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Folge 78

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Etwas Altes: Twitterfreundinnenschaft mit Üt

Heute möchte ich meine älteste Twitterfreundinnenschaft feiern: Ute Weber war die erste Person, die ich wirklich »auf Twitter« kennenlernte, und ihrem E-Book Unfug. Tiefe Gedanken, auch in seichten Gewässern galt der allererste Tweet im Verlegerinnenverlags-Hybridaccount @FrauFrohmann, das war im September 2012. 

Else Buschheuer schrieb damals über Utes Kürzesttexte: »fast schon ärgerlich intelligent«, und Ute Weber schreibt und sagt nicht nur fast ärgerlich intelligente Dinge, sondern ist überdies die vermutlich integerste weiße Person auf der gottlosen Erde. Neu-, Dazu- und Umsehenlernen ist für sie selbstverständlich und dafür tut sie viel. Wer denkt, dass gute Menschen langweilig sind, hat Ute Weber noch nicht getroffen. 

Ute ist als einzige Person Teil beider Gruppen, in denen ich, die notorische Chatmuffelin, freiwillig mehr als das Nötigste schreibe, Schweres ebenso wie Leichtes, Tiefes ebenso wie Fluffiges. 

Symbolbild Chat 1

Symboldbild Chat 2

Wenn das Leben es erlaubt, treffen Ute und ich uns mindestens einmal im Jahr, früher meist am Rande der Buchmesse, neuerdings privater und länger, gemeinsam mit einer anderen Freundin, von der ich gerade nicht weiß, ob sie ihren Namen an dieser Stelle gern hingeschrieben lesen würde, denn sie ist vorbildlich achtsam mit ihren Daten und großer Fan unserer Dreier-Freundinnenschaft.   

Twitter habe ich 2022 die Freundschaft gekündigt, aber Twitter bleibt auch Legende, weil die Plattform beste Menschen zu mir gebracht hat. (Nebengedanke, der nur für manche Leser*innen Sinn ergeben wird: Den Twitterer Sim, den ich ausschließlich aus dem Netz kenne, stelle ich mir ähnlich wie Ute vor.) 

Falls ich schon mal eine Liebeserklärung an Ute Weber im New Frohmanntic geschrieben haben sollte, tut es mir nicht leid, mich zu wiederholen.

Etwas Neues: Solidarität des Schocks

Dieser Text richtet sich an Weiße und ist hoffentlich gegenüber BIPoC nicht anmaßend.

Am 19. Februar 2020 schoss in Hanau ein weißer Deutscher nicht wahllos, sondern gezielt auf Menschen, die er als nicht weiß und nicht deutsch einordnete. Die einzige Person, bei der er sich nicht sicher war, ließ er leben. (Wichtige Fragen: Wie kommt ein Mensch zu dem Punkt, sich selbst die Autorität zuzusprechen, über Leben und Tod anderer Menschen zu entscheiden? Was prägte, förderte, stützte seine Legitimations-Erzählung?) Der Grad der psychischen Verwirrung des Täters wäre, hätte er sich nicht zuletzt auch selbst getötet, strafrechtlich interessant, er ist aber nicht wesentlich dafür, welche Bedeutung seine Tat für die Gesellschaft hat. Die rassistischen Morde von Hanau hatten und haben verheerende Folgen. Zuallererst verloren einzigartige Menschen, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov, ihr unersetzliches Leben. 

Die Familien und Freund*innen der Ermordeten verloren liebste Menschen, der Schmerz darüber und manchmal auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen daraus werden sie ihr eigenes Leben lang schwer belasten. 

Die Gesellschaft in Deutschland hat am 19. Februar 2020 durch rassistisch motivierte Morde unersetzliche Mitglieder verloren, die Toten von Hanau waren und sind »welche von uns«, die jetzt fehlen. – »Die deutsche Gesellschaft« ist in meinen Augen die Gesellschaft der in Deutschland lebenden Menschen, ich nenne sie deshalb lieber »die Gesellschaft in Deutschland«.  – Dennoch ist der essenzielle Verlust für die Gesellschaft in Deutschland aufgrund der Art, wie überwiegend in Medien über Hanau berichtet wird, der Mehrheit ihrer Mitglieder nie wirklich bewusst und plausibel geworden, wohingegen andere, ebenfalls sehr viele Menschen, »seit Hanau« – das ist längst ein geflügeltes Wort – unter einem Schock stehen, der sich nicht wieder gelöst hat. Diese Diskrepanz ist merkwürdig, aber nicht unerklärbar: In besagten Medienberichten und in der Folge von weißen Menschen sind die in Hanau ermordeten Personen geothert, also aus einem unbewusst-selbstverständlichen »wir« ausgeschlossen  und zu einem »die« gemacht worden. Das mediale Rumreiten auf der Shishabar als Tatort, während es in Wirklichkeit mehrere Tatorte waren, erinnerte frappierend an die Berichterstattung zum NSU und den rassistischen Polizeibegriff der »Dönermorde«. In beiden Fällen wurde es weißen Medienrezipient*innen extrem erschwert, die Taten (Weiße ermorden aus rechtsextremen Motiven Menschen, denen sie vorher verfassungswidrig die Grundrechte abgesprochen haben) realistisch wahrzunehmen. Das Unrecht der Tat verdoppelt sich in gewisser Weise im Unrecht der ignoranten oder böswilligen Berichterstattung, die, obwohl sie es könnte, nichts dazu beiträgt, dass solche Taten in Zukunft unwahrscheinlicher werden. Viele meiner Freund*innen und Bekannten befürchten seit Hanau nicht mehr nur, dass sie und ihre Familien ständig in Lebensgefahr sind, sie wissen es jetzt. Dass es vielen Millionen weiteren rassifizierten Menschen in Deutschland genauso geht, kann angenommen werden. 

Letztes Jahr hatte ich den Eindruck, dass ich im Netz eine von ganz wenigen weißen Personen war, die sich öffentlich zum Jahrestag der rechtsextremen Morde von Hanau äußerten. Das mag damit zusammenhängen, dass ich mit vielen BIPoC verbunden bin. Ich habe dadurch direkt mitbekommen, was Hanau für viele Menschen bedeutet und konnte auch kritisch an mir selbst beobachten, dass mein Entsetzen sich von ihrem Schock unterschied. Meines ließ allmählich wieder etwas nach, ihres nicht. Vielleicht gibt es wirklich Millionen Menschen in Deutschland, die gar nichts von dem Schock wissen, in dem sich Millionen Menschen in Deutschland seit drei Jahren befinden. Berechtigte Angst um ihr Leben hatten rassifizierte Menschen auch schon davor, aber Hanau scheint wie vorher Solingen und dann Hoyerswerda und Chemnitz wie ein Vergößerungsspiegel für die Erkenntnis gewirkt zu haben, dass da weiße Menschen sind, die Menschen in ihrer Nachbarschaft die Existenzberechtigung absprechen und ihnen deshalb buchstäblich nach dem Leben trachten.  

Weiße Deutsche, das ist in sozialen Medien und privaten Kontexten immer häufiger spürbar, haben aktuell einfach keine Lust mehr – Corona war hart genug und jetzt auch noch Inflation –, sich mit »other people’s problems« zu beschäftigen. Das Othering als gesellschaftliches und persönliches Kernproblem wird nicht erkannt. Irgendwann muss auch mal Schluss sein: Wenn es zu viele rassistische Anschläge gibt und zu viele Coronatote, wird einfach die Art, darüber zu kommunizieren geändert. Probleme, die sich nicht durch Aussitzen lösen lassen, werden kurzerhand für nichtexistent erklärt oder die Schuld wird sprachlich den Opfern zugeschoben – schon ist wieder Raum für Hygge: weismachen sollte mit scharfem ß geschrieben werden. Ambivalenz und deren emotionaler Ausdruck Unbehaglichkeit ist für zu viele Menschen anscheinend schlimmer als Faschismus.

Ein an sich positiver oder zumindest neutraler Begriff, »Community«, wird seit einiger Zeit fast wie eine Art Reservat um Betroffene von rassistischer Gewalt gelegt. »Ach, das sollen die mal in ihrer Community klären, ihr Ermordetwerden, ihre Trauer, ihr Gedenken, ihre Sorge.« Zur »Community« gehören demnach alle Menschen, die beliebige Weiße, wenn sie sich aus random Anlässen unbehaglich fühlen, als Nichtweiße markieren. Huch, das ist ja genau die gleiche Betrachtungsweise wie beim Täter von Hanau. 

Was aber wäre, wenn aus Hanau eine wirkliche, nicht gesetzte Community entstehen würde, eine Solidargemeinschaft des Schocks. Neben denen, die der Schock, weil sie rassifizierte Menschen in Deutschland sind, ereilt hat, wären auch die dabei, die sich dem Schock freiwillig aussetzen, indem sie sich die Entsetzlichkeit der Tat intellektuell bewusst und emotional zugänglich machen. (Ja, ein freiwilliger Schock ist ein bisschen paradox, aber als Denkfigur hilfreich.)

Wer als weiße Person die Hoffnung nicht aufgeben möchte, dass die Leben aller besser werden können, wenn eine grundsätzliche gesellschaftliche Solidarität aller, die keine Nazis sein möchten, zum Tragen kommt, macht sich das Gedenken an die Ermordeten von Hanau zur persönlichen Aufgabe. Konkret kann der schrittweise Austritt aus dem heimlich-unheimlichen Club unabsichtlicher weißer Überlegenheitsperformanz so aussehen: 

Kein Scherz, das alles muss eingeübt werden: 

1. als richtig anerkennen

2. machen wollen

3. machen

4. dabei bleiben

5. normal finden  

Wenn dieses Jahr mehr, viele, sehr viele Weiße an die Toten von Hanau erinnern, sendet das ein Signal, dass die weiße Parallelgesellschaft bewusst verlassen und Mitmenschen im Schock und in Bedrohungslage solidarisch beigestanden wird.

Realitätsprüfung: Ist es für weiße Menschen wirklich eine Zumutung, aus eigenem Antrieb einen weiteren Gedenktag für Opfer rechtsextremer Gewalt zu begehen? Ist es nicht die unvergleichlich größere Zumutung, als BIPoC in Deutschland bei jedem Gang vor die Tür damit rechnen zu müssen, dass es vielleicht der letzte sein könnte, und nicht etwa (=geteiltes Risko aller) weil ein Dachziegel lose sitzt, sondern weil (=von der Mehrheit unsolidarisch hingenommenes Risiko Vieler) weiße Rassist*innen die Mehrheitsgesellschaft bislang eher hinter sich als zwischen sich und den Attackierten wissen. 

Ich gehe soweit zu sagen, dass mit mehr freiwillig gezeigter Solidarität seit Hanau jetzt schon ein gesellschaftlicher Zustand erreicht wäre, der es Medien deutlich schwerer machen würde, Geld mit rassistischer Hetze zu verdienen und der auch der CDU verunmöglicht hätte, mit einer rassistischen Darstellung der Silvester-Ausschreitungen ihren Berlin-Wahlkampf zu boosten. Hans-Georg Maaßen könnte – maus darf ja mal träumen – wegen Vertuschens in Sachen NSU-Terrorismus womöglich schon im Gefängnis sitzen. Literaturkritiker*innen, die öffentlich sagen, es wären nun genug Migrationsgeschichten erzählt worden, würden in der Mehrheitsgesellschaft ein peinlich berührtes Kopschütteln ernten. Everything is connected, wusste schon Thomas Pynchon – selbst alte weiße Männer mit Pop-Credibility geben mir recht.

Hanau sollte für weiße Menschen in Deutschland eine Aufgabe und kein Aufgeben bedeuten. 

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Aber nach Solingen war eines für mich ganz klar: Das ist keine Ausnahme mehr, das ist jetzt so. Eine Nachbarin sagte damals zu meiner Mutter: ›Sie zünden uns an und sehen zu, wie wir verbrennen. Einfach so.‹ Ich kann diesen Satz nicht vergessen.« 

– Selma Wels, Vorwort zu anders bleiben (Öffnet in neuem Fenster)

Etwas Uncooles: Un-Barmherzigkeits-Spiele

Die andauernd aufpoppende Werbung, mit der Menschen für die Gratisnutzung von Handyspielen und anderen Apps bezahlen, ist nervig genug, aber manchmal werden dabei auch wirklich gruselige Produkte angeboten. Diese Woche wurden mir mehrfach Ads für zwei verschiedene, sehr ähnlich wirkende Spiele angezeigt, bei denen es galt, das Leiden von als arm gekennzeichneten Personen (auf sich allein gestellte, weinende, zitternde Mutter mit kleinem Kind) zu mildern, indem die unsichtbare Spielhand ihnen Geld geben oder die Wohnung im Abbruchhaus reparieren sollte. Bei dem einen Spiel konnte das, wie der kurze Vorführfilm zeigte, auch schiefgehen, wenn zum Heizen kein Holzbrett, sondern ein Benzinkanister ins Feuer geworfen wurde. Dann brannte die Wohnung mit Mutter und Kind darin lichterloh. Keine Schelmin, wer dabei sofort an brennende Geflüchtetenunterkünfte denken muss. 

wtf wtf wtf 

Barmherzigsein als Spiel? Spielerisch über Leben und Tod von als Opfern dargestellten Frauen und Kindern entscheiden? Allmachtsphantasien mit schlechter Grafik? Alles an diesen Spielen ist falsch, außer, man konzipiert trashige Handyspiele als neue Guerillataktik für Naziorganisationen. 

Würde ich mich als originelle Literaturwissenschaftlerin stilisieren, könnte ich elegant einen plausiblen Bogen von Hans Christian Andersen, Fjodor Michailowitsch Dostojewski und Charles Dickens zu diesen Spielen spannen, aber das lasse ich schön bleiben. Ein schlichtes Pfui tut es auch.

Leute, echt, wenn ihr auf dem Smartphone Menschen in Not helfen wollt, dann spielt Paypal und spendet z. B. an: 

Kurdischer Roter Halbmond (Heyva Sor):
paypal.me/heyvasorakurdistane
Spendenstichwort: Nothilfe Erdbeben     

Das Leben ist nicht nur ein Spiel, und die Leben anderer Menschen sind ganz sicher keines. 

Zurück ins Internet.  Wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,   
FrauFrohmann 

Teilt diese Ausgabe bitte, sie ist mir inhaltlich sehr wichtig. 

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