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Lebenslügen der Einwanderungsgesellschaft

Wir lügen uns in den Sack: Migration verändert das Selbstbild von Nationen. Aber das ist nur eine Fiktion. Dass sie steuerbar wäre oder irgendwie aufzuhalten, ist eine weitere. 

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Zweitens, noch ein paar Texte von mir aus den vergangenen Tagen, die Sie vielleicht auch interessieren könnten. 

In meiner taz-Kolumne beschäftige ich mich mit den Schüttaktionen der Klimaaktivisten in Museen, aber vor allem mit der Frage: Kann man Gesellschaften eher ändern, wenn man versucht, auf moderate Weise auf Mehrheiten einzuwirken, oder eher, wenn man auf radikale Weise schockt und provoziert. Spoiler: Die Antwort ist gar nicht so eindeutig. Hier gehts lang. (Öffnet in neuem Fenster)

In meiner Kolumne auf Social Europe grüble ich über die Frage, ob die Verrohungen der radikalen Rechten den Begriff der Faschisierung rechtfertigen, oder ob das übertrieben ist. Hier zur englischen Version. (Öffnet in neuem Fenster) Eine spanische Version gibt es hier. (Öffnet in neuem Fenster)

In einem Essay für die Neue Zürcher Zeitung habe ich mich mit der Frage beschäftigt, was Verschwörungstheorien attraktiv macht, warum sie fesselnd sind und natürlich auch unterhaltsam. Hier zum Nachlesen. (Öffnet in neuem Fenster)

Aber jetzt zum Thema von dieser Woche. 

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Bei der Frage der Migration geht es auch um die Identität von Nationen, nicht nur um praktische Fragen wie jener, wer Zugang zu Einwanderung, zur Staatsbürgerschaft hat, oder was jetzt genau und exakt die Aufnahmekapazitäten von Gesellschaften sind. Manche Gesellschaften mögen sich noch in den letzten Phasen jener Wolkenkuckucksheim-Idee befinden, dass Migrantinnen und Migranten in eine Nation mit historischer Eigenart und hergebrachter Nationalkultur immigrieren und dann von dieser langsam aufgesogen werden – dass also ein Prozess der Assimilation die Migranten verändert, nicht aber die Einwanderungsgesellschaft. Oder dass sich ein Teil assimiliert, ein anderer Teil ein inneres Ausland bleibt, also am Rand der Gesellschaft. 

Faktum ist, dass Migration Gesellschaften verändert – und auch das ist nur so eine Phrase, die eher untertreibt. Wenn dieses Faktum zu dämmern beginnt, steigt mancherorts die Angst, dass „die Einheimischen“ zu „Fremden im eigenen Land“ werden. Das hat Aspekte des Paranoiden, aber auch einen realen Kern: Nationen müssen sich fragen, was ihre neue Identität ist. Das betrifft zunächst besonders jene Nationalstaaten, die der Fiktion einer ethnisch relativ homogenen Staatsbevölkerung anhängen (Deutschland mit der lange gepflegten Abstammungsidee ethnischen „Deutschtums“ betrifft das etwa, aber auch die skandinavischen Länder, die früher ja tatsächlich eine relative ethnische Homogenität aufwiesen). Länder mit langer multikulturellen Einwanderungsgeschichte wie Österreich betrifft das auf andere Weise, und Nationen wie die USA noch einmal anders. 

Multiethnische Nationen ohne „Leitkultur“

Doch die Differenzen sind gar nicht so groß, wie man denkt. Selbst die USA mit ihrem Selbstbild als Schmelztiegel und Einwanderungsgesellschaft waren implizit lange geprägt von der Idee der dominanten weißen, englischstämmigen, protestantischen Ethnie, die der „Kultur“ der Vereinigten Staaten ihr Gepräge gäbe. Deren numerische Dominanz wurde allerdings schon vor mehr als hundert Jahren in Frage gestellt, sodass andere weiße Bevölkerungsgruppen in diese quasi eingemeindet wurden, sogar Nationen, die einst gar nicht als „Weiße“ akzeptiert waren, also Iren, Italiener, Griechen und so weiter. 

Kurzum, letztlich betrifft es sehr viele Nationen, trotz aller Differenzen, auf ähnliche Art und Weise: relative Mehrheiten sehen sich bedroht darin, ihren Mehrheitsstatus zu verlieren, ihren Status als prägende Gruppe der Nation. In den USA, so die Prognose, wird der hispanicstämmige und der schwarze Bevölkerungsteil die weiße Bevölkerungsgruppe zahlenmäßig in den 2040er Jahren übertreffen. In unseren Breiten sind solche Entwicklungen eher noch eine Phantasie, aber sie werden durch alarmistische Zahlen oder auch Märchen gefühlsmäßig gestützt. In Österreich sind etwa 8-9 Prozent der Wohnbevölkerung Muslime, aber viele Menschen haben das Gefühl, es wären eher 25 bis 30 Prozent. In einigen Gegenden ist die Mehrheit der Wohnbevölkerung nicht in Österreich geboren. Viele längst eingesessene Zuwanderer werden zu Fremden gemacht – etwa Zuwanderer der dritten Generation, sogar dann, wenn sie mit der hiesigen Staatsangehörigkeit geboren wurden. Herkunftsnationalitäten werden politisiert und ideologisiert, oft auf absurde Weise. Niemand würde ja von mir sagen, ich sei „ungarisch“ oder „tschechisch“, trotzdem ich dritte Einwanderergeneration bin. Die Ideologisierung ist aber natürlich nicht nur ein Fiktion, denn heute bleiben Herkunftscommunities oft sehr viel prägender als früher. 

Die „alte, weiße Arbeiterklasse“

Um die schwierigen Fragen dieser Art kreist das neue Buch des britisch-amerikanischen Politikwissenschaftler Justin Gest. „Majority Minority“, heißt es. Zuvor hatte Gest schon mit einer famosen Studie für Aufsehen gesorgt. „The New Minority“, über die Verwundungen der weißen Arbeiterklasse, die sich durch Ungleichheit und Abstieg in Status und Prestige an den Rand ihrer Nationen gerückt sieht. Dass die beiden Themen zusammenhängen, ist augenfällig. Insofern ist die neue Studie auch eine Art Fortsetzung der alten. Diese weiße Arbeiterklasse lebt schließlich in unterprivilegierten Stadtteilen, in genau jenen, in denen sich auch (Armuts-)Migration ballt, und sie erlebt daher die Migration und die Veränderung ihrer Lebenswelt als Symptomatik ihres Abstieges, um nur einen Aspekt zu nennen. 

Mit der ethnischen und lebenskulturellen Diversität – was letztendlich dazu führt, dass eine Gesellschaft die Summe von verschiedenen Minoritäten ist – kommt notgedrungen die Frage auf: Wer sind WIR? Die Abwehr gegen Migration und der irreale Wunsch, man möge gewissermaßen das Rad zurück drehen ist nur eine radikale Form, in der sich das äußert. Eine andere ist die Frage nach dem neuen WIR, das dann fast schon panisch gesucht wird. „Sogar die am meisten demokratischen Staaten der Welt sind in einem ethnoreligiösen, vorgängigen Verständnis von ‚dem Volk‘ verwurzelt“, schreibt Gest, hängen also einer Vorstellung vom „normalen Volk“, die zunehmend unhaltbar wird. 

Der neue Backlash

In der Realität wird versucht, weitere Einwanderung zu verhindern, oder Einwanderer vom politischen Leben auszuschließen (was nur die Probleme vergrößert, denen man damit zu begegnen hofft). Noch häufiger werden Mischformen „gewählt“ (sie werden nicht bewusst gewählt, sie mendeln sich raus). Einwanderern wird die Einwanderung ermöglicht, aber erschwert, ihnen wird der Zugang zur Staatsbürgerschaft schon ermöglicht, aber zugleich erschwert, bestimmten Einwanderungsgruppen wird die Aufnahme ins WIR erleichtert, gerade um sie anderen zu erschweren, und wenn es sehr viel Zuwanderung gibt – sich also das Entstehen eines neuen Wirs nicht mehr leugnen lässt – gibt es einen beinahe naturnotwendigen Backlash. Man beginnt dann zugleich nach neuen vereinigenden Narrativen für das Gemeinwesen zu suchen (so würde sich der demokratisch-pluralistische Geist des deutschen „Verfassungspatriotismus“ anbieten), zugleich erweisen sich rein verfassungsorientierte Gemeinschaftsgeschichten oft als „zu dünn“ für echten Zusammenhalt, gerade wenn sie mit ethnoreligiösen Gemeinschaftsgefühlen rivalisieren. 

Die neue Mehrheit – Trägerin des neuen WIR

In schematischen Auffassungen stoßen dann die „Einwanderungsgesellschaft“, deren Mitglieder Ansprüche beispielsweise auf Repräsentanz oder Gleichberechtigung stellen, und die „alte, autochthone Mehrheitsgesellschaft“ aufeinander. So schematisch ist das aber natürlich nur am Reißbrett oder in den Parolen der Populisten und Rechtsextremisten, denn die reale Welt ist voller Grauzonen, besteht nicht nur aus zwei oder drei Gruppen, sondern aus dutzenden Milieus und Sub-Milieus. Die Einwanderer sind so divers wie die autochthone Bevölkerung. Und in den meisten Gesellschaften dominieren dann jene Teile der Herkunftsgesellschaft, die sich adaptieren und jene Teile der Einwanderunggesellschaften, die das ebenfalls tun. In Wirklichkeit sind sie dann die neue Mehrheit, die das postnationale oder post-ethnische Wir bilden, wo es dann teils sowieso keine Trennung und keine Fremdheitsgefühle mehr gibt (etwa in den Schulen, Universitäten, in den Büros), oder wo Bevölkerungsgruppen Kontakt haben, aber nicht sehr engen, wo man zusammenlebt, aber auch nebeneinander her lebt. Unter den Einwanderern gibt es verbiesterte Ethnonationalisten, in der autochthonen Bevölkerung auch, aber sie sind selbst Minderheiten. Und so weiter. Also: Nicht die alte Mehrheit wird von einer Minderheit verdrängt und „outnumbert“, sondern letztendlich ist es so, dass eine ganz neue Mehrheit entsteht, die womöglich sogar so etwas wie eine neue Nationalgeschichte, auch einen freundlichen Nationalstolz entwickelt, eine Geschichte vom Gemeinwesen, in der die respektablen und achtbaren Teile der Nationalgeschichte, die demokratischen Errungenschaften ebenso eingehen wie der Stolz darauf, dass man Neuankömmlinge zu Landleuten machen konnte. 

Pendel hin, Pendel her

Aber die Adaption und der Backlash, sie gehen eben Hand in Hand. Und zwar, so können wir Gests These verstehen, eben deshalb, weil Immigration nicht nur dazu führt, dass dann hier plötzlich Menschen wohnen, die anders aussehen, die eine andere Sprache sprechen oder was auch immer, sondern weil die Einwanderungsgesellschaften ihren Charakter ändern, was für diese und ihre Bürger und Bürgerinnen eine Herausforderung ist. Teile der autochthonen Bevölkerung verlieren Status, es fühlt sich für viele aber auch nach einem Verlust nach Heimat an. Das Land, in dem sie aufwuchsen, existiert so nicht mehr, es gibt ein neues, das den Umgang mit sich selbst erst finden muss. Ist darüber hinaus für einem auch alles unsicher, wird mit Abwehr reagiert. Der Backlash selbst hat seine paradoxen Seiten, er beschleunigt die Eingemeindung jener, die man zu „Ähnlichen“ erklärt und verstärkt zugleich die Diskriminierung einzelner Einwanderergruppen, die zu besonders „fremden Fremden“ gemacht werden. Aufsehenerregende Verbrechen tragen dazu bei, wie etwa der jüngste Messermord eines Asylbewerbers aus Eritrea an einem türkischstämmigen deutschen Schulmädchen.

Eingemeindung der Ähnlichen, Ausgrenzung der „fremden Fremden“ 

Vor dreißig Jahren machte die österreichische FPÖ noch ihr Anti-Ausländervolksbegehren gegen Flüchtlinge aus Bosnien und Zuwanderer aus Ost- Mitteleuropa. Zur Politik von „Whiteness“ gehört, dass diese ehemaligen Osteuropäer heute selbstverständlich zum Wir gezählt werden, auch die türkischstämmigen Einwanderer zählen nach und nah eher dazu, während sich die Abwehr auf die „illegale“ Migration konzentriert, gegenwärtig in unseren Breiten auf Afghanen und Syrer plus Nordafrikaner. Eine gewisse Akzeptanz jener, die bereits hier sind, kann problemlos Hand in Hand mit der Abwehr jeder weiteren Migration gehen. Praktische Fragen der Aufnahmekapazitäten der Einwanderungsgesellschaften spielen hier genauso hinein wie die Geschwindigkeit des demografischen Wandels. Letztlich wissen alle, von eingefleischten Rassisten abgesehen, dass sie den ethnodemografischen Wandel akzeptieren müssen, viele wollen aber einfach seine Geschwindigkeit reduzieren. Zugleich sind auch viele „Befürworter“ von Migration – und sogar viele aus den Migrantencommunities – derselben Meinung, nämlich, dass man allzu starken weiteren Zuzug reduzieren müsse, um nicht die Akzeptanz der Einwanderung zu unterminieren. 

Die Schwierigkeiten mit der Migration sind also vielgestaltig, und sie überlappen sich. Gesellschaften bestehen aus den Angehörigen der bisherigen autochthonen Bevölkerung sowie jenen Migrantinnen und Migranten, die jetzt schon hier sind, und die autochthonen Bevölkerungsgruppen müssen damit zurande kommen, dass sie nicht automatisch die (allein) bestimmende Gruppe sind, auch hinsichtlich des Selbstverständnisses der Nation. Etwas anderes ist das Thema der Migration jener, die noch nicht hier sind, aber hierher kommen werden (oder kommen wollen). 

Die nächste Lebenslüge: Künftiger Zuzug wäre steuerbar

Natürlich sind diese Thematiken nicht völlig getrennt, aber sie sind auch nicht identisch, wie man an jenen Migrantengruppen sieht, die gegen weitere Migration sind. 

Die USA bauten unter Donald Trump eine Mauer gegenüber dem Süden, mit der Absicht, die irreguläre Migration zu unterbinden. Die Europäische Union versucht ähnliches, mit Abmachungen mit der Türkei, mit Zaunbau zwischen Bulgarien und der Türkei, neuerdings auch mit völkerrechtswidrigen Pushbacks, mit Frontex in der Ägäis usw. All das ist von einer Vielzahl von Fiktionen begleitet. Es beginnt schon mit der Fiktion, dass Zäune und Mauern etwas bewirken, dass entschlossene Pushbacks etwas bewirken. Das ist letztlich nicht der Fall. Natürlich kann man Migration erschweren und damit reduzieren, sie wird aber dennoch stattfinden. Eine weitere Fiktion ist die Differenzierung zwischen „legaler“ und „illegaler“ Migration. Da legale Migration ja für die allermeisten gar nicht zugänglich ist, ist ein erhebliche Teil der normalen Migration eine „illegale“ Migration, wenn man darunter das irreguläre Überschreiten einer Grenze versteht. Eine dritte Fiktion ist die Vorstellung, die Sache ließe sich durch klügere Politik in Bahnen lenken, die sowohl humanitär als auch rechtsförmig sind. Hinzu kommt in Europa noch die Eigenart, dass viele Migrantinnen und Migranten auf das Asylsystem ausweichen müssen, weil es für sie kein anderes Vehikel für Einwanderung gibt. 

Nun gibt es eine besonders haltbare Fiktion, nämlich folgende: Man müsse die menschenrechtlichen Standards halten – also etwa das Recht auf Asyl für individuell Verfolgte und das Recht auf Schutz für Kriegsflüchtlinge und Vertriebene –, was ja nur dann gewährleistet werden kann, wenn jeder Zugang zu einem Verfahren hat, das dann klärt, ob ihm dieser Schutz zusteht. Beliebt ist dann jene Fiktion: Man muss bessere und schnellere Verfahren haben, die klären, wer ein Anrecht auf Schutz hat und wer wieder gehen muss. 

Auch menschenrechtsorientierte Linke hängen dieser Fiktion an: Sie halten die rechtsstaatlichen Verfahren hoch, und wenn sie das tun, dann folgt daraus natürlich zwingend, dass jene, deren Asylgründe in einem rechtsstaatlichen Verfahren als nicht vorhanden beschieden werden, gehen müssen. Andernfalls wäre ja das Verfahren sinnlos.

Die Phantasie des Rechtsystems

Der Punkt ist nur: Das wird nicht geschehen. Das ist die größte Fiktion, denn: Wer es hierher schafft, der wird auch hier bleiben, jedenfalls zum allergrößten Teil. Gerade hatte die deutsche „Zeit“ einen sehr eindrucksvollen Text zur Causa. 300.000 Menschen in Deutschland sind gegenwärtig „ausreisepflichtig“. Die Geschichte der vergangenen 40 Jahren ist die Geschichte von vielen hunderttausend Menschen, die nur eine temporäre Duldung hatten, die mit Ausweisung und Abschiebung bedroht waren, und die dennoch natürlich blieben, deren Start ins neue Leben aber durch strukturelle Unsicherheit erschwert war. Heute sind viele bereits Staatsbürger, einer, dessen Kindheit so überschattet war, sitzt mittlerweile als SPD-Abgeordneter im Bundestag. Resumee der „Zeit“: „Die allermeisten Menschen, die nach Deutschland kommen, werden bleiben.“ Ganz brutal gesagt: Auch wenn man 10.000 afghanischstämmige Menschen aus Deutschland abschiebt, werden von den heute rund 310.000 immer noch 300.000 bleiben, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. 

Hier der Link zum Zeit-Artikel: Ende einer Illusion (Öffnet in neuem Fenster)

Wessen Asylverfahren negativ endet (oder wer gar keines durchläuft und keinen ordentlichen Aufenthaltstitel hat), der bekommt eine Ausreiseaufforderung. Aber das ist es dann schon. Wenn er ihr nicht nachkommt, bleibt er in den meisten Fällen hier. Egal ob man das gut findet oder schlecht, es ist das Faktum. In die allermeisten Herkunftsländer gibt es keine Abschiebungen, keine Rücknahmeabkommen, und wenn einmal drei Prozent der Betroffenen abgeschoben werden, sind die Kapazitäten dafür schon ziemlich erschöpft – verglichen mit den 97 Prozent anderen ist das aber statistisch irrelevant, wenngleich es für die einzelnen Personen relevant ist. 

Auf diese Fiktion stützt sich aber in den meisten Ländern die politisch-juristische Idee vom Asylverfahren: Während des Verfahrens darf man nicht arbeiten, erhält keine Unterstützung, nur ein Dach über den Kopf und ein kleines Taschengeld, im Grunde auch keine Integrations- und Sprachkurse. Im Extremfall sitzt man jahrelang untätig rum. Was übrigens dann erst recht dazu führt, dass die Probleme mit Kriminalität und Zukunftslosigkeit entstehen, deren Auswirkungen man dann anprangert. 

Würde man der Realität in die Augen blicken, der Realität nämlich, dass, wer hier her kommt, hier auch bleiben wird, dann müsste man ganz anders verfahren: Wer hier ankommt, bekommt sofort intensive Deutsch- und Integrationskurse, ohne dass ein Tag Zeit verloren geht. Und Zugang zum Arbeitsmarkt. Und und und. 

Gerald Knaus, der Wissenschaftler und Leiter des Think Tanks ESI, hat in seinem eben erschienenen Buch „Wir und die Flüchtlinge“ die inneren Ungereimtheiten, Fiktionen und nackten Wahrheiten der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik eindrucksvoll beschrieben. Europa verübt mittlerweile strukturell Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen: In der Ägäis wird eine Politik des Ertrinkenlassens verfolgt, Menschen werden auf seeuntüchtigen Pontons einfach aufs offene Meer zurückgedrängt. An den Binnengrenzen wird mit Hunden Jagd auf Männer, Frauen, kleine Kinder gemacht. Meterhohe Zäune wurden errichtet, die von Flüchtlingen mit langen Leitern überstiegen werden. Werden sie sechs Mal geschnappt, versuchen sie es eben ein siebentes Mal. An der polnisch-weißrussischen Grenze wurden Flüchtende einfach zurückgedrängt, viele sind im Winter in den Wäldern im Grenzgebiet erfroren. Dabei werden sogar Menschen zurück und in Gefängnis, Folter und Tod gedrängt, die ein Anrecht auf Schutz hätten – wie etwa regimekritische Journalistinnen aus der Türkei. Es wird nicht groß gefragt, wenn Leute zurück über eine Grenze getreten werden. Sogar einen EU-Bürger, der als Übersetzer da war, hat es einmal irrtümlich "erwischt".

„System des Schreckens“ an den Außengrenzen

Die Außengrenze ist vorsätzlich zu einer Todeszone gemacht worden – und dieses „System des Schreckens“ (Knaus) erzielt nicht einmal das gewünschte Resultat. Großmäulige Migrationsbekämpfer wie Viktor Orban versuchen nicht einmal illegale Pushbacks, sobald Menschen ihre Grenze überschritten haben (logischerweise, denn kein Land übernimmt Nicht-Staatsbürger, wenn die das eigene Staatsgebiet einmal überschritten haben), sondern verfolgen eine Politik des schnellen Durchwinkens. Hierzulande werden Rhetoriken der Eskalation und der Härte angeschlagen, aus denen aber auch nichts folgt außer eine Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas und eine Kultur des Flüchtlingsquälens. Denn natürlich übernehmen Ungarn, Serbien oder Bulgarien oder Griechenland keine Flüchtlinge, deren Asylverfahren negativ beschieden worden ist, und ihre Herkunftsländer nehmen sie auch nicht zurück. 

Die leisen Technokraten geben vor, eine zufriedenstellende Lösung zu suchen – die populistischen Schreihälse tun so, als hätten sie eine. 

Die Realität schert sich um beide eher wenig. 

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