Über zwei gefährliche Straßen, einen unkaputtbaren Hund und viele Knaller
Der Übermedien-Newsletter von Frederik von Castell
Liebe Übonnent:innen,
das neue – für Sie hoffentlich gesunde und glückliche – Jahr hat gerade erst angefangen, da habe ich bereits einen Favoriten für die Nachfolge der besten Übermedien-Überschrift 2022 (Öffnet in neuem Fenster). "Der Knallbonbon aus dem Bendler-Block" steht über Hendrik Wieduwilts Text (Öffnet in neuem Fenster), in dem er auseinandernimmt, was bei dem misslungenen Neujahrsvideo der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht noch auseinanderzunehmen war.
Dass Lambrecht aber nicht zu dem Knallerthema der Woche wurde (was vermutlich auch dazu beigetragen hat, dass sie sich weiter im Amt hält), liegt an dem, was sich in der selben Nacht und nur ein paar Kilometer entfernt abgespielt hat. In Neukölln, vor meiner Haustür.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich recht frischer Neuneuköllner, der über Silvester mit Partnerin und Corgi zur Schwiegermutter in spe nach Hamburg geflüchtet war, begriffen habe: Das ist ja der Fußgängerüberweg an der Silbersteinstraße, den ich jeden Tag nutze, der da an Neujahr überall zu sehen ist. Und mit ihm der Beschuss von Einsatzkräften mit Pyrotechnik aka Feuerwerkskörpern und Böllern.
Am 2. Januar, zurück in Berlin und auf dem Weg ins Übermedien-Büro, waren die Spuren unverkennbar. Brandflecken auf dem beschädigten Straßenbelag, abgebrannte Mülltonnen und jede Menge kupferfarbener, dicker Patronenhülsen.
Die stammen mutmaßlich von den Gaspistolen, mit denen auch Einsatzkräfte beschossen wurden. Ich hatte so ein Ding noch nie in der Hand. Geschweige denn, dass ich jemals mit irgendetwas, das gefährlicher als Erbsen aus einer Klopapierrolle ist, auf jemanden geschossen hätte. Unser Autor Andrej Reisin aber hat als Jugendlicher an Silvester selbst mit so einer Gaspistole Neukölln unsicher gemacht, in den Neunzigern, und mit Leuchtkugeln geschossen. Er schreibt (Öffnet in neuem Fenster):
"Ja, Neukölln war schon damals ein hartes Pflaster – und in jedem Fall härter als heute. Daran ist nichts romantisch, es war eine weitgehend beschissene Zeit und ich bin heilfroh, dass sie vorbei ist."
In seinem Kommentar kritisiert Andrej die aufgeheizte politische und mediale "Integrationsdebatte" der vergangenen Tage um den Migrationshintergrund mutmaßlicher Täter. Die ritualisierte, schlampige Denkfaulheit der meisten Beteiligten sei jenseits des Erträglichen. (Öffnet in neuem Fenster)
Am Silvesterabend in Hamburg habe ich mit meiner zukünftigen Schwiegermutter über eine ganz andere Straße gesprochen. Auch in ihr geht es gefährlich zu und knallt es regelmäßig: die Waitzstraße in Hamburg. Die Gefahr geht dort aber nicht von jungen Menschen, die Böller werfen, aus, sondern von Senior:innen, die Boller umfahren, mit SUVs in Läden krachen oder Außenbereiche von Cafés abräumen.
Die "Hamburger Morgenpost" fragt wegen des "Unfall-Hotspots" schon (in der URL versteckt (Öffnet in neuem Fenster)): "Wann gibt es den ersten Toten?"
Wir lernen: "Seit Jahren kann man die Uhr danach stellen, wann der nächste Senior einen Unfall baut, Gas und Bremse verwechselt, wie durch ein Wunder niemand zu Schaden kommt."
Anlass für den "Mopo"-Artikel war der Unfall eines 77-Jährigen, dessen SUV ein paar Tage vor Weihnachten in der Waitzstraße plötzlich "nach vorne schoss", so heißt es beim NDR (Öffnet in neuem Fenster), weil er "beim Ausparken offenbar Gas und Bremse verwechselt" habe. "Dabei riss er einen Hunderte Kilo schweren Betonpoller mit und kam erst kurz vor dem Schaufenster eines Cafés zum Stehen. Dort waren mehrere Stühle und Tische aufgebaut. Verletzt wurde niemand."
Ein Unfall von offenbar mehr als 20 in den vergangenen Jahren. Er unterscheidet sich aber von den anderen: durch den Verunfallten, der ebenfalls unversehrt geblieben sei. Er heißt Franz Wauschkuhn und glaubt nicht, dass er Gas und Bremse verwechselt hat.
Im "Hamburger Abendblatt" (Öffnet in neuem Fenster) lässt er anklingen, dass er sich altersdiskriminiert wegen des Verdachts fühle. Und beim "Abendblatt" gibt man sich größte Mühe, den jüngsten älteren Crash-Piloten in der "Waitze" als "vitalen Senior" darzustellen: "Franz Wauschkuhn ist körperlich und geistig das, was man 'topfit' nennt. Jedenfalls für einen 77-Jährigen."
"Intelligenz" und "Belesenheit" schützten den "promovierten Volkswirt", der "täglich über schwergewichtigen Wälzern" sitzt, "liest und schreibt" und "trotz seines fortgeschrittenen Alters" "an seiner Habilitationsschrift" arbeite, zwar nicht automatisch davor, mal einen Fehler zu machen, aber Wauschkuhn kenne die Straße doch schon seit seiner Kindheit. Und er sagt doch selbst, er fahre dort "besonders vorsichtig und umsichtig". Unter Stress sei er auch "überhaupt nicht gewesen" an diesem "verhängnisvollen 20. Dezember".
"Offen berichtet" Wauschkuhn sogar von einer Prüfung durch die Polizei, der er sich am Unfallort offenbar unterziehen habe müssen. "Dabei wurde festgestellt, dass ich geistig gesund und reaktionsschnell bin." Wauschkuhn, der obendrein mit einer Entschuldigung für die "Unannehmlichkeiten" beim Café-Betreiber "Stil" bewiesen habe, sei also fit und "sich sicher, alles richtig gemacht zu haben".
Schuld ist Wauschkuhn zufolge der Wagen: "Die Fußbremse versagte, und ich konnte nur noch die Handbremse ziehen und gezielt auf den Poller zusteuern, der den Wagen dann abbremste." Ein ADAC-Sprecher, der im "Abendblatt" zu Wort kommt, "'glaubt' Franz Wauschkuhn, sieht dessen Überlegungen aber skeptisch". Auch einer anderen offenbar bei verunfallten Autorentnern beliebten Waitzstraßen-Theorie erteilt der ADAC-Sprecher "eine Absage". Dass "die hoch technisierten Geräte der vielen Arztpraxen" die Elektronik der Autos stören könnten, schließt er aus. "Und selbst wenn es doch so sein sollte, wäre die Bremse davon nicht betroffen."
Kein Grund für das "Abendblatt", die die Einordnung des ADAC-Sprechers online hinter der Paywall platziert, dort auf diese Clickbait- Schlagzeile (Öffnet in neuem Fenster) zu verzichten:
"Rentner besorgt – sorgt Strahlung aus Arztpraxen für Unfälle?"
Wofür man beim "Abendblatt" offenbar ebenfalls keinen Grund sieht: zu erwähnen, dass Wauschkuhn "jahrelang Tageszeitungsjournalist war", aber nicht transparent zu machen, wo.
Einmal dürfen Sie raten. Ja, beim "Hamburger Abendblatt", das diesen Umstand nicht zum ersten Mal (Öffnet in neuem Fenster) unerwähnt lässt (Öffnet in neuem Fenster). Der "jahrelange Tageszeitungsjournalist" in dem Gefälligkeitsbericht seines alten Arbeitgebers ist für mich damit jetzt schon der Nichttransparenzhinweis des Jahres.
Scrabble-Steine aus der Symbolbildhölle. Screenshot [M]: tagesschau.de
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(Ü) Exklusiv für Übonnent:innen
Einen Knaller hab ich noch: Gunther der Sechste ist zurück. Keine Sorge, Gunther ist kein Reichsbürger-Adliger, sondern ein deutscher Schäferhund. Vor allem aber ist er eine Medienente. Im November 2021 hatte ich für Übermedien aufgeschrieben, dass die Erzählung vom steinreichen Schäferhund (Öffnet in neuem Fenster), auf die Medien seit 30 Jahren immer wieder (und 2021 spekatkulär!) hereinfallen, ein PR-Stunt eines windigen italienischen Geschäftsmannes und vor allem großer Blödsinn ist. ("Schäferhund ist reichste Ente der Welt" hätte unser Überschriften-Ranking übrigens, da bin ich mir absolut sicher, mit meilenweitem Vorsprung gewonnen, wenn der Artikel nicht blöderweise noch 2021 erschienen wäre.)
Jedenfalls: In Folge meiner Recherche musste die Nachrichtenagentur "Associated Press", von der viele Medien ungeprüft abgeschrieben hatten, ihren Bericht damals "killen", wie man so schön sagt.
Übermedien wirkt, Ente tot, alles gut? Ne. Gunther ist nämlich nicht totzukriegen. Dieser Tage erlebte er, diesmal ohne Zutun seines exzentrischen Herrchens, ein erneutes Comeback.
Eine Katzen-Fan-Plattform (Öffnet in neuem Fenster) (!) hat eine offenbar wild zusammengegoogelte Liste der angeblich reichsten Haustiere der Welt (ohne irgendwelche Quellen) veröffentlicht. Und die "Bild" (Öffnet in neuem Fenster) macht eine Schlagzeile zu Taylor Swifts Katze draus. Weil Gunther das Pseudo-Ranking anführt, darf er natürlich im Text auch nicht fehlen.
Screenshot [M]: bild.de
Dass man bei "Bild" der eigenen Courage nicht ganz traute und die "kursierenden Gerüchte" um die Echtheit Gunthers so fadenscheinig einbaute, finde ich fast lustig. Titelte man doch 2021 noch ganz selbstbewusst:
ER HEISST GUNTHER VI. UND IST TIERISCH REICH
Kein Witz! Deutscher Schäferhund verkauft Madonnas Millionen-Villa
Muss ich überhaupt erwähnen, dass der Artikel bis heute ohne irgendeine Korrektur noch bei "Bild" online steht (Öffnet in neuem Fenster)? Vielleicht steht die Schäferhund-Ente da als Mahnmal für das Versagen in der Redaktion beim Prüfen von Fakten.
Die Kollegen von der ARD dürften da übrigens auch gerne mal vorbeischauen. Nachdem 2021 "Brisant" die damalige Gunther-Story von AP ungeprüft übernommen hatte, waren es diesen Donnerstag die Kollegen vom Morgenmagazin, die über Gunther VI berichteten und ihm die Krone der reichsten Tiere aufsetzten. Ihr seid echt der Knaller.
Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende,
Ihr Frederik von Castell