Folge 50
Vorweg dieses Mal mehr als danach
Die zweite, dritte und nun die angebrochene vierte Woche im Urlaubsbüro. Die Zeit ist irgendwann irgendwie weggerutscht, das ersehnte äußere und innere Stillsein ist eingetreten. Das mehrjährig in der Pandemie und im zugetrollten Internet herangezüchtete innere Grau, das Durch-und-durch-Kaputtsein, hat sich endlich etwas verflüchtigt. Ich schwimme allmählich wieder zurück und merke, wie erschreckend weit draußen ich gewesen bin. Deshalb heute ein völlig verspäteter NewFrohmanntic.
Er wird heute noch mal ultrapersönlich sein, aber die Sachthemen klopfen schon gut vernehmlich wieder an.
Was war hier los: Das erste Großkind mit Begleitung ist an- und wieder abgereist. Am Abend ihrer Ankunft standen mein Mann und ich am Hafen und haben aufgeregt auf die einlaufende Fähre gewartet: Sind sie drauf? (Ja.) Haben sie alle Transfers – wirklich anspruchsvoll – gut hinbekommen? (Ja.)
Unsere letzte Erinnerung an »die Kinder« auf dieser Fähre – wir rufen sie beim Warten rührselig auf – ist, wie wir jeweils ein quirliges kleines Kerlchen hinten am Shirtkragen festhalten, damit sie nicht über Bord gehen. Am nächsten Mittag wird uns das eine Kerlchen – es ist während des Jahrs nach dem Auszug zuhause zum Chefkoch seiner WG avanciert und übernimmt auch hier gleich die Küche – aus dem örtlichen Supermarkt anrufen und fragen, ob wir noch Zwiebeln da hätten. (Nein.)
Besagtes Kerlchen hatte auch seine Bluetooth-Box und Deutschrap im Gepäck, beides hatte ich, wie ich feststellen konnte, nicht ganz so stark vermisst. Aber wir hören und grölen seitdem auch sehr oft den eigentlich als Witz gemeinten Song eines Streamers (Öffnet in neuem Fenster) (kein Deutschrap). Feststellung: Der Urlaubshit muss gar nicht immer am Urlaubsort entstehen. Und nett: Das Kerlchen hat uns die Box dagelassen.
In der zweiten Woche reiste dann die Freundin ab und das zweite Großkind an, was bedeutete, dass nach gut einem Jahr die Kernfamilie erstmals wieder in einem gemeinsamen Haushalt klarkommen musste. Das war – uff – fordernd, interessant und schön. Es gab einen aus Elternsicht komplett grauenhaften ersten Abend mit zwei rotzbesoffenen »Kindern« eines davon komplett abgeschossen und nervtötend, anschließendem Riesenkrach und dann ziemlich gut gelingenden Gesprächen, wie man die Rollen innerhalb der Familie zukünftig verstanden wissen möchte. Man wurde sich einig, dass wir es alle maximal schlecht in einem biologischen Territorialkrieg miteinander aushalten. (In dem ich, ehrlich gesagt, nur eine Rolle spiele, wenn ich sie aktiv beanspruche, ansonsten bleibe ich in diesen vorbewusst ablaufenden Mascu Wars gänzlich unsichtbar.) Man zankte also um und einigte sich über Räume, Grenzen, Respekt, das übliche Ding.
Diese Reise soll/te, zehn Jahre nach der letzten ernstzunehmenden – damals waren wir drei Monate lang zusammen unterwegs gewesen –, ganz bewusst wieder einen Bonding-Aspekt haben. Man bleibt einander ja nicht für immer von selbst nah, nur weil man genetisch oder auf dem Papier verwandt ist. Man muss das auch für sich selbst als Ziel definieren, vor allem aber aktiv etwas dafür tun.
Nun, in der vierten Woche, hat das kleine Großkind seinen Lieblingskumpel zu Besuch und es läuft wieder gechillt ab. Allerdings wiederholte sich der Einstandsabend mit Duty-Free-Jägermeister, nur dass dieses Mal der Gast gerade noch eben die Contenance behielt und wir nun auch unser anderes Kind im Schnaps-Nirwana betreuen durften. Während Ausfall eins eher in nächtlichem Gelärme bestanden hatte, führte Ausfall zwei zu mehrstündigem groteskem Übergeben, wie der buchstäbliche Reiher, und es geschah an mehreren und jeweils sehr unidealen Stellen. Alles sehr unschön, und wieder gab es großen Krach am nächsten Morgen. Positiv ist zu sagen, dass wir Eltern aus Erfahrung wissen, dass man mit dieser Kotzdisposition, die der Jungreiher offensichtlich doppelt geerbt hat, nicht sehr alkoholismusgefährdet ist. Negativ muss ich einmal mehr festhalten, dass ich außer Nazis wenig mehr hasse als vorsätzliches Extremsaufen.
Nicht zu vernachlässigen ist aber auch der »In den Augen, im Sinn«-Aspekt. Die Kinder stressen einen erwachsen nur dann, wenn man auf die eine oder andere Weise beim Mistbauen gegenwärtig ist. Dann findet man sich plötzlich in der bizarren Rolle der mitfahrenden Lehrerin auf Klassenfahrt wieder, die kurz überlegt, ob sie die Problembären AUF EIGENE KOSTEN nach Hause schicken sollte.
In Wirklichkeiten bin ich aber froh, dass wir uns solchen Erfahrungen aussetzen und ein gemeinsames Interesse verfolgen, es weiterhin, aber anders nah schön miteinander zu haben.
Etwas Altes: New Romantic
Irgendwann in der zweiten Jahreshälfte wird im Frohmann Verlag eine Anthologie mit Bildern von Jugendzimmern aus verschiedenen Epochen bzw. auch literarischen Erinnerungen an sie erscheinen – kramt gern schon mal in euren Kisten und Ordnern und Gehirnen.
Hier ein kleiner Vorgeschmack. Diese per Klick im BRAVO-Archiv einsehbaren Poster der Duran-Duran-Mitglieder John Taylor (Öffnet in neuem Fenster) und Nick Rhodes (Öffnet in neuem Fenster) hingen gerahmt in meinem Jugendzimmer, als ich 14 war. Das »BRAVO« hatte ich, weil man ungefähr ab 13 die BRAVO schon wieder maximal uncool fand, überklebt.
Fun fact 1: Duran Duran war die Lieblingsband von Lady Di, was in den 1980ern in jedem Artikel über Lady Di oder Duran Duran stand; bei mir selbst allerdings überwog ganz klar die Neigung für die beiden Pretty Boys dem musikalischen Fandom. Gehört habe ich schon mit zwölf lieber Soft Cell. Aber Duran Duran mochte ich auch.
Mein Distinktions-Musikgeschmack bildete sich dann etwa ab 15, da hätte ich Duran Duran nicht mehr erwähnt, auch vor mir selbst nicht – puh, ich bin sehr froh, dass ich es ein paar Jahrzehnte später wieder losgeworden bin, von »forbidden pleasures« zu sprechen, wenn ich mir, ohne zu fragen, einfach anhöre, was ich mag, der popkulturelle Kanon aber nicht. So ein Coolquatsch.
Fun fact 2: In den frühen 80ern benutzte plötzlich alle Welt das Wort »androgyn«, um cis Männer mit Kajal und Strähnchen, gehüllt in Samt und Seide zu beschreiben. Die zugehörige Musikmodejugendkultur hieß New Romantic und war zusammen mit Postpunk eine Vorstufe von Goth. Es ist für mich immer ein bisschen merkwürdig, wenn Menschen in meinem Alter sich heute rückwirkend als Goth bezeichnen, obwohl es, als sie Goth waren, Goth noch gar nicht gab. Aber ihr versteht ab jetzt den Namen NewFrohmanntic besser, außer, ihr seid älter, dann habt ihr es schon die ganze Zeit über verstanden. Außerdem war es ja nicht die erste Neoromantik, sondern mindestens die zweite. Sofern man überhaupt glaubt, dass es »die Romantik« gegeben hat. Es ist kompliziert und nicht und egal.
Etwas Neues: Junge Frau zum Mitreisen auf Facetime gefunden
In unserer Ferienwohnung sind wir, wie bereits geschrieben, aktuell zu viert, aber auch zu fünft, denn wir haben ein weiteres Mitglied unserer Familie per FaceTime mit dabei: Der jüngere Sohn ist beträchtliche Teile des Tages per Screen mit seiner Freundin in Berlin verbunden. Sie verbringen auf diese Weise ganz selbstverständlich Zeit miteinander, ohne dass dabei immer etwas Besonderes besprochen würde. Heute etwa war sie beim Frühstück anwesend und schminkte sich zwischendurch. Sie konnte nicht mitfahren und ist doch mitgekommen, ich mag das sehr.
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell ›originelle‹ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ›vergesellschaften‹ und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen. Dass eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken, ist eine ›philosophische‹ Tatsache, die viel wichtiger und ›origineller‹ ist, als wenn ein philosophisches ›Genie‹ eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt.«
– Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle, Band 1–10, Argument Verlag, Hamburg 1991ff., Band 6, Heft 1, § 12«
Etwas Uncooles: Unsinnige Umfragen
Obwohl ich gerade nicht viel im Internet bin, begegnet mir, wenn ich mich dort hinbegebe, unweigerlich sofort gemeiner Clickbait – aktuell besonders schauerlich in Gestalt von Pseudo-Umfragen: Sie bewegen sich auf dem Niveau von Gewinnspielen, in denen gefragt wird »Was ergibt eins plus eins?«. Es wird Sinnhaftigkeit simuliert – dein Wissen, deine Meinung ist bedeutend –, aber es geht nur um (geldwerte) Performanz: Ruf kostenpflichtig an bzw. klick hin. Bei Telefonsex-Werbung im Fernsehen gilt RUF – MICH – AN! als schmuddelig, aber Clickbait von »Qualitätsmedien« ist letztlich tausendmal schmuddeliger.
Das einfach zu nutzende Umfragetool kann man sich als ruchloses Medium offensichtlich billig kaufen und dann festlegen, ob es mit dem eigenen Logo genutzt wird oder nicht, nachfolgend jeweils ein Beispiel:
Wie findest du unsinnige Clickbaitumfragen?
Bäh.
Wann immer euch jemand mit falschen Sinnversprechungen »Klick mich« entgegenheuchelt, bitte lauft, entfolgt, löscht. Das seid ihr eurer Würde schuldig.
Rubrikloses
Letztes Mal habe ich über meine irgendwie lächerliche »gute Couch« geschrieben. (Öffnet in neuem Fenster) Darüber habe ich noch ein bisschen weiter nachgedacht. Im Prinzip ist die rosa Samtcouch in meinem Büro zuhause, auf der fast nie jemaus sitze, eine Art Riesennippes. Über Nippes werde ich bald mehr schreiben. Und über Souvenirs.
Ein neues Wort für euch:
Coolquatsch, der: Bezeichnung für den Umstand, aus Furcht vor pop- oder digitalkulturellem Distinktionsverlust der eigenen Neigung zuwider zu handeln
Guerlica: Präraffaelitische Girls erklären Megalomilliardäre, Vol. 2
Früher:
Heute:
Morgen:
Zurück zu den Sperren, zu den Wegversperrenden, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
FrauFrohmann
(Ja, auf dem Cover seht ihr die Zornotter aus Folge 49. Zum Glück war ich nicht dabei, als das Foto gemacht wurde aka die Schlange auf der Straße lag.)
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