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Bitterkeit als politisches Phänomen

Der aggressiv-rasende Verbitterte als zeittypische Figur des Rebellentums. Auf der Spur eines besorgniserrägenden Typus. 

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Emotionen haben eine individuelle Seite, aber oft auch eine gesellschaftliche. Nicht zufällig sprechen wir von „kollektiven Emotionen“. In meiner Emotionalität bin ich individuell, als Person verstrickt, aber nicht immer ist es meine Privatangelegenheit, dann nämlich, wenn andere genauso oder auf ähnliche Weise verstrickt sind. Wir haben in den vergangenen Jahren die politisch-emotionale Wirkung von „Verbitterung“ oder „Bitterkeit“ kennengelernt. Wer vom Leben geprügelt ist, von Unsicherheit befallen ist, das Gefühl hat, dass es nicht gerecht zugeht, wer Schläge einstecken musste, der kann in einen ganzen Prozess der Verbitterung hineingeraten. Das kann jene betreffen, die in ihrem ganzen Leben nur die Erfahrung von Chancenarmut und Chancenlosigkeit machten, es kann aber auch jene befallen, die einen bestimmten Status erreicht hatten und diesen dann verlieren. In Kapitel 6 meines 2019 erschienenen Buches Die falschen Freunde der einfachen Leute schreibe ich: „Menschen sind eher frustriert über das, was sie verloren haben, als über etwas, das sie nie besaßen.“ Auch Leute aus der Oberschicht, üblicherweise mit aufgeblasenem Selbstbewusstsein ausgestattet, können verbittert sein, wenn sie scheitern und einen Abstieg erleben. Gerade dann, wenn dieser Abstieg auch mit symbolischem Prestigeverlust gepaart ist. Womöglich sind diese Milieus sogar besonders gefährdet, gerade dann, wenn sie mit Herabwürdigungen, Geringschätzung konfrontiert sind. In der Individual- und Sozialpsychologie wird bereits von einer „posttraumatischen Verbitterungsstörung“ gesprochen, wie das der Psychiater Michael Linden nannte.  

„Verbitterte können sich als arme Opfer von Ungerechtigkeiten, Betrug, Dummheit und Bosheit begreifen und sich permanent darüber beklagen“ (SWR2, „Gekränkt vom Leben“). Groll und Zorn ergreifen von ihnen Besitz und die Folge kann ähnlich schwer lasten wie Angststörungen oder Depressionen. Enttäuschung und Zorn lassen Bitterkeit wachsen.

„Man kennt das auch aus der Literatur, etwa bei Michael Kohlhaas“, so Linden. Zur Krankheit wird Bitterkeit, „wenn Menschen verletzende Ereignisse nicht mehr aus dem Kopf bekommen“, so Michael Linden. Wird eine Kränkung nicht verarbeitet, „besteht die Gefahr einer Chronifizierung. Die Störung wird eher schlimmer als besser“, warnt Linden.

Verbitterungsstörung

Aus Verbitterung wächst Ressentiment. Bitterkeit kann dazu führen, dass man das Gefühl für Verhältnismäßigkeit verliert. Jede Petitesse fügt sich dann ein in ein Panorama des Ungerechtigkeitserlebens und Kränkungsempfindens, Lässigkeit geht verloren, der Zorn wird maßlos, man ist voller Misstrauen. Die Enttäuschung geht über in rasende Verbittertheit. Der Verbitterte ist auf seine Enttäuschung fixiert und damit auf sich, voller Egozentrik und verliert sehr oft jede Empathie, und ganz gewiss jeden Humor. Breitet sich Bitterkeit aus, wird sie zu einer gesellschaftlichen Krankheit. „Ressentiments sind die gefährlichste Krankheit für die Demokratie“, formuliert Cynthia Fleury, Philosophin und Psychoanalytikerin. Sie ist Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris und Professorin für Philosophie am Hospital Sainte-Anne der GHU Paris für Psychiatrie und Neurowissenschaften. Ihr Buch „Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung“ war in Frankreich ein Bestseller und erscheint im nächsten Jahr endlich auf Deutsch im Suhrkamp-Verflag. „Ein hervorragender Essay, der die Wut und die Hassgefühle untersucht, die für unsere Zeit typisch sind“ (Elle). Um diese Bitterkeit zu verstehen, braucht es ein individualpsychologisches Gespür, das freilich gesellschaftspsychologisch und politisch geschult sein muss. 

Die Gefahr von Selbstviktimisierung und Selbstmitleid

Denn diese Bitterkeit ist ein herausragendes Beispiel für individuell-kollektive Gefühlslagen, einer Einrichtung im Opfertum, in der Selbstviktimisierung, dem Selbstmitleid, das sich sofort aggressiv nach außen richtet. Für die Michael Kolhaase unserer Tage, die gerne im Rudel auftreten, ist die Empörung über das ihnen angetane Unrecht die Quelle ihrer Freude. Der Verbitterte leidet nicht an seinem Verfolgungswahn, er genießt ihn geradezu. Das Rechthaberische, das Obsessive, der Verlust jeder Selbstironie und Selbstreflexion, sie sind auffällige und bemerkenswerte Erscheinungsformen dieses Typus.  

Diese Verbitterungsgefühle, die daraus resultierenden autoritären Versuchungen und radikale Dissoziierung von Gesellschaft lassen sich auch nicht erklären ohne die vorherrschenden ideologischen Diskurse der spätmodernen Gesellschaft. Da ist einmal der Individualismus, der hohe Wert, dem „Selbstverwirklichung“ heute zugeschrieben wird, und die Erfolgskultur mit ihren Dynamiken von Konkurrenz und Wettbewerb. Jeder und jede bekommt quasi täglich gesagt, dass man etwas Besonderes sein solle, und praktisch jeder scheitert an den Ansprüchen, mit denen man konfrontiert ist und sich selbst konfrontiert. In der „Winner-Takes-It-All“-Gesellschaft gibt es sehr viel mehr Loser als Winner. Das Mantra der Erfolgskultur produziert wenige Erfolgreiche und viele Gescheiterte und damit sehr viele Kränkungen. 

Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Baseler Soziologieprofessor Oliver Nachtwey haben in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ diese Eigentümlichkeiten zu ergründen und die Motivationen neuer rechter, autoritärer Bewegungen zu untersuchen versucht. Die diagnostizieren eine Bewegung des „libertären Autoritarismus“, die sicherlich nur eine kleine Minderheit der Gesellschaften in ihren Bann zieht, aber einen relativ großen Resonanzraum hat, der weit über die Ränder der Radikalen hinaus geht. Dieser Autoritarismus ist aus ihrer Sicht signifikant anders als alles, was wir an autoritären Bewegungen in der Geschichte kennen. Salopp gesagt: Es gibt darin viel mehr Antiautoritarismus, Individualismus und Antikonformismus als das in früheren Bewegungen dieser Art üblich war. 

„Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat“, formulieren Autor und Autorin. Sie hängen auch keinem Führer an. Viele kommen aus alternativen oder auch gegenkulturellen Milieus oder zumindest aus sozialisierenden Umgebungen, in denen kritischer Eigensinn und Nonkonformismus prägend sind. Sie rebellieren im Namen der zentralen Werte der spätmodernen Gesellschaft, nämlich „Selbstbestimmung“ und „Souveränität“. Sie haben sogar eine „grundlegende Skepsis gegenüber Autoritäten“, betrachten Freiheit als einen „individuellen Besitzstand“, sind an hedonistischen Werten orientiert. Feierte die alte Rechte das soldatische Opfer, kriegen die neuen Autoritären schon die Krise, wenn ihnen ein Partywochenende entgeht.

Die Studie von Amlinger und Nachwey ruht, grob gesprochen, auf drei Säulen: Erstens: Empirischen Erhebungen – vor allem Interviews – die sie mit Hilfe ihrer Mitarbeiter*innen mit vielen Akteurinnen der Querdenker-Szenen oder auch mit AfD-Sympathisanten geführt haben. Zweitens: Einer breiten Textschau über knapp 200 Jahre Analyse des „autoritären Charakters“ und von Gesellschaftstheorie. Und drittens: Ihrer These und Interpretation des Materials. 

Die neuen autoritären Charaktere

Zentral ist für die Arbeit eine Relektüre der „Studien zum autoritären Charakter“, die Forschergruppen der Kritischen Theorie rund um Theodor W. Adorno während der vierziger Jahre in den USA erstellten. Die Erfahrung war damals noch frisch, dass despotische Herrschaft nicht nur auf Unterdrückung beruht, sondern auch auf Zustimmung und bereitwilliger Teilnahme – und dass diese autoritären Verlockungen auch in demokratischen Gesellschaften virulent sind. Die Studienautoren fanden damals verschiedene autoritäre Typen. Zentral waren Charaktere, die die Konventionen hochhielten, Individualismus ablehnten, Ordnung ersehnten und sich gern personaler Autorität unterwarfen. Sozialfiguren wie „der Rebell“ oder „der Spinner“ wurden auch seinerzeit schon entdeckt, waren aber gegenüber den konformistischen Autoritären eher peripher. 

In den gegenwärtigen Bewegungen finden sich eher wenige überangepasste Menschen mit konservativ-konventionellen Werthaltungen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein individualistischer Liberalismus verbreitet, der „das Individuum ausschließlich im Gegensatz zur Gesellschaft“ definiert. Jeder vergleicht sich mit jeden und will etwas Besonderes sein und seine Eigenart verwirklichen. Dieses Versprechen der individuellen Selbstverwirklichung birgt aber „ein Kränkungspotenzial, das in Frustration und Ressentiment umschlagen kann“ (Amlinger/Nachtwey). Wenn etwas schief läuft, ist „die Gesellschaft“, „der Staat“, „die Elite“, sind „die Herrschenden“ schuld. Man hat auch gelernt, alles zu „hinterfragen“, nichts einfach so zu akzeptieren.

Amlinger und Nachtwey haben eine Nase für Ambiguitären und sehen das Antiautoritäre im Autoritären. An sich gute Machtskepsis eskaliert ins destruktive Dauerdagegensein, Kritik an Wissenschaft als Herrschaftsform in Aberglauben. Antiautoritäres Rebellentum paart sich mit Autoritarismus, denn bei vielen Typen finden sich „zahlreiche Merkmale der autoritären Persönlichkeit“, wie etwa, „autoritäre Aggression, Kraftmeierei, Destruktivität, Zynismus, (verschwörungstheoretische) Projektivität und Aberglaube“.

Diese Eigentümlichkeiten des antiautoritären Autoritarismus haben ihre Quellen in gesellschaftlichen Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte: Da ist der erwähnte Kult des Erfolges; weiters der hohe Wert, der Genuss, Selbstwert zugeschrieben werden oder auch das seit den siebziger Jahren regelmäßig analysierte „Zeitalter des Narzissmus“ (Christopher Lasch). Werte wie Besonderheit, Selbstverwirklichung und Ich-Orientierung führen zu Groll, wenn man unter den Ansprüchen gegenüber dem eigenen Lebensvollzug bleibt. Der Narzisst wird schnell wütend, wenn sich nicht alles ausschließlich um ihn dreht. Kurzum: die autoritäre Persönlichkeit der Gegenwart ist ein Kind ihrer Zeit.

Machtkritik überschießt in verallgemeinertes Misstrauen, totale Ablehnung und Verleumdung, Freiheitspathos eskaliert in Rebellion gegen jede Vorgaben, sogar gegen vernünftige, der Wert von Selbstbestimmung in völlige Ichbezogenheit und der kritische Impuls verkommt zum vollendeten Tunnelblick. Manches am Anti-Eliten-Getue klingt wie die alte linke Systemkritik, nur: mit allen ihren Lastern und keiner ihrer Tugenden.

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