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Ich bin gegen die Idiotisierung des Abendlandes

"Sei vernünftig, Kind!" Das war einst die Spießerparole, mit der dem Exzentrischen die Fadesse gepredigt wurde. Aber heute ist die Vernünftigkeit die eigentliche Exzentrik.

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Unlängst fand ich, wie ich bereits Ende 2014 das Jahr der Wirrköpfigkeit verabschiedete: „Dieses Jahr, in dem die Welt endgültig aus den Fugen geriet, endgültig zum elementaren Krisenbewußtsein verdichtet, Ukraine, Pegida, ISIS, da wurde gekämpft, und geköpft und gehetzt und gebrandschatzt, aber das ist ja noch nicht einmal das Bemerkenswerteste. Information, Desinformation, Denunziation, der tägliche Rufmord, die schossen durch die Kapillaren des globalen medialen Systems, hin und her, wie Interkontinentalraketen, die Verheerungen und Verwüstungen in den Köpfen und Seelen anrichten, permanenter Erregungspegel, hochschaukelnder Aggressionspegel, das Wahre vom Falschen, nicht mehr trennbar, das Vernünftige vom Irrsinn, nicht mehr unterscheidbar, für viele.“ Na, wenn ich gewusst hätte, wie das weiter geht, wäre ich mit dem Jahr 2014 nachsichtiger umgegangen, das ja nur ein harmloses Hascherl war verglichen mit allem, was bis zum heutigen Tag folgte.

Selbst die Vernünftigen, von all dem überfordert. Vernünftige, gibts die überhaupt noch? In diesem Zeitalter der Wirrköpfigkeit. Der Spinner, einst seiner Sonderlichkeit wegen, ein Außenseiter, wird heute von Seinesgleichen bestärkt, was der Verschärfung seiner Sonderlichkeit, gewiss nicht abträglich ist.

Denn gemeinsam schraubt es sich leichter hinein, in auftrumpfende Besserwisserei. Ära der Konfusion. Aufschaukelungszusammenhang. Sonderlichkeit ist ja fast ein unangemessener Begriff, wenn das Sonderliche nicht das Außergewöhnliche, sondern das Allgemeine, das Durchschnittliche wird. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, betitelte Goya seine legendäre Grafik.

Ich gestehe: Nie galt mir das Vernünftige als erstrebenswert. „Sei vernünftig, Kind!“ Das war die Spießerparole, die dem Extravaganten das Extravagante austreiben wollte, dem Exzentrischen die Fadesse predigte. Ein Loblied aufs Maßhalten, auf den Mittelweg, aufs öde Einerseits/Andererseits. Jetzt aber, wo wir im Ozean des Irrsinns zu versinken drohen, ist sie die rettende Insel, die Vernunft. Ist geradezu die Bedachtsamkeit zur neuen Exzentrik geworden. Verkehrte Welt.

„Verkehrte Welt, das hab ich gerne“, sang Wolf Biermann, damals, in der ordentlich aufgeräumten Welt

„Sei nicht Mittelmaß! Niemals Mittelmaß, immer ein unverwechselbares Ich! In unserer kleinen Erfolgskultur.“ Das wird Dir aus allen Kanälen entgegengebrüllt. Von Kindertagen an eingetrichtert. Ich glaub ja, sagte unlängst einer zu mir, die meisten Menschen würden am liebsten normal sein, aber sie wissen nicht mehr, wie das geht.

Normal sein, aber sie wissen nicht mehr, wie das geht. Wie kann man heut denn noch normal sein? In unserer kleinen Erfolgskultur, durch die wir stolpern, befreit von Normen, Konventionen, Mainstream, und der schlimmste Verdacht, der auf dir lasten könnte, ist, dass Du normal wärst. Durchschnitt. Gewöhnlich.

Gefangene Befreite sind wir, gewissermaßen, auch ulkig, dass Mainstream in einer Zeit zum Schimpfwort geworden ist, in der er längst untergegangen ist, wie wenn tote Gespenster bekämpft werden.

Aber vielleicht ist das ja gar nichts Ungewöhnliches. Kadaver und Gespenster sind ja leichte Gegner. Bekämpfe die Geschlagenen, da bist Du ein sicherer Sieger. Und umgekehrt: In der Ära, in der alle versessen darauf sind, sich irgendwie zu Besondern, keiner Durchschnitt oder Gewöhnlich sein darf, ist der Besondere dann ein Herdentier, und alle dann erst recht ähnlich in ihrem Streben nach dem Unverwechselbaren und dem authentischen Ich. 

Postideologie, das ist nicht die Befreiung der Vernunft, man konnte es ohnehin immer ahnen, sondern geistige Obdachlosigkeit, die die Menschen ohne Leitplanken zurücklässt. Im Wirrwarr einer Welt, deren Metapher die Datenautobahn ist, auf deren Netz sie kreuz und quer sausen, die Daten, sich verheddern und verknoten.

Ideologie war ja noch das Angebot einer Erzählung. Und zwar einer in die Zukunft gerichteten Erzählung. Eine Erzählung, die das Vergangene interpretierte, das Gegenwärtige erklärte, und das Morgige prognostizierte, und zwar meist in einem optimistischen Grundton. Aber heute? Dunkel ist das morgen. Und keiner erzählt uns, was es bringen wird. Postideologie ist keine Aufklärung. Auf-klärung, Auf-KLÄRUNG, hören sie den Doppelsinn? Es klärt auf, die Wolken, das Dunkle verzieht sich.

Aber Postideologie ist eben nicht Aufklärung. Die Postideologie ist vielleicht die eigentliche Verdunklung, wegen des Chaos, das sie in den Köpfen zurücklässt.

Man kann auch sagen, ins Vakuum, das der Auszug der großen Erzählung aus den Köpfen zurücklässt, dringt die Wirrnis ungeordneter Fakten, Phantasien, Details, Paranoia ein, das tanzt da seinen wirren Tanz, seinen panischen Tango, den Stolperwalzer. Und jeder darf seine Wirrnis sofort verbreiten. Der Anspruch, einen Gedanken zu ordnen, bevor man ihn äußert, wie altmodisch ist das denn!

Lass es raus! Brüll es raus! Das ist gesund, der Triebverzicht ist ungesund! Das Rauslassen ist gesund! erklären uns ja die Psychoratgeber. Das Schöne am Internet ist, dass sich jeder äußern kann. Das Blöde am Internet ist, dass sich jeder äußern kann.

Konsumier jetzt, zahl später! Das ist die kapitalistische Kreditwirtschaft, „poste jetzt, denke später!“ ihr sozialmediales Pendent. Ich bin ja, ganz persönlich, gegen die Idiotisierung des Abendlandes.

Wenn die Irrtümer verbraucht sind

sitzt als letzter Gesellschafter

uns das Nichts gegenüber

schrieb Brecht. Die großen Irrtümer haben wir aufgebraucht. Aber der Fundus an den kleinen Irrtümern ist, natürlich unendlich, und die summieren sich, wie die sich summieren!

Und die Ton Steine Scherben sangen:

„Uns trennt nichts vom Paradies außer unserer Angst

Und der lange Weg der vor uns liegt

führt Schritt für Schritt ins Paradies.“

Aber wer glaubt heut denn noch ans Paradies? Die Selbstmordattentäter, sonst niemand. Ich bin ein Veteran, ein Zeitzeuge! Ich hab noch Optimismus erlebt. Ich erinnere mich noch, an optimistische Momente, 89, war so ein letzter optimistischer Moment. Hätte man uns damals gesagt, was 33 Jahre später draus geworden sein wird.

„Dunkel Genossen ist der Weltraum / sehr dunkel“, ließ Heiner Müller  Juri Gagarin in „Germania III“ sagen.

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