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„Schön, dass es uns noch gibt“

Über Glück im Unglück, Zufriedenheit und Motivation an einem Ort der Stille - mit Simone Müller, 50, aus Aschaffenburg

„Der 11. Mai 1991 war zunächst einmal ein schöner Tag. Ich war 19 Jahre alt und mit einer Freundin in der Disco, „Frosch sucht Teich“ hieß die Veranstaltung für Singles. Wir lernten vier junge Männer kennen, die uns mit in eine weitere Disco nehmen wollten. Als wir von Alzenau in Richtung Kahl am Main fuhren – eine schnurgerade Strecke, die mittlerweile umgebaut ist – überholten mich die Jungs. Ich wollte aber nicht überholt werden. Also habe ich auch überholt. Nur kannte ich die Strecke nicht und wusste nicht, dass eine scharfe Kurve auf mich wartet.

An einem Bahnübergang bin ich an einer Schwelle abgehoben, am Ortschild vorbeigeflogen und in der Kurve nicht nach links, sondern geradeaus gerast. Mit dem Fuß auf dem Gaspedal. 

An den Aufprall habe ich keine Erinnerung. 

Ich bin genau auf meiner Seite in eine Hausecke geprallt. Ich war nicht angeschnallt, bin auf meine Beifahrerin gefallen, habe ihr den linken Arm durchgetrümmert. Ich hatte den Motorblock auf dem Schoß, das Kupplungspedal durchs linke Sprunggelenk geschlagen und im Oberschenkel die Gangschaltung stecken.

Unser Glück war, dass die vier Jungs aus der Disco Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr waren und direkt einen Notruf abgesetzt haben. Ich kam nach Aschaffenburg ins Klinikum und von dort aus gleich mit dem Hubschrauber in die Uniklinik Würzburg. Ich hatte 33 Brüche und ein Schädel-Hirn-Trauma. Heil waren eigentlich nur noch meine Arme und die Schultern. Nach acht oder neun Tagen wachte ich in Würzburg aus dem Koma auf und wusste gar nichts mehr. Ich wollte raus, ins Zeltlager fahren!

Als ich nach meiner Beifahrerin fragte, wurde mir gesagt, es gehe ihr gut. Gut ist relativ.

Aber sie hatte überlebt. Es dauerte mehr als einen Monat, bis wir uns das erste Mal sprechen konnten. Ich lag ja auf der Intensivstation, da war telefonieren – damals auch noch ohne Handy – schwierig.

Es hat lange gedauert, bis mir klar war, dass durch den Unfall etwas ganz Lebensveränderndes, Einschneidendes passiert ist. Als ich endlich auf Normalstation kam, lag ich mit einer jungen Motorradfahrerin auf dem Zimmer, die in Folge eines Unfalls ein Bein verloren hatte. Diese Veränderung war für mich in dem Moment offensichtlicher als das, was mit mir passiert war. Aus dieser Begegnung ist eine lebenslange Freundschaft geworden. Ich habe ihr den Stumpf aufgemalt, wir haben unsere Witze gemacht. Aber dass mein eigenes Leben sich ebenfalls unwiderruflich verändert hat, das kam mir erst nach und nach.

Viele Jahre lang lag ich mit nur kurzen Unterbrechungen im Krankenhaus oder war auf Kur, wurde immer wieder operiert. Ich lag lange Zeit in einer Gipsliegeschiene, musste langsam in einem Hängewagen wieder laufen lernen. Das war eine harte Zeit, in der ich oft den Gedanken hatte, dass ich das alles nicht will.

Ich musste allein schon um den Willen kämpfen, aus dem Rollstuhl herauszukommen. Ich war gerade 19 Jahre alt geworden, alle anderen gingen raus um zu leben, mein Leben war gerade vorbei. So fühlte es sich an. Meine Freunde gingen in die Disko oder engagierten sich politisch, ich schaute aus dem Fenster. Ich schaue deshalb kaum Fernseher. Ich habe lange genug auf einen kleinen Ausschnitt geschaut.

Anfangs, als ich zwischendurch nach Hause kam, holten mich meine Freunde manchmal ab, aber ich habe für kleinste Strecken ewig gebraucht. Einmal nahmen sie mich mit in die Disco, und als wir endlich an den Eingang kamen, ließen mich die Türsteher mit meinen orthopädischen Turnschuhen nicht rein. Also mussten mich meine Freunde wieder heimfahren.

Was auch immer ich versuchte, es gab immer irgendeine blöde Hürde. Ins Schwimmbad wollte ich nicht, denn ich sehe aus wie Frankensteins Monster, alles ist zusammengeflickt und zusammengenagelt. Bis ich den Behindertensport für mich entdeckte. Dort fuhr ich beim Rollstuhlbasketball mit und lernte tolle Menschen kennen.

Nach einem solchen Unfall musst Du weitermachen wollen, und trotzdem sind viele Tiefpunkte dabei. Mich hat es zum Beispiel anfangs furchtbar aufgeregt, dass meine Eltern jeden Tag ins Krankenhaus kamen. Als Kind hatte mein Vater nie Zeit für mich, auf einmal stand er jeden Tag am Bett. Ich habe ihn weggeschickt. Später wurden wir dann doch gute Freunde, und er gab mir einen Anstoß, eine Motivation, aus meinem Tief herauszukommen.

Er sagte nämlich zu mir: Du suchst den Sinn des Lebens, den findest Du aber so nicht. Eines Tages stellte er mich einfach mitten in eine Kapelle hinein und ging raus. Ich war so sauer! Ich konnte ja nicht alleine weg. Da stand ich eine Stunde, in der so viel passiert ist. Ich kann es nicht erklären, aber diese eine Stunde hat mir Auftrieb gegeben. Vielleicht müsste ich nochmals dort hinfahren, um das Gefühl nachzuempfinden. Es war erwärmend, das trifft es vielleicht ganz gut.

Was mich auch motiviert hat: Schlüsselmomente. Ein Bekannter ist bei einem Motorradunfall verunglückt. Ich hatte das Gefühl, dass ich für ihn weiterleben muss. Und ich sah ein Kind im Krankenhaus, das aus dem Balkankrieg nach Deutschland ausgeflogen worden war. Als ich eines Tages mit meinem Bett im Flur stand und telefonierte, war da dieses Kind aus dem Kriegsgebiet. Ohne Arm, ohne Bein. Da dachte ich mir: Was jammerst Du eigentlich. Schau, dass Du in die Gänge kommst und übe.

Meine Eltern und meine Beifahrerin haben mir nie Vorwürfe gemacht. Meine Mutter hat mich erst 15 Jahre später geschimpft, als ich den Motorradführerschein machte und am Tag vor der Prüfung einen Unfall hatte. Die Maschine lag auf meinem linken Fuß, der ja schon einmal abgetrennt war, und das Sprunggelenk war wieder kaputt. Ich musste operiert werden, und da sagte sie: Den Führerschein ziehst Du jetzt durch. Habe ich auch gemacht. Motorrad fahre ich heute aber nicht.

1998 war ich zum ersten Mal wieder richtig zu Hause, sieben Jahre nach dem Unfall. Ich konnte wieder laufen, zur Arbeit gehen. Meinen alten Beruf, Fleischereifachverkäuferin, konnte ich nicht mehr ausüben. Ich habe auf Reiseverkehrskauffrau umgeschult und arbeite heute im Sanitätshaus. Dort berate ich Menschen mit Schmerzen, die medizinische Hilfsmittel benötigen. Mit Schmerzen kenne ich mich aus. Im Sanitätshaus bin ich aufgegangen wie die Sonne. Das war ein Muss, ich musste dorthin. Ich habe dort meine Aufgabe fürs Leben gefunden. Meine Arbeit dort ist eigentlich die einzige Situation, in der ich kaum Schmerzen habe.

Der Unfall hat mich verändert. Ich bin ruhiger geworden. Ich bin mehr für andere da, bin aufmerksamer, obwohl ich mich nicht als einfühlsam bezeichnen würde. Ich bin zufrieden. Ich bin nicht eifersüchtig, nicht neidisch, ich gönne jedem alles. Ich akzeptiere sehr schnell. Ich lebe jeden Tag, wie er kommt, ich schaue nach vorne. Was passiert ist, kann ich nicht mehr ändern.

Der Unfall hat viele Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend abgeschnitten, und mir fehlen viele Worte. Trotzdem hadere ich nicht mit meinem Schicksal. Ich wüsste nicht, ob mein Leben so schön, toll, aufregend verlaufen wäre, wenn ich den Unfall nicht gehabt hätte. Trotzdem denke ich noch ziemlich oft daran. Allein schon jedes Mal, wenn ich zur Haustür rausgehe und zwei Stockwerke überwinden muss. Das ist manchmal sehr schwierig, dann muss mein Sohn mich an der Hüfte die Treppe raufschieben.

Zehn Jahre nach dem Unfall bin ich die Strecke abgefahren. Ich habe lange gebraucht, um an diesen Ort zu fahren. Obwohl ich vom Unfall nichts mehr weiß, fühle ich mich unwohl und tue mir bis heute sehr schwer damit, dort entlangzufahren. In dieser Zeit war ich auch nochmals bei den Hausbesitzern, in deren Hausecke ich gefahren bin – und habe versucht herauszufinden, wer die vier Jungs aus der Disco, unsere Ersthelfer waren. Leider ist mir das nicht gelungen. Ich hätte mich gerne bedankt.

Meine Beifahrerin und ich schreiben uns jedes Jahr zum Geburtstag, zu Weihnachten und am Unfalltag: „Schön, dass es uns noch gibt.“

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