Folge 4
Etwas Altes: Schneeglöckchen, Altersarmut und Romane
Wenn wir alt sind, werden mein Mann und ich Schneeglöckchen züchten, weil das schön ist und wir so der Armut entgehen. Unser Schneeglöckchengarten wird überregional bekannt sein. An speziellen Tagen werden dezente Menschen – Grobschlächter mögen ja nichts Zartes – in den dann offenen Garten kommen, um geschmackvoll in kleine Tontöpfchen gepferchte Pflänzchen entgegenzunehmen. Sie werden dafür angemessen, aber nicht übertrieben bezahlen. Vielleicht tauschen wir auch Schneeglöckchen gegen Arbeit oder andere Pflanzen, das kommt darauf an, wie der Planet und die Gesellschaft in dreißig Jahren so ticken. Ab und zu knabbern wir an einer Schneeglöckchenzwiebel, denn das darin enthaltene Galantamin ist gut gegen Alzheimer. Akeleien, Tulpen, Clematis und Herbstanemonen züchten wir natürlich auch, dazu aber später. Ich nehme gern eure Bestellungen für 2045 entgegen. Auch für die sammelwürdigen, typografisch meisterhaft gestalteten Printausgaben meiner Romane, die ich ebenfalls erst schreibe, wenn ich alt bin. Jetzt muss ich schließlich leben, damit ich später etwas zu erzählen habe, das über ‘Ich sitze am Tisch und sehe in den Garten’ hinausgeht.
Gartenwissen: Das Schneeglöckchen (Galanthus), auch bekannt als Frühlingsglöckchen, Hübsches Februar-Mädchen, Lichtmess-Glöckchen oder -Glocke, Milchblume, Marienkerze, Schnee-Durchstecher, Weißglatze <3 oder Weiße Jungfrau.
Zuerst gebloggt am 24.1.2015 auf Tumblr, damals war, wie das Foto verrät, gerade die Zeit, als man notorisch Polaroidlook-Rahmen um seine digitalen Bilder legte.
Etwas Neues: Social Blobs
Vermutlich kennt ihr den Film The Blob von 1958, der im deutschsprachigen Raum früher auch unter dem Titel The Blob – Schrecken ohne Namen oder auch Angriff aus dem Weltall gezeigt wurde. Der Hauptdarsteller Steve McQueen ist heute noch sehr berühmt, die Hauptdarstellerin Aneta Corsaut hat keinen deutschsprachigen Wikipedia-Artikel, weil das Patriarchat ein Blob ist, aber darum geht es heute nicht.
Es geht auch nicht darum, dass der Film mit dem Blob eine Metapher für den alles verschlingenden Kommunismus liefern sollte, so planten es zumindest der Regisseur und die Drehbuchautorin, die zum Dunstkreis eines rechten evangelikalen Netzwerks gehörten und deren Namen ich nicht nenne, weil ich lieber progressive Kunstschaffende bekannter mache. The Blob lieferte zum Glück weit mehr – ich liebe es so sehr, wenn reaktionär Gemeintes seinen Urheber*innen entläuft –, nämlich eine universelle Metapher für Phänomene, die in höchster Selbstbezüglichkeit über alle/s hinwegwalzen, alle/s einsaugen, alle/s in Energie für sich selbst verwandeln, alle/s leblos zurücklassen und dann ungerührt weiterwalzen.
Die Geschichte kreist darum, wie zwei Jugendliche namens Jane Martin und Steve Andrews die Gefährlichkeit eines außerirdischen Phänomens erkennen, ihnen aber keiner glaubt und wie deshalb unnötig Menschen ums Leben kommen. So ähnlich fühlt man sich seit einem Jahr als twitternder Mensch, weil man die Entwicklungen der Pandemie immer recht klar voraussehen kann, schließlich kann man verlässliche internationale Quellen lesen –, und dann sieht man im Fernsehen, wie Menschen zum Wohle der Wirtschaft in die Fabrik müssen und in Ischgl feiern oder nach Mallorca fliegen dürfen. Kapitalismus ist ein Blob, aber darum geht es heute nicht.
Im Film ist die Kur gegen den aktiven Blob denkbar hart, der anwesende Arzt rät, Stellen am Körper, die Blob-Berührung hatten, mit Salzsäure zu übergießen, auaaaaaaaaaaaah, oh, Salzsäure ist leider nicht ausreichend drastisch, da hilft nur Amputation. Oh nein, der Blob hat die Azthelferin verschlungen und jetzt auch noch den Arzt. – Das Publikum muss begreifen, dass kein Weg daran vorbeiführen wird, den Blob selbst aus der Welt zu amputieren.
Nun aber zum Phänomen des Social Blobs. Ich werde keinen beim Namen nennen, weil ich wirklich absolut kein Interesse daran habe, Individuen zu schaden. Es geht mir darum, potenzielle Opfer von Social Blobs, »Blobfer«, zu sensibilisieren und ihnen – symbolisch gesprochen – eventuell Salzsäure, Amputation und Aufgefressenwerden zu ersparen.
Social Blobs wirken ungeheuer lebendig, in ihrer Nähe, egal, ob physisch oder digital, fühlt man sich auch selbst gleich viel lebendiger – das ist die Faszination, die Magie. Darin unterscheiden sich Social Blobs aber noch nicht von anderen Menschen, die Charisma haben, besonders charmant sind oder Strahlkraft im Internet entfalten.
Die zweite Eigenschaft von Social Blobs ist, dass sie ungeheuer vielseitig sind, richtige Tausendsassas, im 18. Jahrhundert hätte man sie bestimmt Universalgenies genannt. Sie schreiben, singen, tanzen, malen, dichten, legen auf, designen, stricken, rennen, gründen, forschen und retten die Welt. Darin unterscheiden sie sich aber noch nicht von anderen Menschen, die vielseitig interessiert und begabt sind.
Social Blobs haben zu allem etwas zu sagen, fast immer ist es auf den Punkt, so herrlich witzig und wirklich charmant. Kein Thema, das ihnen entgehen würde. Darin unterscheiden sie sich aber noch nicht von anderen Menschen, die trendsensibel sind, schnell denken und sich gut ausdrücken können.
Der Unterschied ist, dass es Menschen gibt, die Charisma haben, besonders charmant, vielseitig interessiert, begabt, trendsensibel sind, Strahlkraft im Internet entfalten, schnell denken, sich gut ausdrücken können, ohne in höchster Selbstbezüglichkeit über alle/s hinwegzuwalzen, alle/s einzusaugen, alle/s in Energie für sich selbst zu verwandeln, alle/s leblos zurückzulassen und dann ungerührt weiterzuwalzen. Letzteres tun nur Social Blobs.
Es gibt gar nicht so viele von ihnen, mir fallen gerade fünf ein, aber sie richten gigantischen Schaden an, denn sie lassen, während sie zum nächsten spotlight-fähigen Blümelein weiterflattern, zutiefst enttäuschte Menschen zurück, denen sie Ideen, Themen Kontakte, Geld, Möglichkeiten, Vertrauen und Lebenszeit gestohlen haben. Im schlimmsten Fall haben sie ein Thema, das für eine Person wesentlich war, bei ihrer Blob-Megashow komplett ausverkauft und damit professionell oder emotional unbrauchbar gemacht.
Versuchen Jane und Steve andere vor Social Blobs zu warnen, schenkt man ihnen keinen Glauben. Die Show ist einfach viel zu überzeugend, weil die Social Blobs ja selbst an sie glauben. Also klatschen, jubeln, favn, teilen, paypalen, voten alle, bis sie selbst Blobfer geworden sind; wenn sie Glück haben, kommen sie mit der Amputation ihres Themas oder ihrer Sympathie für die Person davon, ja, das tut weh, aber man überlebt es. Manche aber werden vom Blob mit Haut und Haaren verschlungen, er hat von ihnen bereits zu viele positive Gefühle, Gratisarbeit oder auch Geld eingesaugt. Sie schreiben dann einen einzigen und wirklich sehr traurigen Tweet, den man zufällig liest und sofort einordnen kann. Der Blob ist derweil schon weitergewalzt, lässt sich woanders von anderen für anderes feiern.
Man kann Social Blobs leicht erkennen, zumindest, wenn man sie schon eine Weile beobachtet. Ein paar Prüffragen sind: Sind sie jährlich wechselnd das Mediengesicht für ein komplett anderes Thema? Reißen sie alles an sich, ohne angemessen den Blick auf andere zu lenken? Benutzen sie das Leiden von anderen Menschen als Thema? Nimmt von Jahr zu Jahr die Zahl der Menschen in deinem Umfeld zu, die bei der Nennung ihres Namens schmerzlich das Gesicht verziehen?
Wenn man wie ich selbst etwas Reichweite im Internet hat, muss man sich fragen: Bin ich auch ab und zu ein Blob, vielleicht, ohne es zu wollen? Wie kann ich es vermeiden, dass meine Selbstbezüglichkeit zwischendurch Überhand nimmt? Bei mir, konnte ich beobachten, kommt es zu Verblobbungen, wenn ich überlastet bin, dann neige ich dazu, berechtigte Interessen von anderen auszublenden. Das versuche ich gerade zu überwinden. Wie man als Einzel-Unternehmen überlebt, ohne als Mensch überlastet zu sein, weiß ich aber noch nicht.
– Hütet euch vor der manipulativen Blob-Sorte und geigt temporären Erschöpfungs-Blobs wie mir die Meinung, wenn ich noch nicht auf eure Mail geantwortet habe. <3
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»So far as I can tell, most worthwile pleasures on this earth slip between gratifying another and gratifying oneself. Some would call that an ethics. « – Maggie Nelson, The Argonauts (Öffnet in neuem Fenster), Minneapolis: Graywolf Press 2015, 96
Etwas Uncooles: Verpassen wir gerade die Wendemöglichkeit?
Was wir nach der Pandemie haben könnten:
ein schon eingeübtes #Umsehenlernen: Medizin, Wirtschaft, Politik, Kultur sind für Menschen da, nicht umgekehrt
gemeinsam überlegte und begonnene politische und gesellschaftliche Transformationsprozesse
systematische Beobachtungen und fundierte Erkenntnisse über Leben, Lernen, Arbeiten während einer Pandemie für eine professionelle Vorbereitung auf weitere Pandemien und vor allem auch für einen zeitgemäßeren Alltag jenseits von Krisen
mehr Wissen über die Lebenssituationen und -bedürfnisse von Menschen, die im Land leben, lernen, arbeiten, um gerechtere Politik machen zu können
Aufhebung von unnötigen Hierarchien und Dichotomien im Kulturbereich, Überwinden des Gegeneinander-Ausspielens von kulturellen Sphären
von Staat und Konsument*innen gestärkte unabhängige Unternehmen
Was wir, wenn es so weitergeht, nach der Pandemie haben werden:
viel zu viele unnötig Tote zu beklagen
mit gigantischen Subventionen künstlich am Leben gehaltene rückständige, umweltzerstörende Industrien
massiv verstärkte soziale Ungerechtigkeit
gesellschaftlich komplett desillusionierte Jugendliche
die üblichen Verdächtigen nicht mehr nur dauernd in Talkshows, sondern jetzt auch noch offiziell als Internetgenies unterwegs
Amazon
das gleiche Chaos bei der nächsten Pandemie
Der globale Streik erscheint mir mittlerweile als der einzige Ausweg, zumindest wäre er ein Versuch, es nicht einfach grundlegend falsch weiterlaufen zu lassen. Oder man muss ganz aufgeben. Sachliche, freundliche Vermittlung tut es jedenfalls nicht, das habe ich zehn Jahre lang für euch gestest.
Rubrikloses
Ostern 2021
Blurry Berlin
Was geschah?
Kinder, denen vorgelesen wird und die umgeben von Büchern aufwachsen, werden ganz von selbst Literaturliebende, die Respekt vor unserer schönen Printkultur haben. Niemals würden sie mit Büchern kleinkriminelle Basteleien anstellen.
Von Katzen lernen: Es geht immer ums Passen.
Guerlica
Zurück zum Blümeleinquetschen, zu den Blümeleinquetscher*innen, wir sehen uns in einer Woche wieder.
– Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
FrauFrohmann
Wenn ihr könnt und wollt, unterstützt gern #NewFrohmanntic, indem ihr zahlendes Mitglied werdet (Öffnet in neuem Fenster) und/oder anderen das Lesen empfehlt.
Abbildungen (c) Der gescreenshottete Chat oben im Cover war einer zwischen Asal Dardan und mir. (Man soll nämlich auch Freund*innen nichts referenzlos klauen.) Die Hasenzeichnung ist ein Frühwerk von T. Frohmann, die Vorlagen der Guerlica-Bilder stammen von Evelyn De Morgan (1855 – 1919), alle anderen Bilder sind von mir.