Zum Hauptinhalt springen

Folge 79

Etwas Altes: Individuelle Überempfindlichkeiten

Manchmal fängt menschmaus erst sehr zeitverzögert an, über Phänomene nachzudenken, die sich schon lange bemerkenswert angefühlt haben. So ein Phänomen sind persönliche Überempfindlichkeiten. Eine plausible Erklärung für das Nichtnachdenken darüber ist, dass sie einem bei sich selbst völlig erklärlich vorkommen, bei anderen aber als merkwürdig, rätselhaft, neurotisch eingeordnet werden. So kommt man nicht so schnell darauf, etwas Gemeinsames, Allgemeingültiges zu erleben. – Gibt es »Neurosen« überhaupt noch? Ich habe den Begriff schon lange nicht mehr gehört. – Von meinen eigenen Überempfindlichkeiten habe ich in unterschiedlichen Kontexten bestimmt schon mal berichtet: Die Farbe Rot und fast alle starken Düfte bereiten mir Unbehagen. Mir nahe Menschen haben vergleichbare Probleme mit dem Geräusch einer nachbarlichen Poolpumpe, enger und starrer Kleidung, abstrakter Kunst, Musik ohne Beat, ungleichen Abständen von dekorativen Dingen auf Regalbrettern. Jede*r von uns weist auch besondere Unempfindlichkeiten auf, die von den anderen als unverständlich, wenn nicht grobschlächtig empfunden werden: WIE KANN MAN DAS NICHT SEHEN, HÖREN, RIECHEN, FÜHLEN, VERSTEHEN, BEHERZIGEN? Menschmaus kann, und zwar jede*r etwas anderes und etwas anderes nicht. Diese persönlichen Überempfindlichkeiten und -unempfindlichkeiten gilt es, bei sich und anderen zu erkennen und zu akzeptieren, auch Wege zu finden, darüber zu kommunizieren, ohne unnötige Verunsicherung auszulösen. (Freund*innen, es ist wirklich okay, in meiner Gegenwart rote Kleidung zu tragen, auch an meinem Geburtstag; ich habe für meine Mutter gerade eine ganze Wohnung in Rottönen eingerichtet.)

Individuelle Empfindlich- und Grobschlächtigkeiten sind ein schönes, wenn auch nicht das einzige Themenfeld für die sehr wichtige Erkenntnis, dass alle Menschen nicht gleich sind. Sie haben nur die gleichen Grundrechte – theoretisch.

Wenn Menschen sich nicht dauernd vergleichen und andere permanent beurteilen, entfallen viele Probleme. Dann gilt etwa die Angst vor Mäusen nicht mehr als lächerlicher als die vor Schlangen. (Es gibt übrigens giftige Mäuse und ungiftige Schlangen.) Menschen können in Ruhe jede Art von andere nicht gefährdender Exzentrik ausleben, auch die, die sie sich nicht ausgesucht haben. Manchmal verliert sich so eine Überempfindlichkeit auch oder sie schlägt ins Gegenteil um. Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, konnte ich nicht nur mehrere Monate lang keinen Kaffeegeruch ertragen (the tragedy!), sondern musste auch würgen, wenn ich meine geliebte pastellfarbene 80er-Jahre-Head-Steppjacke sah. (Die so wunderschön war, dass sie als Bond-Girl-Jacke in For Your Eyes Only mitspielte.) Der Anblick von Pastellfarben tut mir normalerweise ausgesprochen gut, was sich an meinem Zuhause und meiner Garderobe ablesen lässt. Offenkundig war ich schwanger also nicht ich oder ich und noch etwas, jemand anderes oder ein anderes ich. Oder die schöne Jacke war dem Kind in meinem Bauch zu starr und eng, woraufhin es mir hormonell den Pastellekel verpasste. 

»Du hast Probleme«, wäre vermutlich das Urteil und »Stell dich nicht so an« der Rat vergangener Generationen gewesen. »Lern du erst mal Farben sehen und gendern, bevor du mich von der Seite anquatschst«, ist meine Antwort in die Vergangenheit.

Etwas Neues: Verarbeiten beim Arbeiten

Morgen ist mein dreimonatiges Non-Sabbatical abgeschlossen, in dem ich nicht für Geld gearbeitet habe, sondern Carearbeit für meine Mutter geleistet habe, obwohl das niemand von mir verlangt hat, aber alternativlos war es eben auch. Jede Zwischenlösung hätte nur dazu geführt, dass ich Geld- und Carearbeit gleichermaßen schlecht gemacht hätte, denn ich bin die unbegabteste Multitaskerin der Welt. So haben zwar ein paar Menschen verständlicherweise Verlagsunterstützungs-Abos gekündigt, weil der Verlag gerade komplett brachliegt, aber es haben auch ein paar Menschen NewFrohmanntic-Abos abgeschlossen, weil sie über die viel geteilten persönlichen Berichte erst auf mich aufmerksam wurden. 

Die Lage jetzt hier in München: Meine Mutter findet ihr bezahlbares Appartment im betreuten Wohnen mit Vögelchen-Baum vor dem großen Balkon toll, die Einrichtung auch, sie ist wieder aufgewacht, lebendig. Es hat sich gelohnt, ich bin unglaublich erschöpft, aber zufrieden. Eine Person, die buchstäblich fast gestorben ist und auch vorher nicht mehr richtig leben wollte, hier fröhlich Blumentöpfe auf dem Fensterbrett rumschieben zu sehen, ist schon ein ziemlicher Hammer.  

Wenn es nur um mich allein geht, bin ich ja sehr gern komplett chaotisch, denn dann ist das in erster Linie kreativ. Bei der Care in den vergangenen drei Monaten habe ich aber ungewohnt systematisch und ordentlich gearbeitet. Gleich zu Beginn entschied ich, dass ich den Schock und die Krise rund um meine Mutter (starker Trigger wegen ähnlicher Situation schon beim Tod meines Vaters) am besten verarbeiten würde, indem ich ihr ein schönes, neues Leben gestalte und ihr früheres Leben würdevoll abwickle. Ersteres war selbstverständlich auch meine Aufgabe als ihr Kind, aber Letzteres hätte ich mit Geld von Mamas Konto sofort in fremde Hände geben können. Das wollte ich nicht. Ich habe sogar lächerlich viel Zeit darauf verwendet, Dinge aus der alten Wohnung an liebe Menschen zu vermitteln. 

Was sehr tröstlich war: Die Freundin meines Sohnes hat gerade ihre erste eigene Wohnung bezogen und konnte nicht nur enorm viel gebrauchen, sondern fand auch wirklich viel, was zu haben war, schön. So sahen unsere Chats in der Hochphase aus:

Als die einzige Lampe, die ich absichtlich nicht vermittelt hatte, weil ich sie zu harsch deutsch fand (Messing, mit Adlern), gestern von den Entrümplern die Treppe runtergetragen wurde, hat die älteste Nachbarin die Türe aufgemacht und schüchtern gefragt, ob sie die haben dürfte. So hängt ab jetzt die zu deutsche Lampe meiner Oma in der Wohnung der ersten »Gastarbeiterin«, die ich als Kind kennenlernte. Ein von mir vor 25 Jahren für meine Mutter gemaltes Bild meiner längst verstorbenen Katzen K. und D. hängt in einer Wohnung in Berlin-Wedding, die sich in der gleichen Straße befindet, in der diese Katzen mit mir ihre Jugend verbrachten. 

Ein seltener Fall von happy end, natürlich nur vorläufig, aber das muss ja so sein. Meine Mutter lebt schon immer so, als würde alles schicksalhaft über sie hereinbrechen, während ich fest ans Gestalten des eigenen Lebens glaube – das ist wohl die Ironie der Geschichte. 

Meine Seele ist, wie geplant, gut durch diese harte Zeit gekommen. Ich könnte jetzt ein Ratgeberinnenbuch schreiben, Die Trödeltherapie, vermutlich würde ich damit mehr Geld verdienen als mit aller Arbeit, die ich nicht nur hypothetisch mache. 

Jetzt freue ich mich sehr darauf, wieder zu verlegen und zu schreiben, sehr, sehr, sehr. 

Bei der Bewerbung um den Verlagspreis habe ich ein weiteres Jahr nichts Großartiges vorzuzeigen, aber dafür habe ich einiges für das Leben getan.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

Vielleicht in diesem stillen Raum mittendrin, auf dieser Schwelle, vielleicht haben wir uns dort etwas geschaffen, nämlich Sinn. Es geht ohne Eindeutigkeit, es geht ohne entweder, ohne ein Eigentlich.

– Dilek Güngör, anders bleiben (Öffnet in neuem Fenster)

Etwas Uncooles: In sozialmediale Vergessenheit geraten

Es ist so ernüchternd wie läuternd: Du kannst ein Jahrzehnt lang big in Japan aka auf Twitter und Instagram gewesen sein, aber wenn du weg bist, bist du wirklich instant weg. Menschen merken nicht mal bewusst, dass du weg bist, weil es rutschen ja sofort andere Inhalte in die TL, und faktisch warst du ja eh schon zwei, drei Jahre vorher ins performative Geisterreich geraten, seit du dich konsequent nicht mehr an Clickbait-Aufregung beteiligtest. 

Es tut aber auch nicht weh, überhaupt nicht. Es ist nur nicht gut fürs Geschäft, aus moralischen Gründen keine Plattformen mehr zu nutzen, die Megalodudes die private Raumfahrt mitfinanziert. Sehr gut ist es hingegen für den Blutdruck. Ebenfalls instant, ganz erstaunlich. 

Außerdem seid ihr noch da. Hier. Bewusst und absichtlich. Das ist viel schöner. 

Rubrikloses

Bilder aus der alten Wohnung meiner Mutter bzw. aus Printmedien, die sich dort fanden

Schlüssel zur Vergangenheit

Keine Serienkillern zu viel Raum gebende Netflix-Serie, sondern eine Abbildung aus dem Handarbeitsbuch meiner Oma (es wird hier noch mehr Beachtung finden)

Deutsche Magie nach der Hexenverbrennung

Eine Werbung, die mich hermeneutisch diamanthart herausfordert

Innenseite Abstellkammertür

Beim Auszug den verlorenen 2. Weltkrieg wiederfinden

Ein Lieblingsobjekt aus meiner Kindheit

Guerlica

Zurück ins Internet.  Wir sehen uns nächste Woche, vielleicht auch zwischendurch, ich muss ja noch eine Folge New Frohmanntic nachliefern. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,    
FrauFrohmann

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von UMSEHEN LERNEN und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden