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Folge 77

Etwas Altes: Einander in die Fußstapfen treten

Das heutige Covermotiv ist eines meiner absoluten Lieblingsbilder; zwischen dem Moment der Aufnahme und heute liegen ungefähr zehn Jahre. 

Das Bild mit der geteilten Fußspur erinnert mich daran, dass »in die Fußstapfen von jemaus treten« nicht linear gedacht werden muss. 

Die Moonboots damals waren weiße, dazwischen gab es neonorange, aktuell habe ich goldene. Laser trägt immer noch dasselbe Modell mit Fell, ist aber seither von einem Kätzchen mit aufgeregtem Silberblick zu einem abgeklärten, etwas strengen Kater gereift. (Vielleicht haben Katzen genau wie Menschen auch altersbedingte Probleme mit den Augen und entwickeln deshalb diesen schnell als vorwurfsvoll gedeuteten Fixierblick.) 

An das Bild habe ich mich erinnert, weil in Berlin frischer Schnee liegt und wir den Aufnahmemoment re-enacten könnten. Gemeinsam Schnee geschippt in unseren coolen Stiefeln haben wir heute schon.

Etwas Neues: KI-gestützter Schulbetrug

Was spricht dagegen, KI die Referate von Kindern betrügerisch erledigen zu lassen? Dann haben die Eltern, die das sonst gelegentlich tun, um sicherzustellen, dass junge Menschen nicht noch länger in der Institution verweilen müssen, die sie aufgrund unidealer Strukturen nicht zum eigenständigen Arbeiten motivieren kann, mehr Zeit für ihre eigene Arbeit. Wie Eltern zum Arbeiten kommen, ist staatlich ja keine relevante Frage, das wissen alleinerziehende und auch selbstständige Eltern schon lange und seit Corona nun endlich alle Eltern. Hauptsache, sie arbeiten.

Halt, ist es nicht schrecklich unpädagogisch, den eigenen Kindern Referate zu schreiben und so das Konzept Schule zu torpedieren? Non vitae sed scholae discimus, NICHT FÜR DIE SCHULE, FÜR DAS LEBEN LERNEN WIR!!!!! Klingt gut, aber aus Sicht einer Person mit dreimal Abi (einmal aktiv, zweimal passiv, aber eben nicht ganz passiv) würde ich diesen Leerzitat-Klassiker deutlich umformulieren: Nicht in der Schule, im Leben lernen wir, also zumindest »wir« in dieser Familie. 

Halt, ist es nicht schrecklich unsolidarisch, den eigenen Kindern Referate zu schreiben? Schließlich können nicht alle Eltern kompetent betrügerisch helfen! Ja, stimmt. Ich beobachte die Ungerechtigkeit, erkenne sie an, benenne sie öffentlich, fordere deren politische Behebung. Aber ich lerne gerade ganz neu im Leben bzw. von Menschen im Internet, mir nicht nur in der Theorie nicht immer privatwirtschaftlich oder privatethisch die Verantwortung in die Schuhe schieben zu lassen bzw. sie mir nicht schick schamvoll selbst anzuziehen. Mein temporär desorientiertes Kind in der Schule scheitern zu lassen, hilft keinem Kind, dessen Eltern nicht betrügerisch helfen können. Die Ausweitung meiner Betrugsbeihilfe, das Schreiben der Vortragsteile aller Mit-Referierenden schon eher. Das Gestehen und Einordnen meiner Betrügereien hier im Newsletter vielleicht auch ein bisschen.

Es waren nicht viele Referate, die ich in meiner zweiten und dritten Schulzeit schrieb, ich kann mich nur an insgesamt drei erinnern, aber selbst wenn ich alle Vorträge für beide Kinder geschrieben hätte ... ich bereue nichts. Jugendlichen eine Schulzeit mit endlosem Unterrichtsausfall und Coronaabi zuzumuten, war auch megaunpädagogisch und megaunsolidarisch, und die alle Gesellschaftsbereiche durchziehende Heuchelei nervt einfach so. 

Die lateinische Originalversion des Seneca-Zitats habe ich aus Wikipedia rauskopiert; ich habe zwar das Große Latinum, aber das verdanke ich nicht unbeträchtlich meinem Vater. Mit Vokabelangaben des Lehrers konnten er und ich auch ohne Computerhilfe die Textstelle für die entscheidende Klausur zusammenspekulieren. Er übersetzte, ich lernte in groben Zügen auswendig und gab die Übersetzung in der Klasse weiter. Unser Lehrer freute sich über die großartigen Ergebnisse. Alle glücklich. Ob mein Großvater meinem Vater ebenfalls in der Schulzeit beim Betrügen half, weiß ich leider nicht. Ich tippe auf Nein, das waren ja die guten alten Zeiten, in denen das Lernen noch in Kinder hineingeprügelt wurde. 

Ich bereue auch nicht, betrügerische schulische Hilfe angenommen zu haben. Beim Verteilen der Gene habe ich mir nicht ausgesucht, mich nicht gut konzentrieren und nicht gut auf klassische Weise lernen zu können. Wenn ich etwas interessant finde, kann ich mich unglaublich gut konzentrieren, alles fliegt mir zu. In der Schule waren Momente interessanter Ansprache aber eher rar, deshalb war mir entsprechend meist entweder langweilig oder ich hatte Angst, dass mein Nichtwissen auffliegen würde. In Lernfächern versagte ich, in den anderen konnte ich glänzen. Ähnlich lief es bei meinen Kindern. Der Abidurchschnitt war am Ende bei allen jeweils okay, aber nicht toll. Ja, vielleicht wäre es im Ideal super gewesen, wenn mein Vater mir Lernen beigebracht hätte und ich es meinen Kindern. In der Realität sorgten die jeweiligen Elternteile dafür, dass die jeweiligen Kinder mit ihrer spezifischen Art nicht an einer besonders kritischen Stelle der Schulzeit ganz aus der Kurve flogen. Wäre schon schade gewesen, wenn ich das Abi nicht geschafft hätte, denn mein Studium schloss ich dann mit Bestnote ab. Ohne Betrug. Weil ich es an sich interessant fand und Wege entwickelte, die langweiligen Momente zu umgehen. Seit es das Internet gibt, funktioniert Lernen für mich insgesamt viel besser. Bei so viel Input ist immer etwas Interessantes dabei, was hängenbleibt.

Es war eine traurige Erfahrung, dass meine Kinder ähnlich unberührt die Schule durchliefen wie ich dreißig Jahre zuvor. Dabei waren ihre Schulen im Vergleich mit anderen Berliner Schulen wirklich gut gewesen, die eine sogar sehr gut. Zwölf, dreizehn Jahre lang an fünf von sieben Tagen in die Schule gehen und danach erscheint in der Rückschau alles wie ein ereignisloser Traum? Puh. Was bedeuten angesichts dieser Desillusionierung ein paar Kleinbetrügereien bei Leistungsnachweisen? Schulbetrug wird sich in Zeiten von KI nicht so sehr verändern, wie aktuelle Diskussionen es nahelegen. Andere Zeiten, andere Betrugsmöglichkeiten, so what? Mama, Wikipedia, KI. – Warum aber will maus betrügen und nicht einfach selbst arbeiten? Das scheint mir die viel wichtigere Frage zu sein.

Wichtig in dem Kontext – Menschen, die sich von anderen ihre Diss schreiben lassen, um mit dem Titel leichter ein hohes Amt zu bekommen, verdienen nur eines: gesellschaftliche Ächtung. Ein Promotionsverfahren ist etwas, in das Menschen sich freiwillig, offenen Auges begeben und womit in jedem einzelnen Fall das, was Wissenschaft ist, inhaltlich und auch performativ bekräftigt wird. Wer bei der Diss betrügt, zerstört die Wissenschaft selbst. Es gibt Schulpflicht, aber keine Top-Karrieren-Pflicht. Dissbetrug ist deshalb etwas kategorial anderes als familiärer Referatsbetrug zum Schutz von instabilen Kindern. (Erschöpfte Mütter, die sich beim Fertigbekommen der Diss helfen lassen, würde ich vielleicht nicht ganz so sehr verachten. Sachlich okay fände ich es aber nicht. Aber ich kenne auch gar keinen solchen Fall, nur ein paar Mütter, die ihre Diss aufgegeben haben.) 

Mir erscheint der Schulreferats-Eltern-Kind-Betrug dem gleichen Prinzip zu folgen wie der Büromaterialklau durch Mitarbeiter*innen. Die Bereitschaft dafür entsteht erst mit der Erfahrung eines demütigenden Nichtgesehenswerdens. Erst Personen, denen gezeigt wurde, dass sie »Untergebene« sind und folglich als Menschen nicht zählen, bedienen sich am Betriebsvermögen in Gestalt von Klebezetteln, WLAN und bezahlter Arbeitszeit. Das ist sachlich betrachtet natürlich ziemlich lächerlich – die Gründung eines Betriebsrats wäre nachhaltiger –, aber es ist die einzige instant zugängliche Protestaktion, wenn eine Kündigung noch nicht denkbar ist. Im Prinzip ist es aber selbst eine kleine Kündigung, die nicht nur symbolisch ist. Büromaterialklau ist ein Vorschuss auf eine Kündigung. 

Kinder, Jugendliche, Familien, die manchmal bei Referaten betrügen, jetzt auch mit KI: Sie treten den »Job« als Schüler*innen bzw. deren Eltern erst gar nicht richtig an, weil sie erkennen, dass er nicht richtig passt. Ich glaube nicht, dass sie dafür die Schuld tragen. Schule ist für Menschen da, nicht umgekehrt. Das läuft weiterhin selten überzeugend – einzelne wirklich gute Pädagog*innen können und sollten davon nicht ablenken –, und die Coronazeit hat da viele letzte Illusionen zerstört.

Etwas Geborgtes: Ein Gedicht

was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

– Friederike Mayröcker

(Quelle (Öffnet in neuem Fenster))

Etwas Uncooles: Für-den-Kapitalismus-Apps

Kennt ihr das? Maus abonniert eine fancy App, um einen Arbeitsprozess zu vereinfachen. Die App ist nicht billig, aber auch nicht so teuer, dass maus es für unverantwortlich hältst. Danach nutzt maus die App ein bis drei-, vielleicht auch keinmal und vergisst sie schließlich ganz, bis maus das nächste Mal Umsatzsteuervoranmeldung machst – oh nein, diese Scheißapp! Der Kreislauf von »schlechtes Gewissen, vergessen, erschrecken« wiederholt sich dann drei- bis siebenmal, erst dann bekommt maus es auf die Reihe, aus kryptischen Mails zu rekonstruieren, wie maus zu den Vertragsdaten gelangt, um zu kündigen. Zur Belohnung darf maus noch zwölf bis zwanzig rechtlich fragwürdige Mailbelege über erfolgte Zahlungen screenshotten und als pdf in den Steuerordner verschieben. 

Kein Arbeitsprozess wurde so mithilfe der App optimiert, nur die Steuerbuchhaltung noch stressiger gestaltet. Kurz denkt maus, dass maus es einfach verdient hätte, wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig zu kommen. Dann aber fällt m-i-r wieder ein, dass ich zwei Drittel weniger Arbeit hätte, wenn verlegende Frauen und deren Verlage nicht notorisch übersehen würden und ich nicht etwa alle drei Monate neu überlegen müsste, wie ich trotzdem nicht pleitegehe under verzweifle. 

Bezahlte, nicht genutzte Apps sollten aber nicht etwa als Für-die-Katz-Apps bezeichnet werden. Katzen dürfen ausschließlich in positiven Kontexten angeführt werden, bitte merkt euch das. 

Besser man nennt sie »Für-den-Kapitalismus-Apps«. Genau wie dieses abstrakte Investitionsgeld, das wie von Geisterhand aka ohne Menschenbeteiligung permanent rund um die Welt transferiert wird, optimieren die sinnlos bezahlten Apps nur den Kapitalismus. Das Gespenst [Marx-Referenz] wird noch gespenstischer. Ein Bedürfnis nach Optimier-Apps wird vom Kapitalismus erzeugt, weil maus mit dem Leben unter kapitalistischen Bedingungen nicht (mehr) klarkommt. Aber weil es eben kein graduelles, sondern ein kategoriales Nichtmehrklarkommen ist, führt die Befriedigung des Bedürfnisses nur zu noch mehr Überforderung. Andere Menschen kennen dieses Paradox, das keines ist, von Fitnessstudioverträgen, die sie bezahlen, ohne je zu trainieren.

Ihr wollt bestimmt wissen, welche Scheiß-App es war. 

Kapitalismus ist ein menschenfeindlicher Flachwitz: Es war Later. 

Rubrikloses 

Draußen schreit ein Käuzchen. Gut, dass ich nur empirisch abergläubisch bin.

Beobachtung: Alle Menschen, die ich liebe, lieben, sofern sie sie kennen, Friederike Mayröcker. Das fiel mir beim Gespräch mit einem befreundeten Paar, N. und A., auf und es hat sich gerade noch einmal bestätigt, als ich meinem vorbeihuschenden Kind das oben zitierte Gedicht was brauchst duzu lesen gab und es sagte: »Das ist wirklich schön, kannst du mir gern schicken.«

Irgendwie lustig, dass Schloss Glienicke wie ein Premium-Immobilienobjekt von 2023 aussieht.

Das von Selma Wels herausgegebene Buch Anders bleiben (Öffnet in neuem Fenster) ist jetzt bei Rowohlt erschienen. Es knüpft lose an Walter Benjamins Sammlung Deutsche Menschen (Öffnet in neuem Fenster) an, lose, weil hier, ausgehend von zunehmender gesellschaftlicher Sorge nicht bestehende Briefe aus einem langen Zeitraum gesammelt, sondern neu von jetzt lebenden Autor*innen geschrieben wurden. Mit Beiträgen von: Maryam Aras, Hannes Bajohr, Shida Bazyar, Saba Nur Cheema, Asal Dardan, Elisa Diallo, Nava Ebrahimi, Leila Essa, Christiane Frohmann, Dilek Güngör, Hadija Haruna Oelker, Hasnain Kazim, Ozan Zakariya Keskinkılıç, Karen Krüger, Marija Latković, Meron Mendel, Sharon Dodua Otoo, SibelSchick, Achim Stanislawski, Najem Wali, Selma Wels, Gerrit Wustmann.

Definitionen neufrohmanntischer Begriffe

Leerzitat, das: kanonisches Zitat, das unter den Bedingunge der Gegenwart sachlich betrachtet zumindest ambivalent ist, aber von Vertreter*innen einer konservativen Meinungsgruppe unhinterfragt benutzt wird, als würde es ihre Perspektive validieren und nicht nur paraphrasieren

Für-den-Kapitalismus-App, die: App, die man nicht nutzt, nur bezahlt

onder: Kurzform von und/oder

Guerlica

Zurück ins Internet.  Wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,  
FrauFrohmann

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