“Es musste etwas besser werden” - zu dem Interviewband von Stefan Müller-Doohm und Roman Yos mit Jürgen Habermas
International erstrahlt der Ruhm von Jürgen Habermas hell - nach Ausstrahlung meiner Dokumentation "Habermas - Philosoph und Europäer" (ZDF/ARTE) erhielt ich Mails von den Philippinen. Dem jungen Wissenschaftler in Manila ging um Habermas Ansätze zur Aufarbeitung von Diktaturen - er wollte wissen, ob es die Doku auf englisch gäbe. Die iranische Opposition der Zehnerjahre vermochte Habermas ebenso zu inspirieren; oft gilt er jedoch auch als Statthalter einer exklusiv westlichen Rationalität und Relikt aus dem letzten Jahrhundert angesichts einer neuen, multipolaren Welt.
HABERMAS ALS DISKURS-PHANTOM
Bei den Gesprächen rund um die Dreharbeiten behaupteten ihn manche als "Philosophen der alten Bundesrepublik". So richtig anknüpfen an ihn mochte kaum jemand, bei aller Ehrfurcht und Freude daran, Habermas' Theoreme zu erklären - außer Gérard Raulet, Carolin Emcke, und, ganz anders, Joschka Fischer und der Bundespräsident. Bei den jüngeren französischen Interviewpartner*innen kursierte das Gerücht, er habe sich massiv gegen die Ergebnisse des dortigen Referendums zur EU-Verfassung gewendet. Aus dem jüngst erschienenen Habermas-Buch von Philipp Felsch (Opens in a new window) erfährt man nur am Rande etwas über Habermas' Philosophie - stattdessen einiges über eine publizistisch wirkungsmächtige Persönlichkeit.
In Kreisen Kritischer Theoretiker*innen gilt er oft er als der ewige Verräter am Erbe Horkheimers und Adornos sowie eines an Marx orientierten Materialismus. Seine Interventionen, sei es zum "Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" durch soziale Medien oder die Mitunterzeichnung eines mutmaßlich gar nicht von ihm verfassten Plädoyers zur Lage in Israel oder auch zum russischen Überfall auf die Ukraine rufen schroffe Reaktionen hervor. Selten jedoch werden sie vor dem Hintergrund seiner Theoriebildung gelesen - eher als Statements eines öffentlich Intellektuellen. Tatsächlich entstand so auch das Dokumentationsprojekt für ARTE: der Mann sei ja so berühmt, aber was habe er eigentlich gedacht, gesagt, geschrieben? So kam es zum Anruf der Redaktion bei mir.
Tatsächlich irrlichtern - zuletzt zum Beispiel bei Jens Balzer (Opens in a new window) - allerlei schiefe Theoriefragmente durch mediale Welten. Zumeist handelt es sich um trivialisierende Lesarten der "Diskursethik", also Annahmen zum "herrschaftsfreien Diskurs" oder Witze über die "ideale Sprechsituation", die Habermas angeblich als reale gefordert oder empirisch behauptet habe. Ausgerechnet Ulf Poschardt warf neulich bei Twitter die These von der "Refeudalisierung der Öffentlichkeit" in die Runde, eines der Theoreme aus Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit". Er meinte damit eine angeblich machtvoll wirkende Meinungsführerschaft des "linksgrünen Elfenbeinturms"; Refeudalisierung, das ist jedoch in Wirklichkeit ein Projekt, das von Libertären, z.B. Elon Musk, Javier Milei und anderen, tatsächlich gerade betrieben wird. Also jenen, denen man bei Springer immer mal zujubelt. Sie streben Formen einer neuen Ständegesellschaft an, dabei Theoremen von Hans-Herrmann Hoppe (Opens in a new window)implizit oder explizit folgend: Unternehmer sollten die Position des Adels einnehmen und die Politik bestimmen. Am liebsten entzögen sie, aus der AfD wurde das offen gefordert, Empfänger*innen von staatlichen Transferleistungen das Wahlrecht (meines Wissens war das auch im Wilhelminismus so) und ein kulturalistisch-rassistischer Nationalismus solle an die Stelle einer an Menschenrechten orientierten Politik treten.
WAS SIND DIE THEMEN IN HABERMAS WERK?
Das sind genau die Positionen, gegen die Jürgen Habermas ein Leben lang angekämpft hat. Zunächst angesichts einer noch ständisch organisierten Universität, die nur 5% jedes Jahrgangs Zugang gewährte und Frauen allenfalls ganz am Rande. Mein Vater, aus einer Eisenbahnerfamilie stammend und 2 Jahre älter als Habermas, konnte nur Jura studieren, weil er im 2. Weltkrieg kurz vor Schluss als Teil des "Volkssturms (Opens in a new window)" mit 17 ein "Bein verlor". So sagte man das, als wäre es kurioserweise abgefallen und im westfälischen Gebüsch nicht wieder gefunden worden. So erhielt er eine Kriegsversehrtenrente, von der er studieren konnte und dürfte sich ungefähr zeitgleich mit Habermas durch Göttingen bewegt haben.
Der studierte dort ebenfalls kurz; ihm war der Norden zu kalt und schroff. Er setzte anschließend erst als Adornos Assistent in Frankfurt, anschließend als Professor in Heidelberg durch seine Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit" maßgebliche Impulse für die Studentenbewegung, vor allem deren Kritik an Springer, diskutierte anschließend in den 70er Jahren bis heute zutreffend "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus". Habermas formulierte mit der "Theorie des Kommunikativen Handelns" die Theorie zu den "Neuen Sozialen Bewegungen", also Öko- und Anti-AKW-, Frauenbewegung, Antirassismus und auch Schwulenbewegung, ohne sich dabei in Queer Studies, Frantz Fanon oder Simone de Beauvoir zu vertiefen - was ihm zu recht vorgeworfen wurde. Dennoch: die Dynamiken, die darin beschrieben werden, zivilgesellschaftliches Engagement gegen administrative und ökonomische Macht, lassen sich in ihrer Dynamik gut mit diesem Werk verstehen. Dieser Bezug wird dennoch zu häufig übersehen.
Einige der Interviewpartner für die Doku-Produktion, vor allem die mit Axel Honneth, Micha Brumlik und Joschka Fischer, berichteten davon, wie ein Gesprächskreis in einem griechischen Restaurant rund um Habermas die erste rot-grüne Koalition in Hessen vorbereitete. Das befand sich in Frankfurt und hieß "Dionysos", ein ironischerweise nietzscheanischer Name.
Habermas wehrte im Historikerstreit die revisionistische Rechte ab, die das "3. Reich" nur als Reaktion auf Stalin verstehen wollte. Er setzte dem neuen Nationalismus nach der Wiedervereinigung in “Faktizität und Geltung” ein Modell der Einheit von Rechtsstaat und Demokratie entgegen. Pointe: der Verzicht auf alle neu aufkeimenden völkischen Herleitungen der Inhalte wie auch Begründung von Demokratie. In den Nullerjahren reagierte er auf die Wiederkehr der Religionen in politischen Öffentlichkeiten mittels einer Auseinandersetzung mit Religionen als Vorgängermodell zur nicht nur westlichen Vernunft in "Auch eine Geschichte der Philosophie". So ungefähr die thematische Struktur "meiner" Doku und die entscheidenden Schritte auf Habermas' Denkweg.
Aus welcher theoretischen Perspektive er seine Interventionen wie auch das hochkomplexe und gewaltige Gesamtwerkerk verfasste, das wird erstaunlich oft ignoriert. Ich habe mich bemüht, Grundzüge dessen in der Dokumentation für ARTE aufzuzeigen, soweit das in 52 Minuten im Medium Fernsehen möglich ist, und fantastische Interviewpartner*innen traten vor unsere Kamera. Ich bin allen dafür sehr dankbar. Lediglich die Episode zur ersten rot-grünen in Hessen fand keinen Raum mehr.
Ich erinnere mich gut an das ungeheuer hilfreiche und faszinierende Interview mit Axel Honneth im Frankfurter Institut für Sozialforschung - und daran, wie ich ihn fragte, wie man die Theorie der Geltungsansprüche, einem Kernstück des habermasianischen Denkens, für ein TV-Publikum erklären könne. Er befand das für zu kompliziert.
“ES MUSSTE ALLES BESSER WERDEN” - DIE WOHL BESTE WERKEINFÜHRUNG IN DAS DENKEN VON JÜRGEN HABERMAS
Genau für solche Fragestellungen schafft nun ein Interviewband mit Jürgen Habermas Abhilfe. "Es musste etwas besser werden" heißt er. Die Interviews führten der Habermas-Biograph Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Letzterer verfasste ein Buch über den jungen Habermas. Eine gründliche und hervorragende Rezension, geschrieben von Peter Niesen, kann bei Soziopolis gelesen werden (Opens in a new window) .
Es handelt sich bei dem Buch um die beste mir bekannte Werkeinführung zu Habermas Denken. Passagenweise dürften die immens verdichteten Ausführungen für fachfremdes Publikum schon ein harter Brocken sein. Aber an dem zu nagen lohnt sich.
Die theoretischen Ausführungen sind durchbrochen von teilweise anrührend Anekdotischem, jedoch auch sehr viel Namedropping. Namen, die vielen Leser*innen nicht viel sagen dürften. Hier hätte ein Glossar geholfen, weil selbst Habermas-Weggefährten wie Karl Otto Apel (Opens in a new window) oder der tatsächlich große Philosoph Ernst Tugendhat (Opens in a new window) vielen kein Begriff sein dürften. Die Vertreter des US-Pragmatismus wie auch der (Sprach-)Analytischen Philosophie, die allesamt auftauchen, dürften viele nicht kennen.
Dabei machen gerade diese Bezüge zu einem ebenso weltzugewandten wie offenen und kritischen Denken Habermas' immense Ausstrahlung aus. Viele ulken heute darüber, er sei der wahre Erbe Adenauers, weil er die Westbindung philosophisch exekutiert habe. Man kann ihn jedoch ebenso als großes Vorbild für eine radikal durchgeführte "Reeducation" lesen. Eben dafür steht er wie kein Anderer. Und die war notwendig angesichts von Kontrahenten wie Arnold Gehlen (Opens in a new window) und Helmut Schelsky (Opens in a new window), beide ehemalige Nationalsozialisten, immens berühmt und einflussreich in den 50er und 60er Jahren. Später attackierte er den Historiker Ernst Nolte (Opens in a new window) , der das "3. Reich" als Reaktion auf den Sowjet-Kommunismus beinahe schon rechtfertigte und lediglich den Holocaust als etwas übertrieben, ich übertreibe selbst, aber nur ein wenig, und letztlich Kopie von Stalins Gulag betrachtete. Das ging als “Historikerstreit” in die Geschichte der Bundesrepublik ein.
Auch die Heideggerei, die anders als in Frankreich in Deutschland Formen des völkischen Tümelns rund um Tiefe, Tradition und Verrätselung hervorbrachte, somit revisionistisch wirkte, räumten Habermas wie auch Tugendhat ab. Beide mit Mitteln Wittgensteins und der ihm folgenden angloamerikanischen Philosophie rund um Sprache. Immer, wenn mal wieder Menschen diskutieren, wen Jürgen Habermas so alles verraten habe, allen voran immer Adorno, ignorieren, wie ungeheuer produktiv genau diese Dimension der Auseinandersetzung mit Charles Sanders Peirce (Opens in a new window) , John Dewey (Opens in a new window), John Langshow Austin (Opens in a new window)und John Searle (Opens in a new window) im Werk Habermas wirkt. Es brachte eine Philosophie praktischen Sprachgebrauchs als Zentrum intersubjektiver Relationen hervor, bettete diese jedoch anders als die US-Vorbilder in gesellschaftliche Bezüge ein und ignorierte dabei keineswegs, wie oft behauptet, Macht und Herrschaft. Diese werden unter strategischer Kommunikation verbucht, eben jener Form, die Social Media oft dominiert.
HABERMAS ALS SPRACHPRAGMATISCHE REFORMULIERUNG ZENTRALER FRAGEN DER KRITISCHEN THEORIE
In vielen Passagen von "Es musste etwas besser werden" dreht es sich um diese us-amerikanischen Einflüsse, Habermas bezeichnet Peirce als den Denker, der mittlerweile in den Mittelpunkt seines Werkes gerückt sei - und die Lektüre ist schon deshalb so spannend, weil die kommunikative Praxis, die Habermas einfordert, tatsächlich inmitten eines internationalen Austausches und Freundschaften mit Charles Taylor (Opens in a new window) , Jacques Derrida (Opens in a new window) und Richard Rorty (Opens in a new window) auch lebte.
Schon das Inhaltverzeichnis von "Es musste etwas besser werden" strukturiert Zugänge, die in der Habermas-Rezeption, wie mir scheint, oft auf der Strecke blieben. Zunächst berichtet der Philosoph höchstselbst in zwei Kapiteln über seinen frühen intellektuellen Werdegang, der ihn zunächst von der Philosophie ausgehend tiefer in die Soziologie hineinführte. Das Kapitel "Von der Positivismuskritik zur Kritik der funktionalistischen Vernunft" rekonstruiert im Plauderton, wie Habermas zentrale Motive der Älteren Kritischen Theorie Horkheimer, Marcuses und Adornos mit Hilfe des angloamerikanischen Einflusses reformulierte. In deren Zentrum stand immer die Diagnose eines Umkippens wissenschaftlicher Erkenntnisse in neue Mythologien wie auch eine Kritik der sich in Bürokratie und kapitalistischer Produktionsweise manifestierenden instrumentellen Vernunft - einer, die Menschen dem falschen Allgemeinen gesellschaftlicher Funktionssysteme unterwirft. Habermas enstaubte - was bei Marcuse nie nötig war - diese Motive und reformulierte sie so, dass das Medium der Kritik, Sprache, auch ausgewiesen werden, nicht nur negativ-dialektisch beschworen werden konnte.
Seine Erzählungen sind voller Selbstironie und Selbstkritik - wenn er z.B. berichtet, wie er in seinem berühmten Werk "Erkenntnis und Interesse" rückblickend doch übers Ziel hinausschoss und dabei Marx dennoch lange nicht entsorgte. Das Kapitel "Nachmetaphysisches Denken und destranszendentalisierte Vernunft" widmet sich den Schriften der 80er Jahre und formuliert so den Kontext der für viele prägenden "Postmoderne-Debatte", ohne diese selbst noch einmal aufzukochen. Hier referiert Habermas auch Selbstkritiken an seiner Theorie der Geltungsansprüche. Diese besagt, grob skizziert, dass, wenn Menschen sich miteinander über etwas in der Welt verständigen, dabei den Anspruch erheben, dass das eben stimmen würde, was sie äußern, und dass sie es ggf. begründen können. Das liest sich trivialer als es ist, wenn man das Irrlaufen und Wuchern von Meinungen aktuell beobachtet, die völlig darauf verzichten, sich noch als wahr zu behaupten. Hauptsache, sie haben einen Effekt in Sozialen Medien.
Pointe ist, dass dieses Erheben von Geltungsansprüchen nicht nur für Sachaussagen wie "da vorne steht ein Baum" oder "sie bewegt sich doch!" gelte, sondern auch für das Begründen moralischer Regeln und die Wahrhaftigkeit des Sprechens über subjektive Zustände. Dieses sei analog zu Wahrheitsansprüchen zu begreifen und hätten dieselben Voraussetzungen. Wie z.B. jene, dass man den Argumenten des Gegenübers die selbe Möglichkeit von Wahrheit und Richtigkeit einräume wie den eigenen, dass man ihn/sie/es respektiere, dass man zu wechselseitiger Perspektivenübernahme fähig sei, dass im Falle der Begründung moralischer Regeln die Interessen aller potenziell von ihnen Betroffenen zumindest hypothetisch Berücksichtigung finden müssten usw.. Die Binnen-Korrekturen, die Habermas an diesem Modell in "Es musste etwas besser werden" vornimmt, sind lehrreich und lesenswert.
HABERMAS ALS TEIL DER PHILOSOPHEN-COMMUNITY
Das fünfte Kapitel widmet sich dem zweibändigen Mammutwerk "Auch eine Geschichte der Philosophie" und kann als Einführung in diese gelesen werden. Im letzten Kapitel geht es noch einmal explizit um den Austausch mit den Größen vor allem der US-Philosophie. Diese Begegnungen von Hannah Arendt bis Jacques Derrida ziehen sich durch das gesamte Buch, hier werden sie vertieft. Ein Passus sei zitiert - eine Einladung von Charles Taylor, genannt Chuck, nach Oxford:
"Für mich war das eine denkwürdige Geschichte, nicht nur wegen des einschüchternden Empfangs mit einem unerwartet feierlichen Essen, sondern vor allem wegen des von Chuck für den zweiten Tag organisierten lunch mit den beiden damals weltbekannten Stars der Profession, Richard Hare und Peter Strawson. Denn dieser lunch war ein Arbeitsessen, bei dem ich mit dem mir damals noch unbekannten Ronald Dworkin über einen mir ebenso unbekannten, obwohl damals schon berühmten Text von Rawls, Two Concepts of Rules, diskutieren sollte. Den Text beschaffte mir am Vorabend noch ein freundlicher Kollege. Aber ich war offensichtlich so aufgeregt, dass ich nicht erinnere, ob das Ereignis einigermaßen unauffällig über die Bühne gegangen ist."
Habermas, Jürgen. »Es musste etwas besser werden …«: Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos | Der perfekte Einstieg in den Habermas-Kosmos (S.225). Suhrkamp Verlag. Kindle-Version
Solche Einblicke in die Diskussion mit Kollegen, deren Namen mir aus Studium und der Arbeit an meiner Dissertation wohlvertraut sind, ziehen sich durch das gesamte Buch und sind deshalb so berührend, weil Habermas ohne jede Koketterie seine eigenen Unsicherheiten offenbart. Das ist bei einem Denker, der auf viele wie der Übervater, gegen den zu pubertieren schon deshalb geboten sei, weil er so Gemeines zu Bataille und Foucault geschrieben hat, auch eine entlastende Lektüre.
Die einschüchternde Wucht des Denkens von Habermas verdankt sich auch der immensen, überwältigenden Fülle von Bezügen auf andere Autor*innen in seinen Büchern. Schon zu Zeiten meines ersten Studiums witzelte man, Habermas ließe lesen, weil solche Mengen von Lektüren schier übermenschlich erschienen. Habermas situiert sein Denken immer an der Schnittstelle von Theoriegeschichte und Theoriebildung; die historische Rekonstruktion der Theoreme von Max Weber über Parsons bis später von Thomas von Aquin zu Martin Luther dient dazu, seine Thesen als sich aus dieser selbst einer Logik folgenden Entwicklung schlüssig ergebend zu präsentieren. Manche legten ihm das als Mangel an Originalität aus; proklamiert man mit Habermas, dass im praktischen Diskurs innerhalb der Forscher*innengemeinschaft interdisziplinär und fortschreitend sich erst Erkenntnisse und Wissen ergeben, das zugleich gegen reinen Traditionalismus und die Seher-Selbstinszenierung z.B. eines Heidegger zu verteidigen sei, dann ist das einfach nur konsequent und aufrichtig.
TEILNEHMENDEN- UND BEOBACHTERPERSPEKTIVEN
Neben den Passagen zur Theorie der Geltungsansprüche erschienen mir die jene zum Unterschied zwischen empirischer Sozialforschung und Gesellschaftstheorie am eindrucksvollsten. Ich habe hier neulich schon über Teilnehmenden- und Beobachter-Perspektive geschrieben (Opens in a new window). Mir erscheint das zentral für das Verständnis des Werks von Habermas zu sein, “Es musste etwas besser werden” bestätigte mich in dieser Annahme. Gesellschaftstheorie - und meines Erachtens auch Künste, Journalismus und Politik - lassen sich nur dann ohne Strategien betreiben, wenn man die Teilnehmendenperspektive genau so ernst nimmt wie objektivierende Zugänge. Diesen Ansatz erläutert Habermas noch einmal ausführlich.
Es ist ein Bedeutungs-Unterschied, ob man die (Welt-)Gesellschaft als unsere wahrnimmt, in der wir zusammen mit Anderen agieren, "ich" und "Du" sagen können und uns miteinander verständigen muss oder ob man Menschen aufgrund angeblich objektiver Notwendigkeiten im Mittelmeer ertrinken lässt, ohne deren Teilnehmenden-Perspektive zu berücksichtigen.
Ich denke, dass man so auch Habermas Rekurs auf westliche Vernunftkonzeptionen lesen muss - wir können als Teilnehmende in den hiesigen Formationen erstmal nur explizieren, was wir hier so alles erdacht haben. Wir sollten auch nicht übergriffig so tun, als könnten wir mal eben so in Hamburg die Perspektive schwarzer Menschen in Kamerun antizipieren, um so Forschungsgelder zu erhalten und stellvertretend für sie zu sprechen. Da müssen wir schon zuhören und erst mal lernen, welcher Kommunikationsrahmen in diesem Fall für Begründungen gegeben sein muss - auch aus deren Teilnehmendenperspektive. Das geht aber nicht, wenn wir nicht den Gründen und Selbstverständnissen des Anderen das gleiche Gewicht zuweisen wie unseren eigenen und von ihren erfahren, durch welche Regeln sie sich illegitim betroffen sehen. Vieles, was als Eurozentrismus gedeutet wird, kann in diesem Sinne auch als Weltoffenheit verstanden werden, die schlicht die eigene Sicht verdeutlicht, um sich der Anderer zu öffnen.
EIN HETERO-LEBEN
Wie stark freilich die Lebenserfahrung eines im Rahmen des Heteronormativen situierten Akademikers sich von den in anderen Lebensformen Agierenden unterscheidet, das wurde mir in der Lektüre auch deutlich. In der Biografie von Habermas dominiert ein ausgeprägter Familianismus. Es verschränken sich die Angehörigen von Forscherkollegien, tatsächlich vor allem Männer, mit den seinen. So ergeben sich Zusammenschlüsse, die als "sozialer Kitt" der universitären Zusammenarbeit fungieren. Man nimmt die Kinder mit zu Symposien, hält gemeinsame Essen ab, die "Ehefrauen" stützen das und gehen ebensolche freundschaftlichen Verbindungen ein.
Schaut man sich das Leben von Michel Foucault an, 3 Jahre älter als Habermas, im Gegensatz dazu an, so ergibt sich eine völlig andere Struktur. Dieser flüchtete vor dem konservativen, schwulenfeindlichen Klima Frankreich u.a. nach Schweden und Tunesien, musste Polen mutmaßlich wegen einer Affäre verlassen. Er besuchte die queere Szene auf St. Pauli bei seinem Hamburg-Aufenthalt in den späten 50ern und lud prominente schwule Kollegen ein, mit ihm zusammen durch die Bars zu ziehen. Er lebte mit Roland Barthes in Paris u.a. in den Kneipen der "Sub". Sein Spätwerk ist inspiriert vom Erlebnis San Francisco, wo eine zu dem Zeitpunkt, kurz vor AIDS, noch durchgängig quicklebendige Welt von "Homosexuellen" -Saunen existierte. Er genoss Aufenthalte im "Mineshaft", einer Lederbar in Manhattan, und entdeckte in den USA schwule Lebenswelten ohne Jugendkult. Er nahm LSD in der Wüste zum Gesang von Elisabeth Schwarzkopf ... jener von Nevada, wenn ich mich recht entsinne.
Teilnehmendenperspektive definiert sich einfach anders, wenn man nicht in die Familien-Netzwerke von Heterowelten eingewoben ist. Man kann das gegen Habermas schlecht ins Feld führen. Aber es entsteht eben doch eine andere Philosophie, je nachdem, an was man teilnimmt und mit welchen Formen des "Wir" der Anderen man konfrontiert wird. Ich denke deshalb bis heute, dass man Michel Foucault und Jürgen Habermas in einem Ergänzungsverhältnis lesen sollte.
Um in das Werk von Habermas einzusteigen, dazu bietet sich "Es musste etwas besser werden" hervorragend an. Man sollte es wirklich lesen.
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