aussage, ein Leben zu zweit auf 130 Quadratmetern sei “eigentlich nicht richtig” - ich gehe da nicht mit. Auch nicht, dass man sein Eigenheim derart umgestalten sollte, dass da weitere Personen einziehen können. Um Gottes willen.
Ich merke, wie das gut Gemeinte tatsächlich oft nicht gut ist. Und wie ich innerlich die Schotten dicht mache. Wenn man etwas bewirken will, sollte man sich gut überlegen, wie man es formuliert, damit man nicht das Gegenteil bewirkt.
Wahrscheinlich werden jetzt manche sagen: ‘Aber auf diese Weise bekommt das Thema doch Aufmerksamkeit!’ und ‘Siehst du, du beachtest das Thema jetzt!’ Aber es ist wie bei den Klimaklebern von der “Letzten Generation”, die jetzt nicht mehr “Letzte Generation” heißen wollen: Sie bewirken, dass man das Thema in die falsche Schublade legt - dorthin, wo es letztlich nicht hingehört.
Merke: Aufmerksamkeit ist nicht alles. Und richtige, vernünftige Kommunikation sehr wichtig.
(Übrigens sagte mir jemand, mit dem ich über diesen Artikel sprach, ich solle doch das Abo der “Süddeutschen Zeitung” kündigen. Auch da muss ich widersprechen: Auf gar keinen Fall! Nur weil ein Medium auch Dinge veröffentlicht, die ich ganz anders sehe, heißt das doch nicht, dass ich das alles nicht mehr lesen, hören, wahrnehmen will und mich in meine Höhle zurückziehe, wo alle so reden und denken wie ich. Was wäre das für eine seltsame Vorstellung von Meinungspluralismus? Man muss ich doch andere Auffassungen anhören, darüber nachdenken, miteinander streiten!)
Doppelgänger, bitte!
Zu Weihnachten habe ich von Freunden aus Heilbronn das Buch “Sieben Doppelgänger” von Rafik Schami geschenkt bekommen. Die Freunde kennen Schami persönlich, und ihnen kam die Idee, mir genau dieses Buch zu schenken, weil ich ihnen erzählt hatte, dass ich in diesem Jahr sehr viele Lesungen in ganz Deutschland bestritten habe - und dass ich aber eine Menge Anfragen absagen beziehungsweise verschieben musste auf nächstes Jahr, weil ich gar nicht so viel auftreten kann.
Da fiel ihnen dieses Buch ein. Es ist 1999 erschienen und beschreibt einen Erzähler Rafik Schami, der einfach nicht nein sagen kann und daher eine Menge Auftritte zu absolvieren hat. Da kommt ihm irgendwann die Idee, Doppelgänger zu engagieren, die für ihn Lesungen halten können. So kann er viel mehr Auftritte machen, aber, man ahnt es, das Ganze verselbständigt sich…
Egal, ich werde mir auch Doppelgänger suchen und auf Lesereise schicken! Rafik Schami kann gleich der erste sein! Es wird einen kleinen Einführungskurs geben, welche Passagen wie zu lesen, welche Witze zu machen sind, was zu erzählen, welcher Ton zu treffen ist, und dann geht’s los! Nächstes Jahr also: 1001 Lesungen an 1001 Orten!
Alles Gute für das neue Jahr!
Wir werden die nächsten Tage, wie schon die Weihnachtszeit, dazu nutzen, Spaziergänge zu machen, zu lesen, Filme zu schauen, Gespräche zu führen.
Eine Bitte hat vor allem Frau Dr. Bohne: Verzichten Sie, wenn möglich, auf Feuerwerk und Knallerei. Man mag das alles schön finden, aber viele Lebewesen - Menschen wie Tiere - haben davor Angst, können damit überhaupt nicht umgehen und nehmen Schaden. Frau Dr. Bohne sagt: Kaufen Sie lieber Leckerlis und schenken Sie sie einem Hund, am besten: ihr. (Das geht auch durch eine Mitgliedschaft hier!)
Einen guten Start ins neue Jahr und alles Gute für 2025 wünscht Ihnen
Ihr Hasnain Kazim mit Böhnchen