Ein Plädoyer für die Kunstwahrheit
Das Zitat findet sich in "Wut und Wertung" von Johannes Franzen (Opens in a new window). Es stammt aus Howard Beckers "Art Worlds" - ein auch unter Medienwissenschaftlern beliebtes Werk. Der Zweitguatchter meiner Dissertation Thomas Weber entwickelte hieraus schlüssig die Konzeption "medialer Milieus".
Kunstwelten, mediale Milieus, akademische Communities, Studiengänge zur "Transformation des Populären" bilden Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge, in der Gruppen von Menschen und Institutionen Regeln entwickeln, was in ihnen wie Gegenstand wird. Sie etablieren Gatekeepersysteme, um sich zugleich abgzugrenzen und zu legitimieren. Im Bezug auf Kunst betrifft dieses Regeln bezüglich dessen, was gute und was schlechte Kunst sei und was als ästhetische Erfahrung überhaupt ernst genommen wird - so Franzen sinngemäß in einer Passage, überschrieben mit "Ökonomische Konflikte".
Das Beispiel Jazz bietet sich an. Schon deshalb, weil es durch die Aversion Adornos gegen dieses Genre ins Feld geführt wird gegen eine vermeintlich elitäre Haltung der Gralshüter "autonomer Kunst". Diese würden ja nur Distinktionsgewinn erlangen wollen, indem sie sich schwer verständlichen und konsumierbaren Künsten widmen, die ohne Vorwissen, Anstrengung und dem Geld für die teuren Konzertkarten gar nicht zugänglich werden. Zumeist berufen sich diese Positionen auf die Studien des Soziologen Pierre Bourdieu.
MUSIKALISCHES MATERIAL
Distinktionsgewinne erzielen wollen - z.B. in Bayreuth. STUNDENLANG Wagners dramatischem Sopran und ausufernden, hier und da ins Dissonante driftenden, brachialen Gesamtkunstwerken ausgesetzt sein, wer setzt sich dem schon aus?
Okay, Wagner, das ist nicht Adornos Vorliebe, dann eben Weberns Zwölftontechniken und somit der Emanzipation der Töne lauschen ... halt! Man bewegt sich so bereits mitten in die Welt des Jazz. Dem Jazz, den Adorno noch vermutlich nicht weit über den "New Orleans"-Stil, die Gruppenimprovisation zu Louis Armstrongs Zeiten, und die frühen Big Bands hinaus rezipierte.
Das, was später in den 40er Jahren ungefähr seit dem BeBop sich etablierte, der Modern Jazz, setzte sich ebenso mit dem tonalen Material auseinander wie zuvor Wagner oder die Wiener Komponisten rund um Schönberg. Es begann mit einer Dymanisierung von Strukturen, die auch die Klassik prägen und zum Teil in Musical, bei Gershwin, Cole Porter, auch Weil, bereits Erweiterungen erfuhren. Mit Akkorden arbeitet. Ich lernte sie in der Schule noch als "Dreiklänge": Drei Töne erklingen gleichzeitig. Der Tristan-Akkord Wagners stellte im Umgang mit diesem Zusammenspiel von Tönen eine Revolution dar, weil er in tradierten Schemata nicht interpretierbar war. Der Jazz spielte auch mit deren Erweiterungen - z.B. war es in Jazz und Blues populär, nicht wie bis dato auch in der Klassik oft üblich den 1., 3. und 5, Ton einer Tonleiter zu verwenden, sondern den 7. hinzunehmen. Weil das eine gewisse Spannung erzeugt. Oder auch nur mit auf der 5.Stufe eines Akkordes aufbauenden Akkorden, zusammen mit dem 7., Dominantseptakkorden, zu spielen. Noch im Blues waren diese im Schema "Tonika, Subdominante, Dominante" aufgebaut - Akkorden der 1., 4. und 5. Stufe einer Tonleiter. In der D-Cur-Tonleiter führt das zu C-E-G, F-A-C, G-H-D, wenn ich mich nicht irre. Diese Kadenzen sind auch konstitutive Bausteine der Klassik. Sie erzeugen Spannungen und lösen sie sodann auf. Im Blues kamen so genannte Blue Notes hinzu; zunächst undefinierte Töne außerhalb des westlichen Schemas der Formatierung tonaler Systeme, die sodann formalisiert wurden als Halbtonschritte, die den westlich-tradierten Schemata von Dur und Moll nicht entsprachen. Alles sehr simpel zusammengefasst. Im Jazz setzte sich eine andere Kadenz durch; eine, die auf der 1., 2. und 5. Stufe einer Tonleiter aufbaute: II-V-I. Jeder, der Jazz-Improvisation lernt, lernt dieses zuerst.
Durch den Pianisten Lenny Tristano, in Zwölftonmusik bewandert, und Schriften, die sich intensiv mit älteren Modi europäischer Kunstmusik auseinander setzten - so den "Kirchentonarten", also Tonleitern, die auf jedem Ton z.B. einer C-Dur-Tonleiter eine weitere aufbauen - wie auch immer wieder Auseinandersetzungen mit den Sounds und Rhythmen westafrikanischer Musiken und deren Adaptionen in der Karibik, vor allem Kuba, erweiterten Jazz.-Musiker das tonale und harmonische Spektrum. Es mündete in den modalen Jazz - so auf dem berühmen "Kind of Blue"-Album von Miles -, der da, wo er "pur" ist, so z.B. in "So what", sich dem Prinzip des Aufbaus und Abbaus von Spannung wie in der westlichen Funktionsharmonik üblich entzieht und stattdessen das Klangspektrum der Akkorde selbst erkundet. "So what" nutzt nur zwei Akkorde und die Verschiebung um einen Halbtonschritt.
https://www.youtube.com/watch?v=ylXk1LBvIqU (Opens in a new window)Zugleich formierte sich das Inside/Outside-Spiel - das innerhalb und außerhalb der harmonischen Struktur - man spielt auch mal F-Moll über einen C-Dur-Akkord. So entwickelte sich allmählich der Free Jazz.
Diese arg gestraffte und unterkomplexe Historie der Entwicklung der Jazz-Harmonik ist situiert inmitten der Segregation. Schwarze Musiker verfügten nicht über die gleichen Rechte wie ihre weißen Kollegen. Der Jazz entwickelte sich teils in Clubs, teil in Aufnahmestudios. Die Rekonstruktion der Sessions, in denen "Kind of Blue" entstand, füllte ganze Bücher mit intensiven Studien des harmonischen und tonalen Materials.
Das liest sich alles exzessiv kompliziert und soll es auch. Man wird mit dem Jazz nicht fertig, wenn man ihn nur im Rahmen von Distinktionsgewinn und Aufmerksamkeitsökonomie diskutiert oder, wie Becker, indem man auf des Gewinnen von Legitimität in Räumen der Kunstwelten reduziert. Das spielte eine Rolle, keine Frage. Das sagt aber nichts aus über den Umgang mit dem Material oder die Entstehungsbedingungen. Dafür interessieren sich auch nicht alle Jazz-Hörer*innen. Aber man versteht Kunst nicht, wenn man die Künstler*innenperspektive nicht einbezieht. Dann kann man sagen: "okay, das ist halt nicht Thema meines Buches". Dann versteht man aber bestimmte Identifikationsprozesse und auch Auseinandersetzungen rund um Künste m.E. nicht wirklich.
Es spielen Verteilungskämpfe rund um den Jazz eine Rolle, tatsächlich - die in einer weiß dominierten und ökonomisch kontrollierten Unterhaltungsökonomie vor allem in den USA vor und nach dem 2. Weltkrieg. Die Big Bands, die vor allem für ein weißes Publikum spielten, erwiesen sich als zu teuer. Zu viel Personal, zu viel Aufwand. Die aus dem 2.Weltkrieg zurückkehrenden Musiker fanden sich in der alten Ab- und Entwertung wieder, nachdem sie zuvor wie Weiße auch für ihr Land in den Krieg zogen. Manche überlebten das psychisch nicht.
Andere, allen voran Dizzy Gillespie, Charly Parker, Thelonius Monk, Miles Davis, John Coltrane, Sonny Rollins verwandelten den Jazz allmählich in eine anspruchsvolle Kunstmusik, die harmonisch nicht weniger belehrt als Adorno, aber eben praktisch-künstlerisch ästhetisches Material "in der Welt" erkundete und so auch Bastionen schwarzer - soziale Position, nicht Hautfarbe - Exzellenz aufbaute. Bei Youtube kann man sich ein Video anschauen, in dem Jon Batiste durch sein Haus in Brooklyn führt und vor einer Bibliothek stehen bleibt, die er als Sammlung schwarzer Exzellenz vorstellt. Er verbindet aktuell Beethoven mit Blues, damit ziemlich explizit in der Tradition von Miles Davis und John Coltrane operierend. Es ging auch darum, in Virtuosität und musiktheoretisch wie praktisch hochkomplex weißen Dünkel zu attackieren in der Geschichte des Jazz. So dass Miles Davis den Soundtrack zu französischen Kunstfilmen wie "Fahrstuhl zum Schafott" einspielen konnte. Das ging aber nicht formal über die Besetzung akademischer Positionen, sondern über die Wucht, die Komplexität und die Qualität der Kunst - ihrer Wahrheit.
PRODUZIERENDEN VERSUS REZIPIERENDENPERSPEKTIVE
Man kann das alles nicht auf Distinktionsgewinn und Aufmerksamkeitsökonomie reduzieren. Dafür steckt zu viel sozialer und ästhetischer Gehalt in der Musik.
Das entgeht seltsamerweise oft auf Rezeption fixierten Akademikern. Als würden die nicht selbst auch schreiben und dabei so oder so auch über den Stil grübeln, indem sie etwas verfassen. Gut, manche lassen das auch bleiben. Andere setzen nur auf "Verständlichkeit". Große Philosophen waren aber nicht zufällig auch oft große Stilisten - Nietzsche, Foucault, Sartre. Es entstanden so häufig andere Philosophien als bei denen, die sich eher um Präzision mühten - wie Kant oder analytische Philosophen. Ein Habermas verfügt durchaus über einen eigenen Sound, der oft dann verschwindet, wenn er sich in die Rekonstruktion anderer Autor*innen vertieft.
Sprache oder musikalisches Material im Kontext der Künste bewegt sich nicht grundsätzlich außerhalb dessen, was man von mir aus anachronistisch als "Kunstwahrheit" behaupten kann. Die ergibt sich in der Auseinandersetzung mit dem Material selbst wie auch der sozialen Welt, in der es situiert ist - ist aber auf eine "Erkenntnis" aus, die als propositionale Wahrheit nicht zu fassen ist. Die auch nicht "abbildet" und dadurch exakt wird, wie naive Formen des Realismus es glauben machen wollen. Gerade Musik bildet nicht ab; gute Literatur auch nicht und Film schon mal gar nicht.
Wenn Miles Davis den Sound eines afrikanischen Daumenklaviers als Ausgangsidee einer Komposition plus Improvisation wählt oder Erinnerung an die staubigen Straßen des Südens der USA, in denen ein Blues aus einer Kneipe dringt, so geht die Komposition mit damit korrespondierenden Bedeutungen, Eindrücken (Impressionen) und Gefühlen um und variiert sie, transzendiert sie, thematisiert sie. Flüchtet vor ihnen ggf. in Spiel mit den Modi, den Kirchentonarten, dorisch z.B., Miles Davis spielte das oft in seinen Soli auch da, wo es vielleicht gar nicht passte - die baut als Moll-Tonart, kleine Terz, auf dem zweiten Ton einer Tonleiter auf und verfügt über einen eigenen Sound -, sucht ein wenig l'art pour l'art, also eines Selbstbezüglichkeit des Materials, das seine immanente Dynamik erkundet - aber will sich doch dem Bild angemessen zeigen, jener Straße im Süden, die anders erkannt wird als in einer Aussage.
All das geschah oft live in New Yorker Clubs mit dem Rücken zum weißen Publikum. Es konnte ihm vor der Tür, wenn er, der Zahnarztsohn, dort im teuren italienischen Anzug stand, widerfahren, dass er von der Polizei vermöbelt wurde. Weil er schwarz war. Es IST ihm widerfahren und traumatisierte ihn. Man kann diese Erfahrung in seinen Musiken hören, im Umgang mit dem Material - gerade da noch, wo er sich später im Fusion-Jazz Rockmusik öffnet. Einer Musik, der er attestierte, dass sie von weißen Menschen gemacht würde, die wenig von Musik verstünden. Nicht nur aus "Distinktionsgewinn". Sondern, weil das wahr war verglichen mit seinem Musikverständnis. Verglichen mit den Zugängen, die im Modern Jazz erprobt wurden, ist Rockmusik recht primitiv. Aufgrund der musikalischen, rhythmischen und auch technischen Qualität.
Hört man sich nacheinander ein Coltrane-Solo und eines des berühmten Slash, Guns'n'Roses, an, dann erkundet ersteres die Welt, letzteres Rock-Sounds und Verstärkertechniken. Tatsächlich ist der Jazz "welthaltig", indem er sie hochkomplex moduliert gerade da, wo er auf Sprache verzichtet.
https://www.youtube.com/watch?v=wXm-6sPDCm0 (Opens in a new window)Kompositionen wie "Isfahan" von Ellington/Strayhorn, recht schwer zu spielen, arbeiten impressionistisch, fangen Ahnungen, Bilder, Atmosphären in Musik ein, umspielen sie in komplizierten Harmonien und erzeugen so zugleich eine eigene Welt, die inmitten der außermusikalischen verortet ist, in diesem Fall "Far East" - und keineswegs nur der "Art World". Cézanne sprach von einer "Harmonie parallel zur Natur". Auch, kleiner Sprung, Talyor Swift-Fans loben ihre Texte, weil sie ganz realen Liebeskummer so in Worte fassen würde, dass sie adäquat zum Mitfühlen einlüde, an eigene Erfahrungen andocke und somit ihre Songs wahr wären.
DISKUSSIONEN RUND UM ÄSTHETIK UNTER PRODUZIERENDEN
All das ist ein Kommentar zur Vorschau von Johannes Franzens "Wut und Wertung". Ich habe das ganze Buch noch nicht gelesen, das ist für diesen Text aber vielleicht auch gar nicht so wichtig. Weil ich hier keine profunde Buchkritik verfassen will. Sondern den Text eher als Anlass nehme, auf etwas hinzuweisen, was mich schon bei der Auseinandersetung mit Medienwissenschaftlern regelmäßig, gelinde gesagt, erstaunte. Solche, die nie im Schnitt gesessen haben, nie aus 200 Stunden Interviewmaterial einen 52-Minuten-Film bauen mussten - oder wollten - oder sich mit Redakteur*innen darüber stritten, ob die angewandte Form dem Sujet angemessen sei. Wie schnell schneiden wir oder wechseln wir den Rhythmus? Lassen wir Interpretationspielraum bei der Aufbereitung des Materials oder vereindeutigen und erklären wir alles, damit auch wirklich allen Zuschauern der Stoff so aufbereitet wird, dass sie auch ja keine Sekunde stutzen oder nachdenken müssen? Übersetzen wir ihnen nicht vertraute Sichtweisen aus z.B. queeren Subkulturen in die Hetero-Vorort-Idylle von Dresden oder lassen wir auch abweichende Perspektiven zu? Welche Form der Ästhetisierung wählen wir, in welchen sozial definierten ästhetischen Räumen bewegen wir uns dabei, wollen wir formatieren oder eher der Eigendynamik des Materials folgen? Usw.
In vielen Bereichen der TV-Produktion stellt sich auch niemand mehr diese Fragen; auf manchen WDR-Sendplätzen sieht es alles gleich aus, bei Quiz-Show-Einspielern oder manchmal SPIEGEL TV-Produktionen auch und im Regio-Krimi sowieso. Deutsche Schauspieler haben sogar eine Form des Sprechens, die derart durchformatiert ist, dass so was wie Anspruch auf Kunstwahrheit manchmal gar nicht mehr erhoben werden kann. In dokumentarischen Formen kann man auch alles weiter so machen wie die Knopp-Schule oder die Gebrüder Beetz es immer schon gemacht haben; klar, Markenbildung, so ist das ist das im Kapitalismus noch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Aus Produzierenden-Perspektive können sich diese Fragen aber zumindest stellen, und das ganz unabhängig davon, ob Protagonisten, Schauspieler*innen, Regisseure, im Privatleben wie die letzten Schweine agieren.
In den Medienwissenschaften werden dann oft manipulative Strategien erörtert, warum so oder so entschieden worden sei im Falle von Produktionen - meistens solche, die ich in mehr als 30 Jahren Medienarbeit nie vernommen habe. Es gibt intensive Diskussionen darüber, was "funktioniert" und was nicht, aber selten im Sinne der großen Manipulationsmaschine, sondern eher am Leitfaden hypothetischer Annahmen darüber, was Zuschauer sehen wollen würden. Da können auch die Fetzen fliegen, weil manche Filmemacher*innen es wichtiger finden, dass der Stoff seinem Gegenstand adäquat aufbereitet wird, als dass nun Lieschen Müller aus Wanne-Eickel Unvertrautes als vertraut empfinden sollte. Denen wird dann Verachtung des Publikums diagnostiziert - wobei die, die das machen, oft die schlimmsten Zyniker sind. Solche, die Publikum eh für doof halten.
BOURDIEU UND DER HABITUS
Bei der Lektüre der Seiten, die ich von Johannes Franzen las, verblüffte mich, dass solche Diskussionen in Produktionszusammenhängen gar nicht auftauchen. Es gibt in dem Buch zwar Kevin Spacey, der mutmaßlich junge Männer befingert haben könnte, aber komischerweise gar nicht diese auf Popularität und Massenkonsum abzielenden tatsächlich Kämpfe in der Kunst- und Medienproduktion, mit Lektoren, Marketingabteilungen oder das Sich-Einfügen in Verlagsprogramme.
Stattdessen zeigt Franzen sich, so scheint es mir, fasziniert von den Erben Adornos, um gegen sie zu argumentieren - und thematisiert z.B. "Guilty Pleasure". Dass man also verkitschte Liebesromane heimlich gerne liest, zum Beispiel. Für Camp-Ästhetiken ist das ja gerade die Quelle der Kunst und sogar ihrer höherstufigen Wahrheit. Von wegen "guilty". Vielleicht empfinden diese Schuld ja vor allem Literaturwissenschaftler? Queers im wahren Leben eher selten, glaube ich. Die lesen vielleicht heimlich BDSM-Romane, falls der Partner nicht darauf steht und das somit zu Konflikte führen könnte.
Die im Netz zu lesende Vorschau baut stark auf Pierre Bourdieu (Opens in a new window):
Franzen rekonstruiert dessen Theorie des Habitus, eine "Selbsterzählung des Geschmacks", die sich in Kleidung und Frisur ebenso zeige wie in den Büchern, die man liest oder den Konzerten, die zu besuchen dann z.B. in sozialen Netzwerken als "Insider-" und Coolness-Zeugnis mittels Selfies ausgestellt wird; wie Accessoires zur Selbsterhöhung. Beim in den 60er Jahren verfassten "Die feinen Unterschiede" von Bourdieu geht es stark um die Abgrenzung gegen die "Arbeiterkonsumkultur"; Menschen, die nun aber auch nicht Miles Davis lauschten, zumindest nicht in Deutschland oder Frankreich.
Franzen und Bourdieu nennen diese Formen des Wissens und der Gewohnheiten "soziales Kapital", das mit ökonomischem Kapital korrespondieren kann, aber nicht muss. Und geht dann ziemlich schnell zur Identifkation mit dem, was man ästhetisch mag, liebt, womit man sich identifizieren kann, über. Er unterscheidet mit Rita Felski zwischen einem "analytischen", quasi-wissenschaftlich distanzierten Zugang einerseits und einem emotionalen, "unkritischen" Zugang zu Kunst andererseits.
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob diese zu Adornos Zeiten noch übliche Unterscheidung up to date ist oder ob sich da nicht eher ein Akademiker-Komplex zeigt, der zumindest in all den Pop-Diskursen, in denen ich seit Jahrzehnten zu Hause bin, kaum noch eine Rolle spielt. Noch bei Diskussionen z.B. rund um die "Hamburger Schule", vor Kurzem erneut entflammt, schließt das einander gar nicht aus. Da zeigen sich Fans fasziniert, wie Blumfeld Foucault adaptierten, diskutieren darüber in Kneipen, aber sind doch auch emotional affiziert und tanzen bei Konzerten. Auch andere Pop-Größen wie Damon Albarn, der ein ganzes Post-Brexit-Album rund um Blackpool im Norden Englands, einst Seebad für die Arbeiter*innen z.B. aus Manchester, geschrieben mit “The Good, The Bad and The Queen” hat und dabei sehr wohl auch so etwas wie einen "Wahrheitsanspruch" erhebt, werden gefeiert und in Konzerten frenetisch und hochemotioal gefeiert. Auch von mir.
https://www.youtube.com/watch?v=51bj85ELKUU (Opens in a new window)Zugleich liebt man die Pet Shop Boys, die perfekte Dance-Tracks schufen, das aber eben "sophisticated", das eigene musikalische Material reflektierend und doch in ihm agierend. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher lobte Stephen Kings "Es", auch meines Erachtens einer der großen Romane des 20. Jahrhunderts - wobei Stephen King nach eigenem Bekunden eben einfach gerne Bücher über Mumien, Monster, Mutationen geschrieben hat und "Es" als Gestaltwandler, somit auch als Clown Pennywise, die Story füllend die Gelegenheit bot, gleich sämtliche Monster in einem Roman zu vereinen. Zugleich verfasste er mit "Es" ein Werk über die brutale Repression in nordamerikanischen Kleinstädten, die sich von den Ängsten der Ausgegrenzten ernährt - die Helden sind der "Club der Außenseiter", die "Es" schließlich erledigen.
Man kann diese Gehalte zwar ignorieren und das Buch unter “populär” verbichen, dann versteht man “Es” aber nicht mehr; ein Werk, das allenfalls anstrengend zu lesen ist, weil man sich aktiv bei der Lektüre fürchtet und King so weitschweifend erzählt, es sehr viele Seiten umfasst. In die Identifikation gerät man, weil King es meisterhaft versteht, gerade in vertraute Alltagssituationen hinein die Ängste von Personen voller popkultureller Bezüge buchstäblich werden zu lassen, die Figuren durch zunächst kaum erkennbare Veränderungen ihrer Umwelt in den Horror von ES gezogen werden.
Es ist möglich, dabei über die Identifikation mit den Außenseitern eine Bindung an das Buch zu erzeugen. Auch über die Intensität der Lektüre. Auch über den tatsächlichen virtuosen Umgangs Kings mit seinem Material, den Mythen aus B-Movies, Horrorfilmen und Underground-Comics. Man kann auch verletzt sein, wenn jemand die Faszination nicht teilt. Aber das doch auch, weil es wahr ist, was er über den Umgang mit Ausgegrenzten und Ängste schreibt und sein Medium, Sprache, beherrscht in einem unverwechselbaren Erzähler-Gestus entfaltet. Das sind keine wissenschaftlichen Kriterien. Das ist situiert in lebensweltlicher Erfahrung. Das geht weit über die Selbstinszenierung einer Ich-Erzählung für Dritte hinaus.
MARGINALISIERTE IN DER KUNST
Gerade in den ganzen Debatten rund um die Darstellung Marginalisierter in Werken der Vergangenheit spielt das eine Rolle. Wenn Karl May in "Unter Geiern" Schwarze als kaum der Sprache mächtige, devote Trottel darstellt, dann ist das halt eine verlogene Erzählung auf einer anderen Ebene, als wenn man darüber diskutiert, ob es Einhörner und Hobbitis wirklich gibt. Klar, es ist Fiktion, es ist seine Sicht, die von jemandem, der nie im Llano Estacado war, wo das Buch spielt, eine Wüste, die es so, wie er sie beschrieben hat, auch nicht gibt. Es handelt sich dennoch um einen Umgang mit heute noch wirksam Stereotypen, die es einfach als schlechte Kunst noch dann ausweisen, wenn solche Stereotypen zu seiner Zeit üblich waren.
Wenn die Verfilmungen von "Herr der Ringe" mit zutiefst rassistischen Ikonographien im Spektrum von den Elben bis zu den Orks spielt, eben von "weiß" als edel und feinsinnig bis hin zu primitiv und brutal, je dunkler die Haut wird, dann - ist tatsächlich passiert und zog plötzlich ein ganzes Familienessen in seinen Bann - verletzt das meinen Neffen auch wirklich, oje, der konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Aber das nicht aufgrund eines Spiels rund um Distinktion oder ästhetische Selbsterzählung, sondern deshalb, weil die ästhetische und somit auch emotionale Erfahrung mit dem Werk gar nicht so unschuldig ist, wie es zunächst den Anschein hat. Ertappt. Man erwischt sich dabei auch selbst häufig und reagiert erst mit Abwehr, legt sie sich, hat man was gelernt. Typisch ist, wie allergisch gerade Mehrheitsgesellschaftler darauf reagieren, weist man sie darauf hin, dass sie ständig herabwürdigende Stereotype tatsächlich genießen können, weil sie so sozialisiert wurden. Klar, ist auch Distinktionsgewinn, aber können solche Werke dann Anspruch auf so etwas wie "Kunstwahrheit" erheben? Gehen sie reflektiert und virtuos oder auch nur bewusst mit dem eigenen Material um?
Das führt tatsächlich zurück zu den Ausführungen über Jazz zu Beginn dieses Textes. Der Modern Jazz hat ähnlich auf eine oft herabwürdigende Darstellung von Schwarzen in den Unterhaltungskünsten, um einen DDR-Begriff zu verwenden, reagiert; das seien die "mit den Trommeln", die nur Rhythmus können, keine Harmonik. Der Gegenangriff wirkte nachhaltig. Ähnlich wie später die "Black Panther"-Filme gegen den "Herr der Ringe" zurückschlugen.
Es geht da um Identifikation, es geht um soziale Hierarchien, aber nicht einfach nur so - sondern auch, weil die eben eingewoben sind in ästhetische Spiele um eine sich anders als propositionale Wahrheit situierende Kunstwahrheit. Diese auf subjektive Geschmacksurteile zu reduzieren könnte das sein, was Adorno als banausisch empfand - im reinen Spiel um Distinktionsgewinne gehen sie aber auch nicht auf.
Man versteht das nicht vollkommen nur aus Rezipientenperspektive. Ich vermute, da muss Johannes Franzen noch nachbessern. Ändert sich vielleicht, wenn ich das ganze Buch gelesen habe. Vielleicht steht das da auch alles drin.
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