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Was der Kanzler kann

Die resiliente Gesellschaft/Ungerers Memoiren/Serie East Side/ Gysi und Rach/Kochen und Erinnerung

Nur noch zwei Wochen, dann endet die im November begonnene Übergangszeit der geschäftsführenden Bundesregierung. Das Ende der Ampel fiel zusammen mit dem Wahlsieg von Trump, eine neue Weltordnung entstand. Die beiden großen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs unterstützen heute rechtsradikale Parteien in Europa und agieren als Gegner der offenen Gesellschaft. Ihr gemeinsames Feindbild ist dabei die Europäische Union, denn es handelt sich um ein liberales, regelbasiertes und supranationales Konstrukt, in dem viele das Sagen haben und nicht einer allein.

Was aber fehlt ist die Bereitschaft, diese Errungenschaften, also Europa und die Freiheit, auch zu verteidigen. Das bezieht sich nicht allein auf die militärische Dimension dieser Frage, die hoffentlich nie relevant wird. (Aber genau darum muss man auch abschrecken können.) Eine Wehrhaftigkeit hat auch zivile Elemente und erfordert einen entsprechenden Diskurs, eine Veränderung der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Ein zentrales Problem ist die so rasch anwachsende finanzielle Ungleichheit: Immer weniger Menschen sammeln immer mehr Vermögen. Resiliente Gesellschaften achten dagegen auf eine faire Verteilung der Güter, zumindest in Form öffentlicher Investitionen. Die Grundschule, in die ich eingeschult wurde, hatte ein schuleigenes Hallenbad. Das war im Dudweiler der siebziger Jahre, nicht in Dubai oder im Silicon Valley. Arme Stadt, arme Menschen – aber dahin ging das Geld. Heute würde man für so einen Vorschlag glockenhell ausgelacht – zugleich muss die DLRG Plakataktionen durchführen, weil zu viele Kinder ertrinken und nicht mehr schwimmen können.

Dem liegt auch eine philosophische Problematik zugrunde: Privates Vermögen trumpft öffentlichen Reichtum. Reich sein ist gut, Steuern sind schlecht. Wer sein Traumhaus besitzt, lebt das gute Leben und hat alles richtig gemacht – bloß dass, so meine Erfahrung, meistens ein Alp- davor gehört, denn Besitz und Geld belasten die Seele. Zuwenig logischerweise auch, die Mitte macht’s.

Ich wurde in den letzten Wochen sogar von Freunden gefragt, ob es mich nicht frustriert, dass ich mit fast sechzig nicht superreich bin. Ein anderer fragte, als ich von meinem aktuellen Buchprojekt, einem Krimi, erzählte, ob ich damit Millionär werden möchte. Ich mag Geld, verdiene gerne viel. Aber noch lieber bewege ich mich ohne Personenschutz, wohne nicht in einer gated community und denke null Minuten pro Tag an Aktien.

Eine resiliente Gesellschaft kennt noch andere Werte außer Geld, aber das funktioniert nur, wenn sich nicht so viele Menschen darum sorgen müssen. Die rechten Parteien erzielen dort ihre Erfolge, wo Menschen zu wenig haben. Das ist natürlich nicht der einzige Grund, die zu wählen und die AfD oder die RN in Frankreich werden nichts tun, damit es gerechter zugeht. Doch auch diese Konfrontation der extremen Rechten mit ihrer Wahrheit findet mir viel zu zaghaft statt. Am schlimmsten ist die Anbierung an deren Themen, die Verwechslung der von rechts propagierten Ideen mit echten Problemen. Dabei fallen alle Hemmungen: Mittlerweile dürfen auch konservative Medien alle Menschen aus Afghanistan als Bedrohung, Last und Gefahr framen. Geht ja auch gefahrlos, afghanische MigrantInnen haben hierzulande nicht die geringste Lobby, sitzen nie in Talkshows – man kann alles über sie behaupten. Ich empfehle einen Besuch im Frankfurt Protoytpe (Opens in a new window), bei der Galerie exilierter Künstlerinnen und Künstler aus Kabul – da lernt man was über Mut, Freiheit und Werte. Der Satz von Peter Struck, dass die Freiheit der Bundesrepublik auch am Hindukusch verteidigt wird, ist vergessen. Dabei begründete er eine wichtige Partnerschaft, die uns heute verpflichtet. Im übrigen kann jedes Land froh sein um Menschen, die dort hinziehen möchten. Der berühmte Wettbewerb der Systeme wird auch in der Migrationsfrage entschieden: Wer erweist sich als anziehender?

Viele oder wenige Migranten, dass ist der extremen Rechten völlig egal. Sie wollen die Spielregeln ändern und Chaos stiften. Käme niemand mehr, würden sie die nächste Menschengruppe zum Feind erklären, Hauptsache Hass.

Darum ist es fatal, die AfD als normalen Player im politischen Spiel zu behandeln. Ihr Medium ist die Lüge, darum hat es keinen Sinn, einen Dialog zu versuchen: Ihre wahre Agenda werden sie nicht preisgeben. Statt sich an ihnen abzuarbeiten, bringt es viel mehr, die Bedingungen für politisches Engagement (Opens in a new window)zu verbessern und die Resilienz der Gesellschaft zu fördern.

Der Kanzler kann das nicht allein.

Eines der besten Erinnerungsbücher an die Zeit der NS-Herrschaft und des Weltkriegs hat Tomi Ungerer geschrieben. Ich bin mit seinen Lieder- und Märchenbüchern aufgewachsen und unsere Kinder haben sie auch gelesen. Ungerers Zeichnungen und sein schwarzer Humor vermitteln immer auch etwas von der Unheimlichkeit der Welt, muten dem jungen Publikum etwas zu.

Ungerer war der personifizierte Freigeist und so sind auch seine Memoiren: Mit Lust reproduziert er seine jugendlichen Zeichnungen von Soldaten und die gesammelten Hitlerbildchen. Dabei gelingt ihm auch eine berührende Familiengeschichte und ein Portrait seiner Heimatregion, das Elsass: Eine der kompliziertesten Regionen Europas. Auch die Beschreibungen seiner Mutter sind besonders gelungen, wie aus einem Roman. Wenn man sich fragt, was gerade junge Männer an den Nazis anziehend fanden, wird man hier einige Antworten finden. Das Buch ist schon vor einigen Jahren auf den Markt gekommen, nun aber folgt die erweiterte Ausgabe zum 80. Jahrestag des Kriegsendes.

Mehr durch Zufall bin ich auf die israelische Serie East Side gestoßen. Mittlerweile sind viele neue Produktionen derart berechenbar und vermutlich per KI auf Publikumswirksamkeit optimiert, dass ich in neun von zehn Fällen nach wenigen Sekunden wieder aufgebe. Paradise beispielsweise: ganz normaler Dad ist in Wahrheit der Personenschützer des Präsidenten und rettet die Welt, weil sein Chef leider tot ist - oder war es umgekehrt, der Präsident schmiert heimlich die Schulbrote für Kinder der Nachbarschaft, während ein Ufo landet?

East Side verfolgt einen anderen Ansatz und schrumpft den Nahostkonflikt, den ewigen Zank um Jerusalem auf eine verständliche Dimension: Immobilien.

https://www.arte.tv/de/videos/117009-001-A/east-side-1-10/ (Opens in a new window)

Der Protagonist Momi ist eine Art Makler, allerdings mit guten Kontakten zum Geheimdienst. Er hat mit palästinensischen Familien zu tun und der griechisch-orthodoxen Kirche, die sich alle als ziemlich problematische Zeitgenossen herausstellen. Der übelste Typ aber – verlogen, brutal und gierig – ist Momi selbst. Niemand rechnet so mit den Ruchlosen und Fanatikern im eigenen Land ab wie israelische Produktionen. Auch formal bleibt East Side spannend: Manche Folgen sind regelrechte Exkursionen zu Nebensträngen. Eine wichtige Rolle spielt auch Maja, die autistische Tochter des Maklers, die ungewohnt klischeefrei geschildert wird. Hier, in seiner Vaterrolle, zeigt sich Momi von einer halbwegs humanen Seite. Aber sonst…naja.

Immer wieder zitiere ich den einstigen RTL-Restauranttester und Küchenphilosophen, meinen Landsmann Christian Rach. Leider hat er kein regelmäßiges Fernsehformat mehr, wo er Leute besucht und Betriebe rettet, man konnte sehr viel lernen. Aber nun war er Gast im Gregor Gysi Format und es ist ein wahres Vergnügen. Man erfährt unter anderem, dass Rachs Urgroßmutter für Charles de Gaulle kochen durfte!!

https://www.youtube.com/watch?v=YylKAbp97tg (Opens in a new window)

Essen hat viel mit Erinnerungen und Familiengeschichten zu tun. Ich freue mich immer, wenn ich Mails bekomme, in denen Leserinnen und Leser mir Geschichten zu Rezepten schreiben. Der große Jean-Georges Vongerichten erinnert sich hier an ein mütterliches Huhn-Rezept. In New York ist er einer der bekanntesten Franzosendarsteller, in Frankreich wird er selbstverständlich völlig ignoriert.

https://www.youtube.com/watch?v=A83Y-JtQZuM (Opens in a new window)

Und ganz ähnlich familiär verbandelt ist das Kochen bei Zora Klipp, sie kocht mit und für ihre Schwester Ronja, die Vegetarierin ist: eine bunte Vorspeisenplatte, die schon den Frühling begrüßt.

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL25kci5kZS9wcm9wbGFuXzE5NjMxNjY3M19nYW56ZVNlbmR1bmc (Opens in a new window)

Kopf hoch

ihr

Nils Minkmar

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