Wohin mit all den Büchern?!
Von Hasnain Kazim - Quadratjahr / Pompeji / Japanische Füller / Tsundoku / Österreich
Griaß eich die Madln, servas die Buam!
Mir schrieb kürzlich jemand, die Anrede „Liebe Leserin, lieber Leser!“ sei genauso „outdated“ wie „Sehr geehrte Damen und Herren“ und ich solle doch “gefälligst genderneutral” schreiben.
Nun, für dieses Mal wähle ich daher eine andere Begrüßung, die zwar auch nicht “genderneutral” ist und daher wahrscheinlich wieder nicht genehm sein wird - aber dafür gut in meine Wahlheimat Wien passt. „Griaß eich die Madln, servas die Buam!” ist eine Grußformel, die der Wiener Schauspieler und Kabarettist Heinz Conrads geprägt hat. Conrads, der von 1913 bis 1986 gelebt hat, ist ein wenig in Vergessenheit geraten (und für viele, glaube ich, gänzlich unbekannt), aber es lohnt, sich ein wenig mit ihm zu beschäftigen (Opens in a new window), wenn man Wien ein bisschen besser kennenlernen möchte.
Schönes quadratisches Jahr!
Wahrscheinlich ist es Ihnen schon in den “sozialen” Medien begegnet oder in irgendeinem Artikel, ich möchte es dennoch erwähnen: die mathematische Besonderheit der Jahreszahl 2025. Für die meisten von uns ist dies das einzige quadratische Jahr, das wir erleben werden. Das letzte war 1936 (nämlich 44²), das nächste wird dann 2116 sein (46²).
2025 = 45²
Schöner noch:
2025 = (20 + 25)²
Und:
2025 = (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9)²
Aber auch:
2025 = 1³ + 2³ + 3³ + 4³ + 5³ + 6³ + 7³ + 8³ + 9³
Ich weiß, manche können sich für solche Dinge nicht begeistern. Ich schon.
In diesem Sinne: Ein frohes neues Jahr, alles Gute für die Wurzel aus 4.100.625!
Vulkane, Kometen, Viren, Klimawandel…
Diese Woche haben Freunde uns eingeladen, mit ihnen die Ausstellung (Opens in a new window) “Die letzten Tage von Pompeji” in der Wiener Marx-Halle zu besuchen. Es ist keine historisch-wissenschaftliche Ausstellung, eher ein Event mit Unterhaltungswert, vor allem für Kinder und Jugendliche, die die Virtual-Reality-Angebote toll finden, vom Gladiatorenkampf bis zum Vulkanausbruch. Und nebenbei lernt man etwas.
Jedenfalls habe ich mich das erste Mal seit meiner Schulzeit wieder mit Pompeji beschäftigt. Das letzte Mal war, glaube ich, im Lateinunterricht, und das war, nun ja, so mittelspannend. Jetzt erinnerte ich mich wieder daran, dass es sich bei Pompeji um eine Stadt handelt, die im Jahr 79 n. Chr. in Folge des Ausbruchs des Vesuvs komplett unter Asche begraben wurde, deshalb aber weitgehend konserviert blieb. Und dass Menschen unter dieser heißen Asche erstarrten und man Jahrhunderte später Hohlräume ausmachte, diese mit Gips ausgoss und so die Bewohner samt Details wie ihrer Kleidung und ihrem Schmuck rekonstruieren konnte. Man erkennt, dass viele von der Katastrophe überrascht wurden. Waren sie nicht vorgewarnt? Ahnten sie, was ihnen drohte? War ihnen die Gefahr eines Vulkanausbruchs überhaupt bewusst?
Da drängt sich die Frage auf, wie heute mit solch einer Situation umgegangen werden würde. Ich ahne es: Rechtspopulisten würden erstarken, sie würden irgendwelche Sündenböcke suchen; es gäbe Fortschrittsgläubige, die “Technologieoffenheit” fordern und vielleicht die Idee, den Vulkan mit Beton oder was weiß ich zuzukippen, vorschlagen würden; Aktivisten würden vor der Gefahr warnen und zum Teil völlig kontraproduktive Aktionen starten wie sich am Fuße des Vulkanbergs festzukleben, die das Gegenteil bewirken würden, nämlich dass die Menschen sich nicht in Sicherheit bringen; religiöse Fanatiker würden auffordern, einfach mehr zu beten, und das Ganze als “Strafe Gottes” sehen; viele würden die Gefahr einfach verdrängen und so tun, als gebe es sie gar nicht oder sei nicht so groß, “uns wird’s schon nicht treffen”; und so weiter und so fort.
Ich habe einige Jahre in Istanbul gelebt, eine Metropole mit etwa 16 Millionen Einwohnern. Diese Stadt ist stark von Erdbeben bedroht. Ich erinnere mich, dass das Thema “Erdbebensicherheit” ein großes war, insbesondere wenn man nach einer Wohnung suchte. Das Gebäude, in dem sich unsere Wohnung befand, hatte keine derlei technischen Vorkehrungen, es war ein mehr als 100 Jahre altes Haus, das aber, immerhin, schon einige Erdbeben überstanden hatte. Eigentlich müsste man konsequenterweise aus Istanbul wegziehen und die Stadt woanders hinbauen. Das wäre aber natürlich eine irrsinnige Forderung. Also versucht man, die neuen Häuser so zu bauen, dass sie sicherer sind. Und verdrängt das Thema ansonsten aus dem Kopf.
Wie es mit einer drohenden Katastrophe laufen kann und wer alles Kapital daraus schlägt, auch politisches, kann man in dem Film “Don’t Look Up” aus dem Jahr 2021 sehen. Da ist ein Komet auf Kollisionskurs mit der Erde, und unter anderem eine US-Präsidentin versucht, die Welt (oder vielmehr: ihre politische Karriere) zu retten. Eine sehenswerte Komödie und eine Empfehlung, falls Sie sie noch nicht gesehen haben.
Wie schwierig es mit drohenden Gefahren ist und wie sehr oder wie wenig Menschen in der Lage sind, rationale, kluge, aber auch für alle oder möglichst viele sinnvolle Entscheidungen zu treffen, haben wir während der Pandemie ab 2020 gesehen und sehen es immer noch im Umgang mit dem Klimawandel. Die einen sagen dies, die anderen sagen das, wieder andere verdrängen alles.
Hoffen wir, dass wir nicht als Ausstellung enden.
Mein verspätet eingetroffenes Weihnachtsgeschenk
Ich könnte über Politisches schreiben, über Annalena Baerbocks Besuch in Damaskus und diesem Typen, der ihr nicht die Hand gab, über Thilo Mischke und warum dieser Journalist nun doch nicht die ARD-Sendung “ttt - Titel, Thesen, Temperamente” moderieren wird, über Elon Musk und seine Liebe zu Rechtsextremisten, darüber, dass die Taliban in Afghanistan nun erlassen haben, dass Frauen von draußen nicht durch ein Fenster gesehen werden dürfen, sie sich also im eigenen Haus nicht in der Nähe eines Fensters aufhalten dürfen, aber das ist alles so unerfreulich und ich habe keine Lust, also lieber etwas Schönes:
Am Freitag ist verspätet - beziehungsweise: rechtzeitig zum christlich-orthodoxen Weihnachtsfest - ein Weihnachtsgeschenk bei mir eingetroffen. Meine Mutter und die Schwiegereltern haben zusammengelegt, und so konnte ich mir zwei Füllfederhalter kaufen: zwei Stifte des japanischen Herstellers Wancher. Der eine ist ein sechskantiger Füller aus Holz, die Kappe verschließt mit einem Magnetverschluss, die Feder ist mittelbreit. Der andere ist ein Stift aus Ebonit, mit breiter Feder, eine klassische Zigarre. Beide kamen jeweils in einem Holzkistchen, sehr schön gearbeitet, mit Liebe zum Detail.
Wancher ist ein relativ junges Unternehmen, gegründet von Okagaki Taizo, der der Legende nach 1990 bei einer Expedition zur Begrünung von Wüsten in Ägypten unzufrieden war mit einem Füller und daraufhin beschloss, selbst bessere Füller herzustellen. Ob das so stimmt, nun ja… Jedenfalls begann er zunächst, Schreibwaren anderer Hersteller zu verkaufen, bevor er ab 2011 selbst Füller herstellte.
Japan ist ein riesiger Markt für Schreibwaren, weil man bis in die Achtzigerjahre selbst Geschäftsbriefe und offizielle Dokumente von Hand verfasste. Schreibmaschinen waren wegen der Schriftzeichen nicht so üblich wie in Europa und Amerika. Erst mit der Einführung des Computers in den Büroalltag änderte sich das. Die Schreibwarentradition ist geblieben. Auch wegen der Kalligrafie. Die drei Riesen sind Pilot, Platinum und Sailor, daneben gibt es Tausende weitere Hersteller bis hin zu kleinen Werkstätten mit erfahrenen Federmachermeistern. Und dann: diese Papiere, diese Tinten!
Der deutsche Stiftegigant Lamy ist 2024 übrigens auch von einem japanischen Schreibwarenriesen übernommen worden, von der Mitsubishi Pencil Company.
Ich war noch nie in Japan, aber schon wegen der Schreibwarenhäuser möchte ich mal hin.
Der Verwandtschaft herzlichen Dank für das schöne Geschenk!
Bücherstapel, Bücherstapel!
Wo ich schon bei Japan bin: Es gibt wirklich viele sehr schöne japanische Wörter. Nicht, dass ich Japanisch kann, aber das eine oder andere Wort habe ich gelesen und mir gemerkt. Solche, die man kaum ins Deutsche übersetzen kann.
Wie “kuchisabishii”, was in etwa bedeutet: “Eigentlich keinen Hunger haben, aber trotzdem essen, weil der Mund sonst einsam wäre”. Wunderbar!
Oder “komorebi”. So nennt man das Sonnenlicht, das durch Bäume fällt.
“Furusato” ist das besondere japanische Wort für Heimat, aber es geht nicht um den Ort, aus dem man stammt, sondern jenen Ort, nach dem sich das Herz sehnt. Wahlheimat vielleicht? Es kann sich aber auch um einen Menschen oder ein heimatliches Essen oder eine Landschaft handeln. Ich verstehe genau, was gemeint ist, nur gibt es, glaube ich, keine vollständig zustreffende Übersetzung für “furusato”.
Ich selbst leide unter “tsundoku”. Das ist mir diese Woche wieder einmal bewusst geworden, weil ich in den ruhigen Tagen um den Jahreswechsel angefangen habe, mein Büro aufzuräumen. Angefangen sage ich, weil ich noch lange nicht fertig bin. Es wird wohl noch eine Weile dauern. “Tsundoku” ist das japanische Wort dafür, wenn man mehr Bücher kauft als man lesen kann - und die Bücher sich dann ungelesen stapeln, man aber dennoch weiterhin Bücher kauft. Es setzt sich, lerne ich, aus den Wörtern für “stapeln” und “lesen” zusammen. Schön, oder? Buchhändlerinnen freuen sich jedenfalls über Menschen, die “tsundoku” haben.
Weniger schön ist, dass es dann mit den Stapeln irgendwann so wird, dass man sich einen Weg durchs Büro bahnen muss. Ich bekomme auch viele Bücher geschenkt, worüber ich mich sehr freue, ich wünsche sie mir ja, aber es führt dann eben kein Weg daran vorbei, dass man hin und wieder aussortieren muss.
Ich kann keine Bücher wegwerfen, grundsätzlich nicht. Also verkaufe ich sie, verschenke sie oder bringe sie zu offenen Bücherschränken, wo andere sie sich nehmen und lesen können. Das freut Buchhändlerinnen vielleicht weniger, aber wie gesagt: Ins Altpapier gebe ich da nix! Ich habe in einigen Städten schon alte Telefonzellen gesehen, einfache Bücherkisten oder auch normale Regale, in die Menschen ihre Bücher stellen können. In Wien gibt es offene Bücherregale in nahezu allen Stadtteilen.
Also habe ich in den vergangenen Tagen kistenweise Bücher in offene Bücherregale gestellt. Ich bin fasziniert, wie schnell die Sachen dann weg sind. Vor einiger Zeit hatte ich mal sehr viele Bücher über das pakistanische Atombombenprogramm, also Fachliteratur über die südasiatische Nuklearpolitik dort reingestellt. Ich besaß sehr, sehr viel dazu, aus beruflichen Gründen. Da ich aber nicht mehr aus Südasien und über das Thema berichte und die Bücher zudem etwas veraltet waren, habe ich sie ins offene Bücherregal gestellt. Und kein Witz: Sie waren innerhalb einer Stunde alle weg! Alle! Vielleicht hat der österreichische Geheimdienst sie genommen und sich gewundert. Vielleicht haben sich lokale Extremisten bedient. Vielleicht aber auch irgendein Politikstudent, der sich gefreut hat, dass er jetzt Material hat für die nächste Seminararbeit. Was weiß ich?
Es fühlt sich jedenfalls befreiend an, Zeug loszuwerden. Natürlich habe ich vor ein paar Jahren das Aufräumbuch von Marie Kondo gelesen, wieder eine Japanerin!, “Magic Cleaning. Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert”, ich fand es gut, aber leider hat es meine Aufräummotivation nicht nachhaltig verändert.
Im offenen Bücherschrank habe ich, als ich meine Bücher dort hineinstapelte, ein tolles Buch entdeckt: “Die Gedanken sind frei. Meine Kindheit im Elsaß”, von Tomi Ungerer. Das werde ich jetzt lesen, bevor ich weiter aufräume. Zum Glück ist hier der 6. Jänner ein Feiertag.
Ach, Österreich!
Jetzt doch was Politisches, ganz kurz. Im September 2024 hat Österreich gewählt, seit einer gefühlten Ewigkeit liefen Koalitionsverhandlungen zwischen der bürgerlich-konservativen ÖVP, der sozialdemokratischen SPÖ und den liberalen Neos. Die Neos sind zuerst aus den Verhandlungen ausgestiegen. Am Samstag kündigte dann der bisherige Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP an, die Gespräche mit der SPÖ zu beenden. ÖVP und SPÖ hätten theoretisch auch ohne die Neos regieren können, mit der denkbar knappsten Mehrheit. Nehammer sagte, er werde sich als Kanzler und als Parteichef zurückziehen. Nun wird ein neuer ÖVP-Obmann kommen und möglicherweise mit der rechtspopulistischen bis rechtsextremen FPÖ regieren. Oder die FPÖ, die ohnehin stärkste Kraft ist, mit einem Juniorpartner ÖVP. Und wer wird’s machen in der ÖVP? Wieder Sebastian Kurz, der, wie viele sagen, bereit steht und ja schon mal mit der FPÖ regiert hat?
Als ich am Samstagabend schrieb, ich fände es Wahnsinn, dass die FPÖ wieder regieren dürfe, antworteten manche in den “sozialen” Medien, ich hätte wohl “ein Problem mit der Demokratie”, und was sei schon “Wahnsinn daran, dass die stärkste Partei den Kanzler stellt?”
Nein, ich habe mitnichten ein Problem mit der Demokratie. Ich finde aber Wahnsinn, dass eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei, die zudem noch den Ibiza-Skandal hinter sich hat, überhaupt stärkste Kraft werden konnte. Und, sollte es Neuwahlen geben, vermutlich noch weiter gestärkt wird.
Das hat natürlich auch mit den schlecht bewerteten Leistungen der anderen Parteien zu tun. Vielleicht müssten die mal was, nun ja, anders und besser machen? Und was den Ibiza-Skandal angeht, so haben den die meisten Menschen nicht vergessen, sondern, das ist jedenfalls mein Eindruck nach vielen Gesprächen, finden den gar nicht so schlimm.
Es ist alles so trübselig. Nicht nur in Österreich.
Frau Dr. Bohne und ich wünschen Ihnen einen geruhsamen Sonntag und eine schöne Woche!
Ihr Hasnain Kazim
P. S.: Allen orthodoxen Christen: Fröhliche Weihnachten!
P. P. S.: Dies ist die fünfte Ausgabe der “Erbaulichen Unterredungen”. Inzwischen lesen sie etwa 700 Menschen. Das freut mich. Um sie weiter schreiben zu können, müssten es mehr Abonnenten und mehr zahlende Mitglieder werden. Ich bitte Sie, den Newsletter weiterzuempfehlen und eine Mitgliedschaft zu erwägen. All denen, die schon abonnieren und unterstützen: vielen herzlichen Dank!