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Folge 9

Etwas Altes: Geht doch zurück nach früher, wenn’s euch hier nicht passt! Das Retroaktionäre

Retro ist so eine Sache: hübsch stimmungsvoll und gleichzeitig hässlich reaktionär: Früher war keinesfalls alles besser, man kann sich nur nicht mehr so genau daran erinnern. Die Gedächtnislücken werden mit einer idealisierten Vorstellung der individuellen Biografie wie auch der gesellschaftlichen Vergangenheit aufgefüllt.

Menschen haben früher weniger Convenience Food gegessen, stimmt, dafür haben sie, solange sie über die nötigen finanziellen Mittel verfügten, alles an Fleisch, Zucker und Fett in sich reingestopft, was sie kriegen konnten. – Außer sie lebten auf dem Monte Verità oder in anderen lebensreformerischen Elite-Gralsburgen.

Es gab früher noch nicht so viel Chemie in Nahrung, Kleidung und Umwelt, stimmt, aber eben auch herzlich wenige wirksame Impfstoffe und Medikamente. – Machen wir halt zehn Babys, wir wissen ja eh nicht, wie nicht, außerdem sterben etwa neun von ihnen im Kindesalter.

Menschen hatten früher bessere Umgangsformen, stimmt, aber das galt nur für die herrschende Klasse und deren Dienstboten. 

Junge Leute hatten früher noch Respekt vor dem Alter und die Älteren lebten inmitten der Familie, stimmt, na ja, nicht so ganz, da gab es zum Beispiel die so genannten Auszugshäuser, wohin die alten Bauern nach Übergabe des Hofes übersiedeln mussten.

So weit, so rückwärtsgewandt. Neuerdings präsentiert sich aber auch die Gegenwart mit nostalgischem Zuckerguss überzogen. Mit Instagram und Lana del Rey kann man nun auch die Jetztzeit atmosphärisch überarbeiten, leicht entrücken und verklären. Der letzte technologische Stand in Sachen Programmierung und ästhetischer Chirurgie hilft also mit, so zu tun als ob. Schon merkwürdig, wenn Hund, Katze, Kind, Partner, »mein Haus, mein Auto, mein Boot« instagrammiert viel schöner aussehen als in der physischen Realität, zumal dies alles ja ganz ohne ihr Zutun und meist auch Wissen geschieht. Kosmetik bearbeitet jetzt nicht mehr nur Objekte, sondern auch deren Wahrnehmung.

Einige Jugendkulturen tun ja bereits seit den Achtzigern so, als wäre die Welt in den Fünfzigern stehen geblieben, als ein Mann noch ein Mann und eine Frau noch ein berufsunfähiges Sex– und Mutterschaftsobjekt war. Das mag emotional schocken, wenn die Eltern Hippies gewesen sind, ästhetisch betrachtet ist es aber anspruchslos.

Gemein ist allen, gemein sind alle Retroströmumgen darin, dass sie die, beschränkt man sich auf Friedenszeiten, gesellschaftlich repressivste Phase der Moderne, dehistorisieren und zeitlos machen: das deutsche Biedermeier und den englischen bzw. US-amerikanischen Viktorianismus, »die gute alte Zeit«, als Menschen begannen, sich wie seelenlose Automaten und Marionetten zu fühlen, entfremdet von Familie, Arbeit und Selbst, erstarrt im schönen Schein von Anstand, bürgerlicher Moral und Etikette. Im Biedermeier konnte man Dinge entweder RICHTIG machen oder FALSCH, man konnte NORMAL sein oder VERRÜCKT, GUT oder BÖSE. Diese Entweder-Oder-Dichotomien haben bis weit ins 20. Jahrhundert fortgewirkt und sind erst in der Postmoderne – zumindest theoretisch – verabschiedet worden. Praktisch leben sie in vielen Individuen und sozialen Systemen bis heute fort.

Eines dieser Systeme bildet die Firma Manufactum gemeinsam mit ihren Kund*innen. Ich spreche nicht von Menschen, die einmal etwas bei Manufactum kaufen, weil sie das Produkt kurios finden oder es woanders nicht so hochwertig gefunden haben. Ich rede von den Leuten, für die Manufactum und die wie für Manufactum gemacht sind.

Diese Menschen sprechen eine eigene Sprache, die ein bildungsbürgerlicher Jargon ist: fremdwortreich, koppelwortlos steht sie da, als habe es nie eine Rechtschreibreform gegeben; unnötig zu erwähnen, dass hier ein »dass« noch ein »daß« ist. Der Fremdwortreichtum soll klangvoll sein und sprachwertig wirken, aber auch unbefugtes Betreten des Manufactumterritoriums verhindern:

Verstehst du nicht, was hier steht, so bist du ungebildet, verdienst nicht viel und kannst dir unsere Produkte zweifelsohne nicht leisten [also manufuck off!].

Verstehst du es nicht, obwohl du genug Geld hast, bist du neureich und hast keinen Sinn für unsere klösterlichen Quäkermöbel, die viel zu schade für dich sind [also manufuck off!].

Biedermeierlich korrekt werden die gesellschaftlich konstruierten binären Geschlechtergrenzen von anno dazumal manifestiert: Es gibt eine männliche und eine weibliche Manufactumdomäne: die richtige Ausstattung von Auto (für ihn) und Werkstatt und die richtige Weihnacht (für sie).

Mit Dünkel hält man bei der Beschreibung der RICHTIGEN Weihnacht im Katalog und auf der Webseite fürwahr nicht hinterm Berg:

»Es gibt zwei ernstzunehmende Baumschmucktraditionen. Die erste stammt aus dem Biedermeier, der letzten geschmackssicheren Epoche der vergangenen 200 Jahre. […] Der Kritik an der gründerzeitlichen Üppigkeit, die den Tannenbaum unter einer Unmenge von Kitsch fast verschwinden ließ, entsprang die zweite Tradition. Sie führte zum ›weißen Baum‹ […].«* (Öffnet in neuem Fenster)

Wehe wer anders, falsch, unweiß schmückt – so jemand ist einfach nicht geschmackssicher und auch nicht ernstzunehmend (Prolls halt).

Sehr lustig und fast schon wieder rührend sind die verzweifelten Produktdesign- und Textversuche, absolute Unzulänglichkeiten zu kaschieren oder komplett überflüssige Produkte zu legitimieren. Das »Wackelholz in Form eines Holzschiffchens«, etwa, das sich »bereits die keltischen Priester zunutze machten, die den unterseits ellipsoid geformten Drehkörper angeblich erfunden haben – und zwar zum Beeinflussen von Entscheidungen«** (Öffnet in neuem Fenster)

Wäre Manufactum irgendwie ironisch, könnte man das ein oder andere Produkt als Steam Punk verstehen, etwa den »in Deutschland gefertigten« »Eiskratzer Bronzeklinge«, aber da ist keine Ironie.

Manufactum macht alles RICHTIG. Ganz im Ernst. Ein  geniales Produkt und Marketingkonzept für Leute, die etwas Besseres sind. Bei denen selbst der Blaumann beige ist. »Es gibt sie noch, die guten Dinge«, der Slogan von Manufactum, sagt auch: Hier kaufen Menschen, die genau wissen, was richtig ist. Richtig gut. Richtig gut gemacht. Richtig richtig. Und das ist falsch. Falsch in meiner von Widersprüchen bestimmten subjektiven Welt.

(Zuerst 2013 auf Tumblr gebloggt. Ich habe nachträglich gegendert, natürlich nicht, wo ich aus Manufactumsicht schreibe. Ein Gendersternchen zieht ja bekanntlich alles Richtige ins Falsche.)

Etwas Neues: Haustier und -mensch evolvieren 

Während Menschen ohne Haustier und mit Pandemie das Genre Selbstgespräch immer weiter ausdehnen und -differenzieren, beobachten Personen, die mit Tier/en zusammenwohnen, seit Beginn der Coronazeit, dass die Interspezies-Kommunikation einerseits deutlich komplexer und andererseits einfacher wird. 

Für mich persönlich heißt das: Ich bin mittlerweile für die in meinem Haus lebende Katze Laser Alexa, Siri und Google Assistant in einem. Bedient werde ich mit Augen-, Stimm- und Gestensteuerung; die Kommandos sind im letzten Zeitjahr zahlreicher und spezifischer geworden – wir haben die Betaversion hinter uns gelassen. Es gibt längst kein universelles Miau mehr für »Essen her!« und »Tür auf!«, sondern mehrere spezielle, darunter ganz neue, dezentere für »Auf'n Arm, bitte.« und »Kämmen wäre jetzt toll.« . Vielleicht höre ich aber Laser neuerdings auch einfach besser zu, was ja irgendwie das Mindeste ist, wenn Katzen schon extra ihre Stimme verstellen, damit eine grobschlächtige Art wie die Menschen sie überhaupt hören können. 

Früher habe ich mich nicht unerheblich vor Salem Saberhagen, dem animierten ausgestopften Kater aus der Serie Sabrina the Teenage Witch gegruselt, nicht etwa, weil er so lebensecht, sondern weil er so ausgestopft aussieht. [Ein Grund, warum ich dem Konzept des Uncanny Valley (Öffnet in neuem Fenster) bis heute nicht ganz über den Weg traue.]

Aber die Coronazeit hat ja sehr viele Vorstellungen von Realität und Fiktion auf den Kopf gestellt, und deshalb verwundert es auch nicht, dass Laser, wenn er seine »Alexa, öffne den Küchenschrank und gib mir einen Sticky«-Darbietung macht, nicht ein bisschen, sondern hundertprozentig wie eine schlecht animierte ausgestopfte Katze aussieht. So wie auf folgendem Bild, aber zusätzlich mit leicht ausgehängtem Unterkiefer.

Aber nicht nur Lasers Kommunikation mit mir ist fortschrittlicher geworden. Umgekehrt rede ich auch ich ausufernd auf Laser ein, übersetze erst seine Kommandos in Menschensprache und antworte dann. Nein, nicht nur in Gedanken, nicht nur in meinem Kopf, sondern laut. Mein Mann und mein Sohn machen es auch so, wir reden und reden und reden. Mit einer Katze. Alle finden es toll, niemand merkwürdig. Wer bestimmt, was normal ist? Vielleicht muss man dazusagen, dass wir die Familie ohne Therapeut*innen sind – nicht aus Überzeugung, es ist einfach so –, und andere Zeiten erfordern andere Selbstheilungsmittel. Im Falle von Laser haben wir wohl alle stillschweigend die Dosis erhöht.

Zum Glück haben sich in unserem Haushalt alle Pokémons gleichzeitig entwickelt, und so wundern sich weder Katzen noch Menschen über ihre erstaunlich gelingende Interspezies-Kommunikation, ist ja auch ein schöner Ausgleich zu all dem Geschwurbel, was aktuell Menschen »da draußen« von sich geben. 

Deshalb mein Vorschlag: Redet mehr mit Tieren. Ganz besonders, wenn ihr das zwingende Gefühl habt, ironisch-unsolidarische Videos aufnehmen zu müssen. Erzählt es lieber der Katze, dem Hund, dem Pferd, dem Goldfisch. Besser noch: Redet grundsätzlich mehr Unbedeutendes mit Katze, Hund, Pferd und Goldfisch, macht Interspezies-Smalltalk, statt euch persönlich so furchtbar wichtig zu nehmen. Es gibt emotional nichts Angenehmeres und Entlastenderes, als sich selbst nicht so furchtbar wichtig zu nehmen. 

(Das hat natürlich absolut nichts damit zu tun, wenn einen andere strukturell unbedeutend erscheinen lassen, in diesen Kontexten legt man besser nie das Feuerzeug aus der Hand.)  

Etwas Geborgtes: Ein Zitat von Salem Saberhagen

Etwas Uncooles: Lyriker-Twitter-Bashing

Beim bereits letzte Woche erwähnten Frankfurter Lyrikkongress im Jahr 2019 – er wird mich im New Frohmanntic insgesamt mindestens dreimal beschäftigen – gönnte sich der sehr berühmte Lyriker Durs Grünbein einen kleinen Exkurs zu Twitter; er erinnerte sich, wie er das Medium zunächst als ideal geeignet für Aphoristiker – »wenn man es wirklich versteht, in ganz wenigen Sätzen ganz stringente Gedanken zu fassen« – gehalten hätte. Wie vorher in seinen Ausführungen zu anderen literarischen Zusammenhängen fielen Grünbein als des Aphorimus mächtige Personen nur cis männliche Autoren ein, und auch für Twitter ging es nicht gut weiter. »Aber es ist voll nach hinten los gegangen, es ist sozusagen ein Plappermedium geworden, nur auf engem Raum.« – Ein Plappermedium, so so. – Das lyrikinteressierte Publikum aus dem Großraum Frankfurt freute sich mehrheitlich über das kategorische Urteil, es wurde sehr herzlich gelacht. Von den Panel-Teilnehmer*innen freuten sich Jan Skudlarek, Anatol Stefanowitsch und ich sichtlich nicht, vermutlich, weil zu unseren Rollen auch Twitterautor*in gehört. 

Im Panel ging es um Sprache und Gewalt, und das Twitter-Bashing passte anders als beabsichtigt dazu, denn es stellte selbst eine implizite Gewaltsituation dar, weil der mit der Autorität des Prestiges ausgestattete Lyriker seine persönliche Meinung über ein vielschichtiges Medium, das er offenkundig nicht aktiv nutzt, als allgemeingültiges Urteil präsentierte, d. h. stillschweigend davon ausging, dass alle vernünftigen Menschen dies genauso sehen müssten. Das ist aber nicht der Fall: Ja, Twitter kann ein »Plappermedium« sein, aber Twitter kann ebenso ein poetisches Medium sein. Vielleicht ist es ja ein Plappermedium, wenn Durs Grünbein twittert. Oder ich plappere gerade nur, das ist natürlich auch möglich.

– Als gewissenhafte Moderatorin recherchiert man, wer bei einem auf dem Panel sitzt, umgekehrt machen sich Panelteilnehmende seltener die Mühe, herauszufinden, wer sie moderiert. So geschieht es schon mal, dass man in Gegenwart einer Autorin und Verlegerin von digitalen kleinen Formen Twitter als »Plappermedium« bezeichnet, also ihre Arbeit a priori ins Lächerliche zieht, ohne es zu wissen. 

Ich habe gelesen, dass der junge Grünbein einst den »Dämonen der Ignoranz« per Lektüre entkommen wäre. Das ist doch super, good for him, denn in jungen Jahren der Ignoranz entkommen, ist man bekanntlich ein für allemal im grünen Bereich und kann für immer alles beurteilen, während man im Bücherschrank mit Glastüre sitzt. 

Sollen sie doch auf Twitter plappern, die Ignorant*innen, die es nicht »wirklich versteh[en], in ganz wenigen Sätzen ganz stringente Gedanken zu fassen«. 

Abi-Aufgabe: Wer sind die wirklichen Hass-Rapper im Kulturbetrieb?

Rubrikloses

»Alexa, bitte reiße Alexa ab.« 

Goldener Mensch in goldenen Schuhen 

Angenehm kapitalismuskritischer Mall-Name (Singapur)

Für mich von der Autorin mit Glitzerstift bearbeitetes Buch (kommt meinem Kulturideal sehr nahe, Buch ist auch sehr gut, lest das mal)

Finde witzig

Guerlica

Zurück zur Dorfgemeinschaft, zu den Gemeines im Dorf Schaffenden. Wir sehen uns nächste Woche wieder. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

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