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Verzerrungen durch Medien: Die andere Seite des Krieges

Gestern berichtete der britische Nachrichtendienst, dass die Russen wohl den Ort Novomykhailivka eingenommen hätten. Und irgendwelche deutschen Medien griffen das auf.
Und da wurde mir klar, warum ich ständig nach der Lage in der Ukraine gefragt werde.

Es ist doch völlig verständlich, dass Laien denken, die Ukraine steht kurz vorm Fall. Wenn die Medien ständig solche Meldungen raushauen. Und nicht in Relation setzen.
Umso mehr muss dieser Eindruck entstehen, wenn man weder die Zeit noch die Kompetenz hat, sich das auf einer Karte anzugucken.
Und dann kommen natürlich die Propagandisten und russischen Trolle auf Social Media, und jazzen jede Meldung hoch.

Hört man ständig „Alarm“, fühlt und denkt man irgendwann auch „Alarm“.

Das ist kein „Fehler“ und keine „Falschmeldung“ der Medien. Es sind die Mechanismen. Und erst recht ist es kein Fehler der (wirklichen) Experten, meist Militärs und Ehemalige.
Denn die müssen so denken. Die verfolgen das im Detail, auf 1000 Meter genau. Und die Medien greifen das dann auf, aber haben in den Redaktionen niemanden, der das prüft. Geschweige denn in für Laien verständliche Relationen setzt.

Seit Wochen denke ich darüber nach, wie ich das in eine Relation setzen kann. So, dass Laien und geneigte Leserinnen und Leser das strategische Bild sehen.

Diese Kämpfe um Städte, von denen wir seit vielen Monaten hören, finden vor allem im Oblast (Bundesland) Donezk statt. Auf einer Fläche, die weit kleiner ist, als das Bundesland Brandenburg.
Alles spielt sich in der Umgebung der Stadt Donezk ab.

Bitte verstehen Sie mich richtig falsch.
Selbstverständlich sterben auch da viele Menschen.
Selbstverständlich wird auch an anderen Orten gekämpft, und nicht weniger erbittert.
Selbstverständlich braucht die Ukraine Waffen.
Selbstverständlich greift Russland ständig die zivile Infrastruktur im ganzen Land an.
Selbstverständlich ist etwa ein Fünftel der Ukraine russisch besetzt.

Aber eben nur ein Fünftel.
Und dieser Teil, diese Gebiete im Oblast Donezk, Luhansk und die Krim, waren bereits vorher von russischen Truppen infiltriertes Bürgerkriegsgebiet und mit dem Einmarsch Russlands sofort „offiziell“ russisch besetzt.
Darüber hinaus macht Russland seit Ende 2022 keine wirklichen Fortschritte mehr. Im Gegenteil, aus dem Oblast Charkiw und vor Kyjiw wurden sie längst wieder vertrieben. Weggelaufen sind sie.

Der Mechanismus der Desinformation

Nehmen wir ein konkretes Beispiel, dann wird der Mechanismus verständlicher.

Nachdem Bachmut, eine Kleinstadt, nach einem dreiviertel Jahr erbitterter Kämpfe mithilfe der Wagner-Söldner und zehntausenden Russen als Kanonenfutter gefallen ist, ging als nächstes Awdijiwka durch die Medien.

Weil Strategen und Experten dort zunehmende Kämpfe natürlich so gedeutet haben, dass Russland da verstärkt angreifen wird. Weil die Ukrainer vorher sogar mit Artillerie in die russisch besetzte Stadt schießen konnten.
Das ist völlig korrekt und richtig und der Job dieser Leute.

Die Medien greifen das auf und berichten. Natürlich nicht selber, vor Ort. Weil kaum ein Journalist sich da hin traut. Sondern sie greifen das auf, was andere gesagt haben. Und dann steht in den Schlagzeilen: „Russland greift Awdijiwka an.“
Dadurch muss der Laie natürlich denken, dass Awdijiwka furchtbar wichtig ist. Denn sonst würden die Medien nicht darüber berichten. Er muss denken, dass nun eine wichtige Stadt nach der anderen fällt. Und die Russen rasant auf dem Vormarsch sind.

Dass Awdijiwka zur nächsten russischen Knochenmühle geworden ist, wird selten berichtet. (Mehr dazu hier… (Öffnet in neuem Fenster)) Dass es eine strategisch unwichtige Kleinstadt ist, in der kaum noch jemand lebt, wird vielleicht mal erwähnt. Dass Awdijiwka aber im Grunde ein Vorort von Donezk ist, wo man von dort zu Fuß hingehen könnte, wird gar nicht gesagt.

Wenn also vom Fall Awdijiwkas berichtet wird, höher ich: „Strategisch unwichtiger Vorort von Donezk mit zehntausenden toten Russen endlich eingenommen, was sie seit zwei Jahren nicht geschafft haben. Eigentlich seit 10 Jahren.“
Was der Laie aber wahrscheinlich hören muss ist: „Die nächste wichtige Stadt der Ukraine ist gefallen, die Russen gewinnen, das Ende ist nah.“
Zwei vollkommen verschiedene Interpretationen. Verständlich und naheliegend.

Die Relationen

Also habe ich mir einmal die Zeit genommen, und eine Karte erstellt, um die Relation zu verdeutlichen. Was schwierig ist. Denn die Ukraine ist so groß, dass wenn man das auf einer einzigen Karte darstellen wollte, die Punkte so klein wären, dass niemand es mehr erkennen kann. Erst recht nicht auf einem Handy.

Also muss eine Referenz her. Ich habe den Kartenausschnitt vergrößert und einmal die Stadtgrenze von Berlin größengenau eingezeichnet. Und die Ortschaften eingezeichnet, die seit Monaten durch die Medien gehen.
Und da wird hoffentlich deutlich, wie groß das tatsächlich ist, woran die Russen sich seit zwei bzw. zehn Jahren abarbeiten.

Würde es dort nicht gerade Stahl regnen, könnte man innerhalb von drei Stunden vom nördlichsten Punkt dieser umkämpften Städte Soledar zum südlichsten Punkt Wuhledar fahren, über plattes Land, etwa 110km Luftlinie, Fahrstrecke 160km. Also sehr gemütlich, ohne Autobahn.
Von Soledar nach Kyjiw sind es 700km Fahrstecke, nach Lwiw im Westen der Ukraine sind es über 1250km.

Ich hatte es einmal grob ausgerechnet, spaßeshalber: Wenn Russland in dem Tempo weiter vorankommt, bräuchte es etwa 6 Jahre, um den Dnepr zu erreichen. Also um etwa die Hälfte der Ukraine einzunehmen. Das würde leicht über eine Millionen weitere russische Leben kosten, vom Geld ganz zu schweigen.

Vergleicht man die Karten der russisch besetzten Gebiete der gesamten Ukraine (!) von vor einem Jahr und heute, hat sich so gut wie nichts verändert.

Die vom britischen Nachrichtendienst erwähnte „Stadt“ Novomykhailivka ist übrigens ein winziges Kaff mit 1500 Einwohnern (vor dem Überfall). Es liegt etwa auf halbem Weg zwischen Wuhledar und Donezk. Aber das Örtchen ist so klein, dass es selbst auf meiner Karte nicht mehr zu erkennen wäre.
Für die 5km des an einer Straße langgezogenen Dörfchens haben die russischen Streitkräfte 73 Tage gebraucht.
Also nicht, bis sie da waren. Nur vom Ortseingang bis Ortsausgang. Die russischen Verluste dafür schätzt der Nachrichtendienst als „sehr hoch“ ein. Bei einer durchschnittlichen Rate von 900 Toten pro Tag dürften dort also leicht 20.000 Russen gestorben sein.

Das sind die russischen Fortschritte dieses Krieges. Des angeblich zweitstärksten Militärs dieser Welt.

(Öffnet in neuem Fenster)

Die Karte habe ich in voller Auflösung auf dem U.M.-Server bereitgestellt. (JPG, ca. 900kb)
Klick aufs Bild oder
hier… (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie Krieg

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