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Die große Illusion

Sommer des Bullshits/Mobland/Ginsterburg/Blanquette mit Gemüse

Die Entzweiung von Musk und Trump war zu erwarten wie der Schnupfen nach der Buchmesse. Nun zieht dieser öde Konflikt zweier Männer, mit denen man privat nichts zu tun haben möchte, die ganze Öffentlichkeit der Welt und 24/7 in ihren Bann, es ist zum Abschalten. Mich erinnert es an den alten Super 8 Film meiner Kindheit, Import aus Japan, in dem Godzilla gegen King Kong kämpft. Es wurde schnell langweilig, weil beide Viecher mir gleichermaßen egal waren.

Als Zeitgenosse finde ich es eine Zumutung, dass so ein Standard- Termin wie der Besuch des deutschen Bundeskanzlers im Oval Office mit der wirren und ewig gleichen Lügengeräuschkulisse einhergeht, mit der Donald Trump sein Publikum behelligt. In jeder anderen sozialen Situation würde man einfach aufstehen oder umschalten, aber vor Trumps Dauerwerbesendung gibt es kein Entrinnen. Die Hoffnung ruht ganz in der Dialektik: Medien und Politik gehen in Trump eine totale und hoffentlich finale Synthese ein. Bald kann kein Mensch ihn mehr sehen und hören.

Die grundsätzliche Frage bleibt: Warum sind wir, genau 448 Jahre nachdem Étienne de la Boëtie seinen Text Contr’un - wider die freiwillige Knechtschaft (Opens in a new window)geschrieben hat, immer noch nicht weiter und übertragen einem einzigen Mann derart viel Macht? Das Modell scheint sogar wieder im Kommen zu sein: Auch in Russland, China und Indien turnt ein Mann oben im Zirkuszelt und alle anderen gucken zu.

Warum sehen wir dorthin, wo so einer unseren Blick haben möchte – wie der Kindergeburtstag einem Zauberkünstler folgt?

Trumps Landeanflug hat endlich begonnen. Musk und andere werden seine Tricks verraten, in den Midterms verliert er viel von seiner Macht und bald schon wird sich wieder die ganze Welt fragen, wie man auf so einen reinfallen konnte.

Dabei gibt es schon jetzt genug andere Fragen: Wie kann Europa eine Zuwanderungspolitik gestalten, die ein Vorbild für die ganze Welt wäre? Welche emotionalen und narrativen Elemente braucht eine liberale und ökologisch verantwortungsvolle Politik? Wie kann exekutive Gewalt verfassungsmäßig so organisiert werden, dass die möglichst herrschaftsfreie Kommunikation, die schon in Familien und am Arbeitsplatz beherzigt wird, endlich auch in der Politik und der Berichterstattung darüber ankommt? Wie können Medien sich so organisieren, dass die Relevanz eines Themas entscheidet und nicht allein und dauernd die Person. Wir waren da übrigens schon mal weiter.

Die Folgen des Klimawandels werden uns erneut den ganzen Sommer beschäftigen (Deckenventilatoren, grüne Papageien und irre Morgenhitze – nicht im Vietnam von Apocalypse now (Opens in a new window) , sondern in Hessen) – lesen und bereden werden wir aber den täglichen Bullshit aus Washington.

In dieser Gesamtschau schlägt sich Europa nicht schlecht: Weder Macron noch Merz oder von der Leyen neigen zum Personenkult. Die politische Bühne wird nicht von Milliardären und Millionären allein bevölkert. Die checks und balances halten, Religion ist Privatsache und wer krank wird, ist nicht gleichzeitig auch ruiniert. Wer lügt und hetzt, erfährt Widerspruch. Wer vorgibt, seine Politik von Gott persönlich zu beziehen, bekommt den Rat, seine Seele ärztlich untersuchen zu lassen.

Europa ist nicht perfekt. Aber es könnte schlimmer sein.

Man hat sich daran gewöhnt, die britische Gentry als leicht schrullige, aber faire, liberale und irgendwie liebenswerte soziale Gruppe zu sehen. Zahllose Filme und Serien schufen ein - bei allen kleinen Problemen - eher ansprechendes Image des englischen Landadels. Die brutale Realität des Empires und Episoden wie der Opiumkrieg im 19. Jahrhundert - als England China zwingen wollte, weiter Drogen zu kaufen - finden in Downton Abbey und Co aber keine Erwähnung.

Daher ist die Guy Ritchie Serie Mobland eine gute Ergänzung des Gesamtbildes. Hier handeln die ehrbaren Kaufleute von ihrem Landsitz aus mit Heroin und Fentanyl, bedienen sich, wie die historischen Vorbilder, ruchloser Gewalt und sind doch ganz und gar unsere Zeitgenossen. Mit Helen Mirren, Pierce Brosnan und Alex Jennings super besetzt und erfrischend makaber.

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Leider müssen wir uns bei jeder Wahl wieder mit der extremen Rechten beschäftigen. Ein Problem dabei ist, dass sich die Warnung vor den Folgen solch einer Politik abnutzt. Wenn man immer nur mit den Verbrechen der vierziger Jahre kommt, bleiben die subtilen Anfänge und Entwicklungen faschistischer Herrschaft im Dunkeln. Daher ist Arno Franks Ginsterburg so ein wichtiges Buch. In diesem Roman schildert er den Weg in die Katastrophe in Abschnitten von 5 Jahren, von 1935 bis zum Ende des Kriegs.

Frank, der aus Kaiserslautern stammt, beschreibt die Nazizeit in einer nach konkretem Beispiel gestalteten, aber fiktiven westdeutschen Kleinstadt – also nicht aus der Perspektive der Obernazis und nicht aus jener des Widerstands. Juden gibt es hier keine mehr, aber verachtet werden sie dennoch. Frank verzichtet auf sentimentale oder allzu moralische Passagen, bleibt ganz in der multiperspektivischen Schilderung des langsamen Abgleitens in eine Herrschaft der Gewalt. Damit ist ihm ein Roman gelungen, der seiner Leserschaft nicht rasch versichert, auf der guten Seite zu stehen, sie vielmehr in alltäglicher Ambivalenz hält und so mit der Erkenntnis konfrontiert, dass viele Nazis eben nicht als Nazis begonnen haben. Übrigens werden in diesem Roman auch jene Strategien offenbar, mit denen Rechtsradikale ihre Anhängerinnen und Anhänger gewinnen und welche Art von Geschichten ihre Wirkung entfalten. (Es ist damals wie heute: die anderen Parteien haben erst gar keine.)

Man kann Ginsterburg allerdings auch ohne aktuelle politische Bezüge lesen und in diese vergangene Kultur der westdeutschen Provinz eintauchen, wie in eine faszinierende, epische Expedition. Wenn man in diesem Sommer nur einen Roman lesen kann, sollte man zu diesem wichtigen Werk greifen.

Viele Journalisten wandeln mit den Jahren ihre berufliche Tätigkeit, wechseln den Verlag oder erweitern ihre medialen Angebote. Mir geht es nicht anders: Neben meiner Tätigkeit für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung mache ich beim Wondery-Podcast Was bisher geschah mit, schreibe Bücher und diesen Newsletter. Die Kollegin Géraldine Meignan entschied sich nach einer der vielen Umstrukturierungsmaßnahmen des Magazins L’Express dafür, Köchin zu werden. Ihre Erfahrungen veröffentlichte sie nun in einer Graphic Novel (Opens in a new window). Weiterhin kocht sie für Flüchtlinge, wo es dieses Rezept ihres Großvaters gibt, das Fleisch hat sie allerdings durch Gemüse ersetzt.

https://www.lemonde.fr/les-recettes-du-monde/article/2025/06/04/blanquette-vegetale-et-antigaspi-la-recette-de-geraldine-meignan_6610490_5324493.html (Opens in a new window)

Eine saisonale, karnivore Alternative hier von Nigel Slater:

https://www.theguardian.com/food/2019/apr/28/nigel-slater-recipes-asparagus-spring-lamb-salmon (Opens in a new window)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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