Folge 16
Etwas Altes: Der Andere
Gestern vor 18 Jahren wurde ich morgens um neun Uhr von meinen Schwiegereltern im Wohnmobil in die Klinik gefahren, und um neun Uhr war L. geboren. Ich saß danach mit leicht geröteten Wangen wie nach einem kleinen Workout aufgekratzt im Bett, während das Baby ziemlich rot und verknautscht neben mir lag und schnaufte, weil es Anpassungsstörungen wegen der übertrieben schnellen Geburt hatte, was mir ein schlechtes Gewissen machte – wie sollte Mutterschaft auch anders beginnen. Gleichzeitig war ich auch erleichtert, weil ich knapp zwei Jahre vorher bei T. alles genau andersum erlebt hatte: eine endlos lange Geburt ohne Zwischenwehen, nach der ich wachsbleicher Matsch war, während mein Baby entspannt, ohne eine Falte und mit wunderschönem Teint neben mir lag. Damit die Gesichtsfarben aller Beteiligten abgehandelt sind: Mein Mann sah, soweit ich mich erinnere, beim zweiten Mal ziemlich normal aus, während er bei der ersten Geburt 14 Stunden lang stabil zwischen Grau und Grün oszilliert hatte.
Als dann am 21.6.2003 einige Stunden später dem ersten Baby das zweite Baby gezeigt wurde, unternahm es augenblicklich mit einer leeren PET-Flasche den ersten und einzigen Versuch, wieder Einzelkind zu werden. Für alle Eltern, die jetzt beim Lesen tief durchatmen, weil ihre Kinder immer zanken: Heute sind die beiden einander wirklich sehr, sehr nah. (Das hat mir übrigens ein Erzieher in der Grundschule vorhergesagt, DU HATTEST RECHT, BENNY!)
Für meinen Mann und mich kam am 21.6.2003 sehr überraschend, dass wir keinen zweiten T. bekommen hatten. Das erste Baby war und ist auch jetzt als Erwachsener optisch und vom Wesen her auf geradezu lächerlich offensichtliche Weise ein Mix aus uns beiden. Das zweite Baby aber erschien uns komplett anders, sogar fremd. Zunächst einmal optisch: Es war blond und blauäugig. Legendär der Dialog: »Christiane, ich will dir nicht zu nahe treten, aber du wirst verstehen, dass ich mich frage ...« »Ja, verstehe ich, aber, sorry, mir sieht er doch auch kein bisschen ähnlich!« (Ab dem Grundschulalter sah er dann aber seinem Bruder sehr ähnlich und später auch einem Großvater.) Die vollständige Unähnlichkeit mit uns Eltern war – das muss man wohl dazusagen – auch nur irritierend, nicht schlimm, denn wir waren beide sofort unendlich verknallt in L. Hätte jemand gesagt: »Es gab einen Fehler, Ihr Kind ist vertauscht worden«, hätten wir, darüber haben wir tatsächlich gesprochen, L. und T. geschnappt und wären irgendwo weit weg untergetaucht. Für mich war und ist es auch nicht so bedeutend, dass ich die Kinder selbst zur Welt gebracht habe, es ist wirklich eher das Gefühl der Zugehörigkeit, der Fürsorglichkeit und der Liebe, das mich an sie bindet. Baby L. jedenfalls war von Anfang an herzzerreißend lieb, freundlich und zugänglich. Vielleicht dachten wir insgeheim sogar: lieber, freundlicher und zugänglicher als wir selbst ... Wenn man ihn im Wagen durch die Stadt schob, leuchteten permanent Menschen vor einem auf, weil er sie so arg anstrahlte.
Das blonde und blauäugige Baby wurde sogar immer noch blonder und blauäugiger, was dazu führte, dass ich die Bomberjacke, die mir ein Freund aus London für ihn geschickt hatte, ungetragen weggab, weil L. meinem Empfinden nach darin wie ein Brandenburger Nazi aussah. Dann aber wurden seine Augen neben blau auch ein bisschen grau und ein bisschen grün und seine Haare dunkel. Er bekam letztlich sogar die dunkelsten Haare von uns allen, aber kurioserweise sind sie nicht braun oder schwarz, sondern irgendwie schwarzblond, es ist eine Haarfarbe, die ich zuvor noch nie gesehen habe.
L.’s Willensstärke ist legendär. Wenn er sagt, ich gewöhne mir xyz ab, macht er es, sofort und konsequent. (Nein, ich weiß leider auch nicht, wie so etwas geht.) Aber wir in der Familie glauben deshalb, dass er sich irgendwann einfach entschlossen hat, dunkelhaarig zu werden, um besser zu passen. Dabei wäre es wirklich nicht nötig gewesen, er hat immer perfekt gepasst. Unsere Erwartungen waren, bis wir ihn kennlernten, nur zu eindimensional. Aber das weiß er eh. So großzügig er mit seiner Freundschaft und Liebe ist, so absolut sicher ist er auch, dass er Liebe und Freundschaft verdient. Das gönne ich ihm als Mutter und Mensch so sehr, denn ich glaube, dass neben sicheren und würdevollen Lebensbedingungen Urvertrauen das absolut Kostbarste ist.
Eine meiner besten Freundinnen hat oft gesagt, dass L. genau wie ich sei. Ich selbst finde seit einiger Zeit, dass er in bestimmten Aspekten, die ich »positiv männlich« nennen würde, seinem Vater ähnelt. Es ist alles eine Frage von Blickwinkeln. Nur alle zusammen ergeben so etwas wie Wahrheit.
Okay, das war jetzt ein wenig kitschig. Aber ihr vertragt das schon mal.
Etwas Neues: Konferenz-Snipen
Vor einer Weile habe ich per Mail nachgefragt, ob ich einfach nur als Zuhörerin bei einer Onlinekonferenz im akademischen Rahmen teilnehmen dürfe. Das Konferenzthema und -programm klang interessant, und der einen Vortragenden wollte ich schon immer mal zuhören. Ich durfte und habe mich zum angegebenen Zeitpunkt eingeloggt, dann aber ziemlich geschockt festgestellt, dass ich – zumindest der Anzeige nach – die Einzige ohne Kamera an war und auch die Einzige, die in dem Rahmen nicht richtig dazugehörte. Vermutlich verdankte sich dieser Eindruck nur der Darstellung im Programm, aber das nützte mir in dem Moment wenig, ich war sehr verunsichert. Kamera an war bekleidungsmäßig keine Option, also habe ich mit dem Gefühl einer unfreiwilligen Sniperin (WARUM HAT SIE ALS EINZIGE NICHT DIE KAMERA AN? WER IST SIE ÜBERHAUPT?) zugehört – der Vortrag war sehr gut – und bin dann in der Pause vor dem nächsten Programmpunkt einfach verschwunden, was bestimmt noch merkwürdiger war.
Noch schlimmer ist es mir bei einem Online-Empfang der Literaturhäuser ergangen, wo ich ebenfalls sehr casual/Kamera aus eintraf, auch noch etwas verspätet, nur um direkt die Aufforderung an alle zu hören, sich jetzt in kleinen Gruppen in den direkten Austausch zu begeben, uuuuaaaah, weg war ich.
Gelernt habe ich daraus, dass mir wirklich Wissen und Erfahrung fehlt, wie man sich als Normalmensch bei Onlineveranstaltungen benimmt, ich veranstalte bislang nämlich entweder selbst oder bin als Vortragende/Mitdiskutierende eingeladen. Stellt euch also bitte darauf ein, dass ich zukünftig häufiger bei euren Online-Events erscheine, mich aber weird benehme, ich übe noch.
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Es vergehen Jahre, du schaust zurück und hast den Eindruck, dass die Vergangenheit toll war. Das Gedächtnis sortiert aus, damit es dich am Leben hält.« – Lavinia Branişte, Sonia meldet sich (Öffnet in neuem Fenster), S. 22
Etwas Uncooles: Facebook-Messages aus der Gruft
Ich bin seit 2019 nicht mehr auf Facebook (Öffnet in neuem Fenster), mein Sohn L. seines Erachtens nach auch schon ewig nicht mehr, aber anscheinend existiert sein Konto noch, und für dieses bekomme ich immer wieder Nachrichten gemailt, weil er damals, als man Facebook noch ambitioniert nutzte, offiziell zu jung war und wohl auch keine eigene Mailadresse hatte. Entsprechend hatte er auch noch nicht genügend eigene Freund*innen, die Facebook nutzten und freundete sich deshalb mit Bekannten seiner Eltern an; deshalb erfahre ich jetzt im Jahr 2021 ungewollt, dass meine Nachbarin auf Facebook ein Foto gepostet oder mein Ex-Geschäftspartner auf Facebook neue Freundschaften geschlossen hat. All das kostet mich Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung, die ich faktisch nicht erübrigen kann. Ich lese den Benachrichtigungs-Quark halbbewusst im Augenwinkel, obwohl ich ihn eigentlich nicht lese. Das Ganze hat für mich den anachronistischen Vibe einer Apothekenumschau-Lektüre und vermittelt mir überdies ein deutliches Gefühl, wie absolut unkontrollierbar und oft auch komplett unsinnig unsere Daten im Netz rumspuken. Hoffentlich räumt irgendwann mal jemand mit genuinem Verständnis diese galaktische Müllhalde auf. Ich persönlich bin ja schon zu schwach dafür, den Elan aufzubringen, Facebook zu nötigen, diese Nachrichten zu unterlassen. Oder sie als Spam zu markieren.
*markiert als Spam* (hat sich der Newsletter doch schon gelohnt)
Rubrikloses
Nicht letztes Jahr in Marienbad, sondern vorletztes Jahr in Karlovy Vary
Damals, als ich noch Zutritt zu Geburtstagsfeiern meiner Kinder hatte (»Kinder, bitte fürs Internet einmal kurz die Hände vors Gesicht ... wegen der Persönlichkeitsrechte.«)
Wie Facebook mich einmal vom Wählen abhalten wollte
Wenn man beim Amt endlich fertig ist, aber versteht, dass man jetzt trotzdem nicht drängeln sollte
#SayTheirNames
Guerlica
Aus: Präraffaelitische Girls erklären Hexerei (Öffnet in neuem Fenster)
Zurück zum Relevanten, zu den Relevantierenden, wir sehen uns in einer Woche wieder.
– Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
FrauFrohmann
Wer mag und kann, gern New Frohmanntic als zahlendes Mitglied (Öffnet in neuem Fenster) mit persönlich passender Beitragshöhe unterstützen. Bitte kauft und lest auch Bücher aus dem Frohmann Verlag (Öffnet in neuem Fenster). Lieben Tag! Dankeschön.