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Greetings!

Dieser Newsletter entstand am Strand. Also fast – am Fenster eines Bed & Breakfasts mit Blick auf einen sandigen Küstenzipfel. Heute ist mein letzter Tag auf einer schottischen Insel namens Tiree. Fast wie Hawaii, nur ohne Palmen und viel, viel kälter. Ich brauchte eine Auszeit vom Wirbel der vergangenen Monate, zum Beispiel von den Kommunalwahlen hier Anfang des Monats.

Unter anderem darum geht’s in dieser Mai-Ausgabe von "What’s Up, Scotland?" – aber auch um den aktuellen Stand in Sachen Lebenshaltungskosten, Pläne fürs zweite Unabhängigkeits-Referendum, um den Besuch von William und Kate in Glasgow und den neuen schottischen Dr. Who!

Auszeit vom Chaos der Welt

Die Zeit vergeht hier auf der Insel – Klischee, Klischee! – tatsächlich langsamer. "Herrlich diese Ruhe hier, das Chaos der Welt ist so weit weg", sagt Fiona aus Ayrshire. Sie klettert in ihren 70ern mit zwei großen Flaschen Gin im Rucksack mehrere Stunden munter durch unwegsames Gelände. Ohne Muskelkater. Ich hingegen jammere noch zwei Tage später über eine Stunde Rad bei Regen.

"Meine Großmutter war Schottin. Während der Pandemie bin ich von England nach Schottland gezogen, um bei meiner Tochter und ihrem Mann – die hier beide in der Medizin arbeiten – und ihren Kindern zu leben", erzählt Fiona mir bei Omelette und Toast. "Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich hierhergezogen bin und endlich eine echte Stimme hatte." Sie erklärt mir, was sie damit meint: "Ich habe in England in einer erzkonservativen Gegend gelebt. Da war es egal, wen ich gewählt habe – es hatte null Effekt. Gewonnen hat immer der Tory. Aber weil Schottland ein Verhältniswahlsystem hat, hat meine Stimme hier einen Unterschied gemacht."

Kommunalwahl, Karaoke und das große Kotzen

Am 5. Mai waren in Großbritannien Kommunalwahlen. Wahlberechtigt waren in Schottland alle britischen und irischen Staatsbürger*innen und Menschen aus der EU mit Aufenthaltsgenehmigung, die in Schottland wohnen, im Wahlverzeichnis stehen und am Wahltag mindestens 16 Jahre alt waren. Wie little old me!

Schottland besteht aus 32 Kommunalverwaltungen (Councils), die ein Rat aus gewählten Mitgliedern verwaltet. Das Council kümmert sich um Schulen und Kindergärten, Sozialfürsorge, Müllentsorgung, Straßeninstandhaltung, Radwege, ÖPNV, Wohnungswesen, Bauanträge; teilweise auch Kultur, Sport, Freizeit und wirtschaftliche Entwicklung. Also alles Lebenswichtige.

Anders als in England werden die Stimmen bei den Kommunalwahlen in Schottland nach Verhältnis gewichtet. Das nennt sich "Single Transferable Vote" (STV). Statt also nur ein einziges Kreuz zu machen, nummeriert man hier die Kandidat*innen von 1 abwärts durch. Wenn die beliebtesten Kandidat*innen (mit vielen Nr. 1-Stimmen) eine bestimmte Schwelle erreichen und damit gewählt sind, gehen die restlichen Stimmen an die Nummer 2 auf dem Zettel usw. Hier ein Erklärtext von der BBC (Öffnet in neuem Fenster)

Die meisten Sitze hat die SNP (Scottish National Party) gewonnen: mit 453 Ratsmitgliedern sind das 22 mehr als bei der letzten Kommunalwahl im Mai 2017. Die Grünen haben die Anzahl ihrer Sitze verdoppelt. Auch Labour (grob vergleichbar mit der SPD) und Liberal Democrats (grob vergleichbar mit der FDP) konnten in Schottland aufholen. Für Nerds gibt’s hier eine detaillierte Übersicht (Öffnet in neuem Fenster) der Wahlergebnisse (inklusive Grafiken). XXL-Megaverlierer der Wahl waren die schottischen Konservativen – also der hiesige Flügel der Torys. Sie haben 62 Sitze verloren und in Edinburgh das schlechteste Ergebnis in 50 Jahren eingefahren. Schuld ist nach Ansicht des schottischen Partei-Vorsitzenden Douglas Ross natürlich Boris Johnsons Partygate – also der exzessive Alkoholgenuss und grobe Unfug des innersten Regierungszirkels mitten im härtesten Shutdown der Pandemie. Keinesfalls sein eigener Opportunismus oder gar die Dusseligkeit der schottischen Torys, Tausende für Wahlwerbung auf Facebook auszugeben, deren Zielgruppe zu 80 Prozent in England lebt.

https://twitter.com/rosscolquhoun/status/1522506540183339009 (Öffnet in neuem Fenster)

"Es besteht absolut kein Zweifel daran, dass die Menschen dem Premierminister und der Regierung eine Botschaft geschickt haben, insbesondere im Zusammenhang mit Partygate", meint Douglas Ross (Öffnet in neuem Fenster). Komplett Unrecht hat er ja nicht. Man kann sich das im Vergleich etwa so vorstellen: Angela Merkel kippt sich mit Mitarbeiter*innen im Kanzleramt bis morgens um vier einen hinter die Binde – inklusive Karaoke und Kotzen – während sich Familien nicht von ihren sterbenden Angehörigen verabschieden dürfen. Hier eine Zusammenfassung des aktuellen Partygate-Reports (Öffnet in neuem Fenster). Oder noch kürzer:

https://twitter.com/Kevin_Maguire/status/1529424718759174150 (Öffnet in neuem Fenster)

Unterdessen hatte sich die schottische Labour-Partei im Wahlkampf als Alternative zu den Torys positioniert, Letztere zu Recht für die Teuerungskrise verantwortlich gemacht und Koalitionen ausgeschlossen. Hier Labour-Chef Anas Sarwar vor der Wahl:

https://twitter.com/PhantomPower14/status/1527306566034022402 (Öffnet in neuem Fenster)

Deshalb sorgt es in Schottland für ziemlichen Unmut, dass Labour-Kandidat*innen jetzt doch in einigen Councils mit Torys gemeinsame Sache machen. Insgesamt ist die politische Lage also anhaltend frustrierend. "Ich habe quasi drei Scheidungen hinter mir: von meinem Mann, von der Kirche und jetzt von England. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dort zu leben, ich habe mich geschämt. Die Regierung in Westminster ist eine Schande. Moralisch komplett verkommen", sagt Fiona. Diese Meinung teilen alle Gäste, die ich am Frühstückstisch in diesem kleinen Cottage in Tiree treffe. Egal, ob aus Schottland oder England.

Lebenshaltungskosten-Krise und kein Ende

Auch die "cost of living crisis" ist hier noch immer Thema. Die Inflation liegt inzwischen bei neun Prozent (Öffnet in neuem Fenster) – so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Einige Foodbanks (also Tafeln) bitten um Nahrungsmittelspenden, die nicht gekocht werden müssen (Öffnet in neuem Fenster), weil Menschen in Geldnot sich kein Gas leisten können. Und über zwei Millionen Menschen in Großbritannien können sich kein Essen kaufen (Öffnet in neuem Fenster). Unfassbar bitter. Aber es wird noch schlimmer. Im April ist die britische Obergrenze für Energiekosten schon um knapp 700 Pfund (also ca. 820 Euro) pro Jahr angehoben worden; im Oktober werden’s geschätzt noch weitere 800 Pfund (Öffnet in neuem Fenster) (also ca. 940 Euro). Das ist dramatisch und wird weitreichende, langfristige, finstere Folgen haben.

https://twitter.com/fraserjfstewart/status/1529344519350767616 (Öffnet in neuem Fenster)

Unabhängigkeit – am liebsten gestern, oder?

Kein Wunder, dass die schottische Regierungspartei SNP weiter emsig an den Plänen für ein zweites Unabhängigkeits-Referendum feilt. Wir erinnern uns: Das erste Referendum fand 2014 statt, damals stimmten 55,3 Prozent der schottischen Bevölkerung für einen Verbleib in der Union – also dem Staat Großbritannien (bestehend aus den Nationen England, Wales, Schottland und Nordirland). Vor allem, um in der EU bleiben zu können. Doch dann kam 2016 der Brexit. Weil sich dadurch die Bedingungen drastisch geändert haben, will die SNP eine zweite Abstimmung: IndyRef2. Zwar hat die Corona-Pandemie hat den Zeitplan verzögert, doch Indyref2 ist weiter in Arbeit (Öffnet in neuem Fenster) und soll 2023 stattfinden.

"Ich würde sofort dafür stimmen. Ohne mit der Wimper zu zucken", sagt Fiona. Geht mir genauso, aber längst nicht allen anderen. Die Stimmung in Schottland ist uneinheitlich und bewegt sich nach wie vor so um 50/50. Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon (die sich kürzlich mit Corona infiziert hat) schrieb in einem Meinungsartikel (Öffnet in neuem Fenster): "Wie sähe Schottland heute aus, wenn wir nicht gegen unseren Willen aus der EU gezerrt worden wären, wenn wir nicht Boris Johnson als Premierminister hätten und wenn wir nicht mit einer Tory-Regierung leben müssten, die auf die Lebenshaltungskosten-Krise mit Gleichgültigkeit, Untätigkeit und Beleidigungen reagiert?" Und weiter: "Wir werden demnächst einen neuen Bericht über die Möglichkeiten veröffentlichen, die eine Unabhängigkeit Schottlands bietet. Der Bericht wird Herausforderungen offen benennen, aber auch die enormen Chancen nicht verschweigen." Ich halte Augen und Ohren offen und sage Bescheid!

Rod statt Royals!

Eindeutiger sieht es mit dem Zuspruch für die Monarchie in Schottland aus. Nicht mal die Hälfte der Schott*innen ist für die Royals (Öffnet in neuem Fenster). Aber seit der Absetzung des letzten Stewart-Monarchen James VII. und II. Ende 1688 und mit der Installation des Hauses Hannover in 1714 ist das britische Königshaus mittlerweile ohnehin eher deutsch als britisch oder gar schottisch. Auch deshalb hielt sich auch das Aufsehen anlässlich einer Stippvisite von William und Kate in Glasgow ziemlich in Grenzen, gelinde gesagt.

https://twitter.com/ScotNational/status/1524420818939396096 (Öffnet in neuem Fenster)

Ein weiterer Promi, der Glasgow im Mai einen Besuch abgestattet hat: Rod Stewart! Im Pub Dirty Duchess im West End schenkte er nach einem Fußballspiel lässig Bierchen aus (Öffnet in neuem Fenster). Rod ist nämlich leidenschaftlicher Celtic-Fan. Und na ja, er heißt immerhin Stewart mit Nachnamen. Close enough!

https://www.facebook.com/photo.php?fbid=418589580268493&set=a.194973822630071&type=3 (Öffnet in neuem Fenster)

Weil wir grad von Fußball sprechen, sei der Vollständigkeit halber erwähnt: Celtic ist schottischer Meister geworden (Öffnet in neuem Fenster), Rangers haben im Finale der Europa League gegen Eintracht Frankfurt verloren (Öffnet in neuem Fenster). Some guys have all the luck.

Der neue Dr. Who ist (wieder) ein Schotte

Ebenfalls Glück hatte Ncuti Gatwa, den meisten am ehesten bekannt aus der Netflix-Serie Sex Education – er ist nämlich der neue Dr. Who (Öffnet in neuem Fenster). Damit ist der Doktor nach David Tennant 2005 bis 2010 wieder ein Schotte. Eine hervorragende Wahl (Öffnet in neuem Fenster)! Ncuti ist 1994 als Kleinkind mit seiner Familie vor dem Genozid in Ruanda nach Schottland geflohen, in Edinburgh und Dunfermline aufgewachsen und hat seine Schauspiel-Ausbildung in Glasgow absolviert. Hier ein kleiner Interview-Schnipsel mit ihm, in dem er über seine schottische Identität spricht:

https://twitter.com/BBCScotland/status/1523680193411530754 (Öffnet in neuem Fenster)

Auf dieser Insel habe ich übrigens statt einer TARDIS eine von diesen putzigen alten, roten Telefonzellen gefunden. Charming!

Tiree ist aber auch zu wunderbar, auf eine herbschöne, friedliche Weise. Hebriden halt! Bisher war ich auf Mull, Iona, Arran und jetzt eben hier auf Tiree. Irgendwann will ich noch nach Skye, aber auch nach Islay, Gigha, Rùm und Eigg, Ulva, Luing, Lewis und Barra – da landet das Flugzeug nämlich direkt am Strand. Welche schottischen Inseln stehen auf deiner Liste oder gehören unbedingt auf meine? Schreib mir: jessicabwagener (at) web.de

Hier noch ein Insel-Foto aus dem Happy Valley (heißt tatsächlich so) weil's so schön ist. Schade, dass ich in wenigen Stunden wieder zurück nach Glasgow muss...

Aber da Reisen jetzt wieder erlaubt sind – planst du in absehbarer Zeit einen Schottland-Trip? Ich plane nämlich einen Blogpost mit persönlichen Reise-Tipps. Als Inspiration hier schon mal eine Übersicht mit den besten Highland Games (Öffnet in neuem Fenster) in diesem Sommer. Und für Whisky-Fans hier die schönsten Destillerien (Öffnet in neuem Fenster), Strathisla sieht uneingeschränkt spektakulär aus. Obwohl sie nicht auf der Liste steht, hat mir ja Glengoyne in der Nähe von Glasgow auch sehr gut gefallen. Vor allem geschmacklich. In den Highlands wurde übrigens 2021 eine vergessene illegale Destillerie (Öffnet in neuem Fenster) aus dem 18. Jahrhundert entdeckt. Whisky gehört eben zu Schottland!

Das war’s für den Mai. Lass mich gern wissen, welche du Themen vermisst oder schick mir deine Anregungen und Fragen – Feedback ist stets sehr willkommen. Danke auch noch mal dafür, dass du meine Arbeit hin Schottland unterstützt. Wir hören uns dann Ende Juni wieder.

Grüße aus Glasgow und haste ye back!

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