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Folge 97

Heute möchte ich mich bei denen bedanken, die mir wertschätzende Kommentare zu einzelnen Folgen oder zum NewFrohmanntic als solchem schreiben. Auf Steady, in Mails, in sozialen Medien. Ihr habt mich in einer nicht sehr stimmungshellen Epoche – ihr kennt das, lebt ja auch jetzt gerade – wirklich sehr erfreut und manchmal auch zum (schönen) Weinen gebracht. Wenn maus immer ganz allein vor sich hinschreibt, ist ein bisschen konkrete Resonanz essenziell. Eure Nachrichten fügen sich nach und nach zu einem sehr schönen Strauß Blumen zusammen, der in meinem inneren Büro steht. Danke, liebe Menschen. Falls ihr heute kritische Anmerkungen habt – ist durchaus möglich – könnt ihr mir die auch gern schreiben. Aber nur heute, danach wieder lieb sein.

Ich habe heute nur ein einziges Thema, ein sehr schweres. Es kam mir nicht richtig vor, es mit fluffigem Kram zu flankieren, das kommt dann beim nächsten Mal wieder.

Etwas Neues: Wie sprechen und nicht

Wie viele Menschen habe ich seit dem 7. Oktober ungewohnte Schwierigkeiten mit öffentlichem Reden oder Nichtreden und deshalb oft lieber den Weg direkten Austauschs mit Individuen gewählt. Ich habe tiefes Mitgefühl mit den Terroropfern in Israel, mit ihren Angehörigen und muss gleichzeitig auch die ganze Zeit an die eingekesselten Menschen in Gaza denken. Es macht mich traurig, dass ich mir nicht sicher bin, ob dies angemessen in einem einzigen Satz geschrieben werden kann. Zumindest meine eigene Sprache war bislang ein für mich unbefangener Ort. Aber vielleicht ist es sogar gut, diese Unsicherheit zu spüren, sie sich bewusst zu machen und zu fragen, an welcher Stelle die Sorge entsteht, ungerecht zu sein. An welchen Stellen. Was ich weiß, ist, dass ich wirklich niemals »Aber Israel ...« dachte. Ich denke auch positiv nicht zuerst an Israel, sondern an die Menschen in Israel. Dass ich zuerst an Menschen und nicht an Nationalstaaten denke, ist meine Normalität, die der entsetzliche Terroranschlag der Hamas nicht geändert hat. Ob darin eine Ungerechtigkeit liegt, kann ich im Moment (noch?) weder denken noch fühlen. Dass ich an Menschen in Israel und Gaza denke, hat ganz klar damit zu tun, dass ich persönlich israelische Menschen kenne und jüdische Menschen in Deutschland und palästinensische Menschen in Deutschland. Um alle mache ich mir grundsätzlich Sorgen und jetzt noch mehr. Mein Gehirn und mein Herz funktionieren plötzlich, aber nicht nur plötzlich, wie ich feststellen konnte, anders als die politische und mediale Darstellung in Deutschland. Für mich existieren alle diese Menschen nebeneinander, gleichzeitig, wirklich. Im öffentlichen Diskurs aber werden Palästineser_innen in Deutschland in ihrer Existenz entweder ganz verschwiegen oder als eine einzige Bande von Hamas-Getreuen dargestellt. Ich beobachte das schon lange und finde es schon lange quälend ungerecht. Das vielleicht als Erklärung, warum einige Menschen anscheinend aus dem Nichts plötzlich vor rassistischen Reaktionen in Folge des antisemitischen Terrors gewarnt haben. Das mag geschmacklos wirken und auch nach wirklich schlechtem Timing aussehen. Vielleicht eiern aber viele Menschen, nicht nur ich, schon lange Zeit damit herum, solidarischer mit in Deutschland lebenden palästinensischen Menschen sein zu wollen und irgendwie nicht damit zurande zu kommen, dass sich das irgendwie schwieriger und komplexer gestaltet als andere Solidarität. Vielleicht ist auch bei ihnen, nicht nur bei mir, jetzt etwas durchgebrochen, die Erkenntnis, dass gerade ein gefährlicher Kippmoment erreicht wurde. Palästinensischen Menschen in Deutschland wird nicht ermöglicht, sich öffentlich zu versammeln, ihnen wird ein Grundrecht verweigert. Warum? Steht ihnen kein öffentlicher Raum zu für ihren Schmerz und ihre Trauer um verlorene Angehörige, kein Raum für Protest gegen von der UN bestätigte Menschenrechtsverletzungen in Gaza? Liegt es nicht menschlich und demokratisch auf der Hand, dass diese Menschen gerade gemeinsamen Raum und Zeit brauchen? Mit welchem Recht wird ihnen unterstellt, dass sie unisono die Hamas unterstützen? Warum wird eine Versammlung wie vorgestern in Berlin erst vier Minuten vor Beginn verboten, wenn schon alle vor Ort sind: Will man Menschen unbedingt noch verzweifelter und wütender machen, um dann zu sagen: Seht ihr, so sind diese Islamisten. Wird das absichtlich gemacht, um ganz sicher Bilder einer verbotenen Demo zu bekommen? Wo kämen wir denn politisch auch hin, wenn eine große Gruppe sonst komplett unsichtbarer Menschen, darunter Familien mit Kindern, ungehindert von Robocops ihre Grundrechte verwirklicht? Nein, sie sollen bitte auf alle Fälle ordentlich nach Hamas aussehen.

Typen mit Bart + Palästina-Flagge + Polizei in Kampfmontur + Tagesschau = Die sind doch alle bei der Hamas.

Ist doch egal, ob diese kurzfristigst verbotene Versammlung vor dem Einmarschieren der Cops in Wirklichkeit eher harmlos wirkte.

Wie gesellschaftlich gut wäre es gewesen, wenn in einer komplexen Stadt wie Berlin die sehr schöne solidarische Veranstaltung an der Synagoge Fraenkelufer und eine von antirassistisch geschulten Polizist_innen im angemessenen Rahmen kontrollierte Versammlung von Palästinenser_innen hätten stattfinden können. Ja, es gibt wirklich bestürzend viel Antisemitismus in der Stadt, aber keinesfalls nur bei diesen gefährlichen jungen Männern aus diesem Neukölln und diesem Wedding, sondern auch bei Klavier spielenden weißen Gymnasiasten aus Prenzlauerberg und Charlottenburg mit grünen Eltern, die sich überhaupt nicht erklären könne, woher die Kinder das haben, von ihnen jedenfalls nicht. Darüber wird öffentlich aber nicht so gern »diskutiert«, denn die Abschiebung von Anselms und Maximilians lässt sich parteipolitisch im Augenblick schlecht nutzbar machen.

Ich glaube, die allerschlechteste Idee, um Antisemitismus entgegenzuwirken, ist, den rassistischen Druck auf Gruppen unter Antisemitismus-Generalverdacht noch zu erhöhen, Gruppen, die gleichzeitig von Politiker_innen beim AfD-Kuscheln begeistert unter den Bus geschubst werden. Derweil haben die Anselms und Maximilians ungestört eine ziemlich antisemitische Clubkultur entwickelt, wobei gesagt werden muss, dass deren »Aber Israel«-Antisemitismus fast ausschließlich von persönlichen schlechten Erfahrungen bei Palästina-Demos herrührt. Die palästinensische Kinder niederknüppelnde Berliner Polizei hat bei weißen Berliner Kindern etwas Ungeplantes ausgelöst. Was wie so oft zeigt, dass mit zu viel Druck gern das Gegenteil erreicht wird. Bringt euren Kindern also bitte bei, statt antisemitisch zu sein, lieber die Polizei und die Politik zu hassen. (Das war natürlich ironisch. Bitte Autorin und Werk trennen, ich bin ein unverklagbares literarisches Originalgenie.)

Realitätsprüfung: Eine Nazipartei macht sich in Deutschland gerade zum Mitregieren bereit, und gleichzeitig wird so getan, als ob man mit der Unterdrückung palästinensischer Menschen in Deutschland eine geniale Strategie gegen Antisemitismus verfolgen würde. Mich verwundert das, nein, mich wundert nichts mehr, Richard David Precht hat ja auch zwei Professuren für Philosophie inne.

Gerade wird wirklich an allen Stellen alles dafür getan, dass wir in eine gesellschaftlich noch schlimmere Zeit rutschen. Es wäre zu verhindern, wer will?

Für Weiße mit deutschem Pass: Damit ihr es besser fühlen könnt. Wurde dir persönlich jemals etwas verwehrt, weil du wie NSU-Angehörige Deutsche_r bist? Wurde dir persönlich jemals unterstellt, Terrorist_in zu sein, weil du wie NSU-Angehörige Deutsche_r bist? Nein, natürlich nicht. Bleiben wir noch kurz dabei: Falls dich im Ausland jemals jemand als Nazi beschimpft hat, wie viele Jahrzehnte lang hast du diese demütigende Erfahrung in dir lebendig gehalten, obwohl du dich theoretisch, wie es sich gehört, zum Volk der Täter_innen zählst? Du hast es nie vergessen, denn so etwas war dir ja noch nie passiert, richtig? Das genaue Gegenteil erleben palästinensische und andere arabisch gelesene Menschen in Deutschland. Für sie ist es ein Einzelfall, hier von Weißen wie ein Mitmensch behandelt zu werden.

Warum aber kann ich nicht ein bisschen warten, bis ich das schreibe? Warum jetzt, während Menschen noch im Schock nach dem Hamas-Terror sind und sich bereits weitere Terroranschläge ereignet haben? Die Antwort ist: Weil alles gleichzeitig passiert, wirkt, Folgen hat. Ein Islamist ermordete gestern aus Hass in Belgien zwei Fußballfans, ein Christianist (finde, das ist ein guter Neologismus) ermordete vorgestern aus Hass in den USA ein muslimisches Kind. Beide Taten sind dezidiert Taten nach dem 7. Oktober. Gestern aka einen Tag lang schrieben deutsche Zeitungen brav, dass zwischen Islam und Islamismus unterschieden werden müsse, ermordetes Kind ist ja immer so eine Sache. An allen anderen Tagen aber wird in der deutschen Öffentlichkeit ein gegensätzliches Bild vermittelt. Ich zitiere nicht den Titel des Scheißdrecks-Sarrazin-Buchs, mit dem vor 13 Jahren das aktuelle schlimmste Kapitel angefangen hat,– wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man Menschen mittelbar in Todesgefahr bringt, Thilo?

Warum ausgerechnet ich und warum ausgerechnet jetzt? Einzelne Menschen müssen, so glaube ich zumindest, in der überkomplexen Lage und Multikrise intervenieren, wenn sie persönlich mit ihrem individuellen Portfolio aus Wissen, Erfahrungen und Begegnungen gerade einen Punkt, eine Möglichkeit, einen Weg sehen. Ich sehe jetzt gerade sehr genau, dass ein weiteres Hochfahren von antimuslimischen Rassismus begonnen hat und dass das noch viel mehr, nicht weniger Gewalt hervorbringen wird, auch antisemitische.

Ich hätte durchaus Ideen, wie gleichzeitig Antisemitismus und Rassismus entgegengewirkt werden könnte. Spoiler: Nichts davon hat mit Forderungen nach Verhaltensänderungen von diskriminierungsbetroffenen Menschen zu tun, es wären alles politische Maßnahmen. Passiert also nicht, weil man ja nicht mit konstruktiver Politik, sondern mit diskriminierenden Scheindebatten Wahlkampf macht.

Was ich eigentlich sagen wollte: Die gängige politische, mediale und bürgerliche Praxis in Deutschland, sich allein deshalb schon für nicht antisemitisch zu halten, weil man »Stand with Israel« sagt und grundsätzlich nicht über Menschenrechte von Palästinenser_innen spricht, ist nicht sehr nachhaltig, aber sehr bequem, denn man muss buchstäblich nichts dafür tun. Alle Menschen in Deutschland sind antisemitisch und rassistisch sozialisiert, auch wenn sie das nicht wahrhaben wollen. Nicht mal nur die weißen, christlich geprägten Menschen, nein, alle. Frauen sind ja auch frauenfeindlich. Diskriminierung ist Leitkultur. Erst die Anerkennung dieses Umstands ermöglicht es, sich eigene Diskriminierungen bewusst zu machen und im Idealfall nach und nach abzugewöhnen. Was ich wirklich eigentlich sagen wollte: Menschen, die sich ausdrücklich für nicht antisemitisch halten, sind keine stabilen Allys für jüdische Menschen, und Rassismus ist das schlechteste Anti-Antisemitismus-Training überhaupt.

Terror will Menschen und Menschengruppen vereinzeln. Deshalb wäre es jetzt solidarisch in einem höheren Sinne, gruppenübergreifend enger zusammenzurücken. Klug wäre es auch. Berlin ist so eine komplexe Stadt, und Deutschland könnte ein im guten Sinne komplexeres Land werden. Einfach wird diese Welt wohl nie. Also könnten wir wenigstens mit dem ideologischen Verflachen von Komplexität und dem unnötigen Verkomplizieren von Einfachem aufhören. Menschen wie Menschen zu behandeln, sollte zumindest in Demokratien normaler werden, das würde helfen.

Ich habe tiefes Mitgefühl mit den Menschen in Israel, die am 7. Oktober Opfer des grausamen Hamas-Terroranschlags geworden sind, ebenso mit ihren Angehörigen. Mit den Menschen, die in Israel als Geiseln genommen wurden und ihren Angehörigen. Ich hatte und habe Mitgefühl mit den von der humanitären Katastrophe in Gaza betroffenen Menschen. Ich habe Mitgefühl mit Menschen, die zivile Opfer des israelischen Vergeltungsschlags geworden sind und mit ihren Angehörigen. Ich stand und stehe solidarisch neben jüdischen Menschen in Deutschland. Ich weise auf die ungerechte, rassistische Behandlung von palästinensischen Menschen in Deutschland hin. Auch wenn das miteinander gesagt heftig bebt, sich sträubt, nicht so richtig in Sätze rein möchte, ist es für mich wahr, gleichzeitig, nebeneinander. Nur meine Aufmerksamkeit dafür springt unruhig flackernd hin und her. Ich verrechne keine Ungerechtigkeit miteinander, das habe ich von Ruth Klüger gelernt. Das heißt nicht, dass ich mich nicht von Betroffenen meiner Sätze kritisieren lassen werde.

Ich fühle mich mit diesen für mich wahren Sätzen nicht im Recht und zwischendurch sogar wie ein Monster, wenn ich von meinem Mitgefühl für die israelischen Terroropfer hinüber wehe zu den Zivilist_innen in Gaza und weiter zu den palästinensischen Menschen in Deutschland. Aber ist das wirklich monströs, ist nicht vielmehr der Mindfuck monströs, der mir abverlangt wird, wenn ich plötzlich aus Solidarität wie ein Nationalstaat denken soll, wo ich genau das aus Solidarität sonst ablehne und immer die Menschen sehen will. Ich bin doch keine Springer-Journalistin, warum sollte ich plötzlich reden, denken, fühlen wie eine? Vielleicht schreibe ich nicht Stand with Israel in meine Social-Media-Bios, aber dafür klingt meine Soli mit Menschen in Israel und jüdischen Menschen in der Welt weniger aufgesagt und hölzern, weil sie nicht auf einem heimlich-unheimlichem Verschweigen anderer Menschen basiert. Ich möchte wirklich, dass alle Menschen auf der Welt sicher und würdevoll leben können. Und ich weiß sehr genau, dass das jüdischen Menschen besonders schwer gemacht wird. Ich hoffe, mein Text klingt in dem Kontext nicht frivol.

Bitte zitiert mich nicht missverständlich, es wäre schön, wenn ich nur berechtigte Kritik abbekomme. Ich habe es so geschrieben, wie ich es jetzt gerade denken und fühlen kann. Vielleicht hilft es manchen von euch ein bisschen.

Und, nein, ich möchte nicht für einen Hot Take dazu ins Radio. Ich habe mir NewFrohmanntic ausgedacht, um auf meine Art Sachen in den Blick zu nehmen, zu bedenken und zu beschreiben. Das funktioniert nur hier, wenn überhaupt.

Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

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