Zum Hauptinhalt springen

Zeitreise in den Mikrokosmos

„Es ist viel zu erzählen. Man muss sich kurz fassen. Das ist auch gut möglich. Lebensläufe von Menschen finden im Einzelnen statt — in der Mikrostruktur. (…) Das Genaue, und nicht das Allgemeine, das Regionale und nicht das Globale, das lässt sich am besten erzählen. Das ist auch objektiv so. Wenn man im Teilchenbeschleuniger des Cern in Genf das Allerkleinste studiert, gelangt man bis zu den feinsten Gravitationswellen im Kosmos. Das ist poetisches Futter.“

Alexander Kluge, frankfurter Rundschau, 2016 

Dieses Zitat steht am Anfand des autobiografischen Buchs von Klaus Waschk „Ziemlich normal“, gefüllt mit Geschichten in Zeichnungen.

Kennst Du die Neustadt? Das ist einer der ältesten Stadtteile Hamburgs. Durch den zweiten Weltkrieg entstandene Lücken zwischen prächtigen Altbauten und uralten Fachwerkhäusern sind gefüllt mit Rotklinkerbauten. Das ist der erste Stadtteil Hamburgs, in den ich mich, ein paar Jahre nach meiner Migration aus Kasachstan, verliebt habe. Meine Güte, habe ich mir gewünscht dort zu wohnen! Und einmal hat es fast geklappt. Nur fast. Ich hab zum ersten und letzten Mal in meinem Leben geheult, weil ich eine Wohnung nicht bekommen habe. 

In einer der ruhigsten Ecken der Neustadt ist die Galerie Enfants Artspace im Erdgeschoss-Laden eines alten Eckhauses untergebracht. Fünf Jahre alt. An der Ecke Pilatuspool und Kurze Straße. Die weiß verputzten Außenwände sind mit bunten Legosteinen bemalt. Nicht weit entfernt vom Heiligengeistfeld, so dass man noch gedämpt die Geräusche vom Hamburger Dom hören kann. Die vermischen sich ab und zu mit dem Grölen im Millerntorstadion und den Martinshörnern der Polizei, wenn zeitgleich auch noch ein Fußballspiel läuft. So wie heute — Fc.St.Pauli gegen HSV …

Ich freue mich, dass ich hier bin und nicht auf dem Kiez und an diesem Samstagabend ganz besonders über eine Ausstelungseröffung meines ehemaligen Professors für Zeichnung Klaus Waschk – „Vor- und Nachbilder. Zeichnungen zur Literatur 1971-2021“. Von Klaus habe ich gelernt, beim Zeichnen auf Details zu achten, Kompositionen zu erstellen und — ganz wichtig — Spaß zu haben. Das hat mich schon aus einer oder anderen Krise gerettet und dafür bin ich ihm dankbar und glücklich, dass ich an seinem Werk Teil haben kann. Ich bin praktisch sein Werk. Ein wichtiger Teil von mir.

Klaus hat uns im Unterricht Aufgaben gegeben. Insekten unter Mikroskop zu beobachten und überdimensionierte Zeichnungen von ihnen zu erstellen, oder Aktmodelle zu zeichnen mit Masken und Körperteilen alter Schaufensterpuppen. Schattenwurf, Natur, Geschichten. Mit Wachsmalkreiden auf riesige Packpapierstücke zeichnen, blind zeichnen … Einige Arbeiten davon habe ich behalten und schaue sie mir heute noch gern an. Aufgeplatzte, ausgetrocknete, faszinierende Spinnenleichen. 

Wenn ich zeichne, höre ich noch heute seine Worte: „Beobachte, schau hin. Zeichne was du siehst und nicht, was du weißt.“ "Erzeuge Spannung. Kombiniere Dick und Dünn". Er erzählte uns in den Kursen Geschichten aus seinem Leben (zum Beispiel hat er mal mit einer Gruppe von Student:innen versucht, die Schönheitsformel zu knacken), brachte uns inspirierende Bücher mit. Chaos war immer wieder ein Thema, das auftauchte und mich heute noch inspiriert.

Klaus kommt spät an in Begleitung seiner Frau Doris Waschk-Balz, weil sie mit dem Bus auf der blockierten Reeperbahn stecken geblieben sind. Er läuft auf zwei Krücken. Er ist dieses Jahr 80 geworden und kann seit einigen Jahren nicht mehr selbstständig gehen. 

[Die Bronzefiguren seiner Frau, einer bekannten Bildhauerin, stehen heute in der ganzen Stadt verteilt. Vielleicht hast Du mal die beiden Frauen in Altona auf dem Spritzenplatz bemerkt, Jung und Alt an beiden Seiten einer offenen Türschwelle. Oder den Brunnen am Großneumarkt … auch hier in der Neustadt. Die Figuren fielen mir auf noch vor dem Studium , da kannte ich Klaus Waschk noch nicht.]

Ich brauche mal wieder ziemlich lang, um richtig anzukommen und mich einzufügen und setze mich erstmal etwas abseits, beobachte die Menschen, versuche, einen Platz darin zu finden. Aber eigentlich genieße ich den Anblick meines Lieblingsproffs und mit der Zeit merke ich, was wer mit ihm zu tun hat. Habe eigentlich nicht vor, eine Reportage zu schreiben, deswegen merke ich mir auch wenig davon, worüber geredet wird. Dann stelle ich fest, dass ich meinen Digitalstift vergessen habe und lege Skitzen mit dem Finger an. 

Über dem Eingang zur Galerie häng ein Balkon mit abgeplatztem Putz. Zwei hellbraune Flecken auf Weiß. Sieht aus, als hätte Waschk sie gezeichnet. Ich mache ein Foto und zeichne später meine eigene Interpretation.

Langsam werde ich auch geselliger, lerne andere Leute kennen, mit denen ich nicht zeitgleich studiert habe, mich aber trotzdem verbunden fühle. 

Das Klo der Galerie feiere ich ganz besonders. Es erinnert mich an die Klos in der Hochschule – Armgartstrasse und Wartenau – voll mit Zeichnungen und Sprüchen: "Was ist denn das für ein geiler Stift?" oder "Klowände zu überstreichen, ist wie Bücher zu verbrennen." Jetzt hängt da auch meine Zeichnung an der Wand. Wenn Du mal in der Galerie bist und sie findest, sag bescheid ;)

Stefan und Sui überreichen Klaus ein eingepacktes Geschenk und sagen, da ist etwas drin, was Zeichner immer gebrauchen können. Ich rufe frech dazu: „Geld?“. Gelächter.

Stefanie ruft "Danke, dass ich bei Ihnen lernen durfte, Sie haben mir so viel beigebracht!". Später schreibt sie mir in den Kommentaren auf Instagram „Haben wir uns verpasst? Schade!“ Wir saßen wohl nebeneinander und wussten es nicht. 

An diesem Abend schließen sich viele Kreise und Bekanntschaften. Aus einem Buchrelease wird ein kleines Armgartstrassentreffen. Ich lerne Rüdiger Beckmann kennen –  Künstler und Betreiber der Galerie. Erst zuhause erinnere ich mich, dass wir uns schon mal beim Kickern im Lunacy begegnet sind. Ich hatte sogar seine Nummer, weil er ein Portrait von mir machen wollte. Hab mich nie gemeldet … Jetzt sagt er zu mir "Ich kenne dich doch! Du hast letztes Jahr im Gängeviertel ausgestellt." Freue mich und spinne Ideen für eine Ausstellung im Enfants Artspace, wo einige meiner Kommilitonen aber auch andere Künstler:innen schon ausgestellt haben: Bona Berlin oder Dominique Donoval mit seinen etwas gestörten Schlafzeichnungen, die ich mega gut finde.

Und dann möchte ich auch mit 80 (vielleicht ohne Krücken, obwohl … ist auch egal, hauptsache, ich kann noch zeichnen) bei meiner Ausstellungseröffnung sitzen und die Leute, die ich inspiriert habe um mich haben. Ich bin gespannt, wie Klaus darüber denkt, ich glaube, ich werd ihn mal fragen :)

Klaus Waschk: Vor&Nachbilder
Zeichnungen zur Literatur 1971 - 2021
Verlag Angeli & Engel, Hamburg Juli 2021
Format 24X30  94  Seiten, ill.
ISBN: 978-3-9815836-4-9

Noch ein Buch, das ich empfehlen kann:

ZIEMLICH NORMAL – der etwas andere Entwicklungsroman, der Stationen  im Leben eines Jünglings in ca. 190 Bildern aufzeichnet, die intensiv  und detailfreudig von alllerlei Glücks- und Katastrophen-Momenten  berichten. Freundlich, schräg bis grotesk (#selbstx85 + #weiblichx90 +  #männlichx180 und „verrückt sind sie alle“ R. Burton, 1624) –  authentischer geht‘s nich‘.

ISBN: 978-3-945772-48-5
76 SEITEN
24 X 30 CM
GUDBERG NERGER, 2018

____________

Galerie Enfants Artspace

Pilatuspool 19

20355 Hamburg

contact@enfants.de (Öffnet in neuem Fenster)

Tschüß

Julia Zeichnekind

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von zeichenkind-reportage und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden