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Awdijiwka Knochenmühle

Russische Soldaten gehen an gefallenen Ukrainern vorbei.

Am vergangenen Samstag hat Russland die lange umkämpfte Stadt Awdijiwka eingenommen.
Aufgrund meiner Auszeit habe ich nichts dazu veröffentlicht.

Die Medien berichten nicht „falsch“ oder nachlässig. Aber durch verschiedene Aufmacher, verschiedene Formate und wohl auch militärisch nicht ausgebildeten Redakteuren wird nirgendwo ein Gesamtbild wiedergegeben. Zudem berichten alle Medien über verschiedene Gesichtspunkte, wodurch das grundlegende Bild irgendwie verloren geht.

Also, klamüsern wir es mal wieder durch.

Neue Besen

Am Samstag, den 10. Februar, hat Präsident Selenskyj einen neuen Oberbefehlshaber ernannt, Generaloberst Oleksandr Syrskyj.
schnell hat Russland versucht, ein neues Narrativ zu etablieren: Syrskyj der Verräter. Denn Syrskyj hat nicht nur in der Sowjetarmee gedient, er hat auch an der Höheren Militärkommandoschule in Moskau studiert.

Selenskyj und Syrskyj bei der Ernennung

Der bisherige Befehlshaber Walerij Saluschnyj wurde abgelöst.
Es hat wohl einige Reibungspunkte gegeben. Unter anderem hat Saluschnyj immer wieder öffentlich mehr Rekrutierungen gefordert. Was natürlich in die Politik hineinspielt und daher nicht gerne gesehen ist. Zum anderen war Saluschnyj wohl hauptsächlich dafür verantwortlich, dass die Kräfte der Gegenoffensive nicht auf einen Punkt konzentriert wurden. Wofür die Ukraine auch von Verbündeten und Experten kritisiert wurde.
Ich hatte selber darüber berichtet und zwei mögliche Korridore erklärt.

Allerdings sollte man das nicht überbewerten. Es ist völlig normal, dass Befehlshaber nach einiger Zeit abgelöst werden. Zumindest außerhalb von Diktaturen.
Saluschnyj hat mit Selenskyj zusammen noch eine Pressekonferenz gegeben, sich auf seinen Kanälen bei den Soldaten bedankt und wird weiterhin im Generalstab arbeiten.

Der Rückzug

Der neue Befehlshaber Syrskyj hat am vergangenen Samstag, 17.02.24, um 00:58h nachts auf Facebook erklärt, dass er den Rückzug aus Awdijiwka befohlen hat.

Um 23:59h veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium auf Telegram, dass sie Awdijiwka eingenommen haben. Einen Tag später. Die Uhrzeit lässt ein automatisiertes Posting vermuten.

„Einheiten der Truppengruppe Mitte […] übernahmen die volle Kontrolle über die Stadt Awdijiwka in der Volksrepublik Donezk, die ein mächtiges Verteidigungszentrum der ukrainischen Streitkräfte war.
Durch Offensivaktionen wurde ein Gebiet von etwa 32 Quadratkilometern von ukrainischen Nationalisten befreit.
Die feindlichen Verluste in den Kämpfen um Awdijiwka beliefen sich in den letzten 24 Stunden auf mehr als eineinhalbtausend Militärangehörige.
Unter dem Dauerfeuer russischer Truppen gelang es nur wenigen verstreuten Verbänden ukrainischer Militanter, Awdijiwka hastig zu verlassen und dabei ihre Waffen und militärische Ausrüstung zurückzulassen.“

Der Propaganda-Unfug ist noch weit länger. Man fühlt sich an die Wochenschau der Nazis erinnert.

Die Verzögerung

Ein solcher Vorgang ist völlig normal. Man nennt das „Verzögerung“, die Strategie ein Verzögerungsgefecht.

Sind Stellungen schwer zu halten oder drohen eingeschlossen zu werden, bereitet man weiter hinten neue Stellungen vor. Die Truppen ziehen sich dann in die neuen Stellungen zurück.
Die Idee dahinter ist, dass die nachrückenden Truppen des Angreifers den dann feien Raume erst einnehmen müssen. Sie müssen für Nachschub sorgen, neue Stellungen befestigen, die Artillerie neu ausrichten, usw. Deshalb sagt man, bei einem Verzögerungsgefecht muss der Angreifer 6:1 überlegen sein.

Verständlich, dass Laien nun meinen, die Stadt sei verloren worden oder die ukrainischen Truppen seien geschlagen worden. Medien titel, die tadt sei „gefallen“. Was bei dem Schrott noch fallen soll, bleibt ein Geheimnis.
Ich sehe ich Awdijiwka vor dem Hintergrund der Verzögerung.

Und genau das berichten nun auch seriöse Analysten. Der Angriff Russlands ist um Awdijiwka derzeit zum erliegen gekommen. Die kommen nämlich gar nicht hinterher. Die müssen sich erst neu formieren und ihr Zeug zusammenpacken.
Man kauft Zeit mit Raum.

Industriestadt Awdijiwka

Für diese Perspektive entscheidend ist vor allem, um welchen Raum es geht. Also worum da überhaupt gekämpft wurde. Und an dem Punkt muss ich die Medien dann doch kritisieren. Denn die meisten wollen erklären, wie unheimlich wichtig Awdijiwka ist. Selbst meine hochverehrte Washington Post setzt die Zwischenüberschrift „Warum Awdijiwka so wichtig ist“, bringt dann aber nichts, warum es angeblich so wichtig ist.

Für die Ukraine ist Awdijiwka eine Haufen Bauschutt. So simpel.
Awdijiwka ist genauso wichtig wie Bachmut. Und wird genauso viel bedeuten.

Russische Flagge auf einem völlig zerstörten Gebäude

Awdijiwka ist ein Vorstädtchen von Donetzk, der Hauptstadt des Oblast („Bundesland“) Donetzk. Vor dem Krieg 32.000 Einwohner. Es ist also weder eine bedeutende Industriestadt, die ja eh längst zu Klump geschossen ist, noch ist es ein bedeutender Vorstoß.
Und der angebliche Schienenknoten… Was glauben die Leute eigentlich, wie lange so Schienen in Frontnähe halten? Die altern nämlich ganz schlecht. Weil sie auch durch die Artillerie, beispielsweise die deutschen Haubitzen, zu erreichen und dagegen nicht zu verteidigen sind. Ich würde ziemlich viel Geld darauf wetten, dass es da längst keinen Schienenknoten mehr gibt.

Doch ähnlich wie Bachmut ist Awdijiwka ein Prestigeobjekt. Es würde mich nicht wundern, wenn die russische Führung da wieder die Einnahme um jeden Preis gefordert hat. Wodurch es zu einer Knochenmühle wurde, wahrscheinlich noch schlimmer als Bachmut. Denn in Awdijiwka hatte man keine Söldner-Sturmtrupps aus Gefangenen mehr, die man ins Feuer schicken konnte, um die Artillerie auf sich zu ziehen.
Mindestens im November und Mitte Januar sind in Awdijiwka eintausend russische Soldaten täglich gestorben.

Der erste Aspekt ist, dass mit der Verzögerung die Stadt Donezk für die Russen etwas sicherer geworden ist. Das dürfte tatsächlich ein strategischer Vorteil sein. Allerdings bei weitem nicht so groß, wie behauptet.

Der zweite, sich daraus ergebende Aspekt ist, dass Russland dadurch näher an seinem eigentlichen Ziel ist. Nämlich den Donbass einzunehmen.
Und dieser Aspekt wird grundsätzlich in allen Medienberichten vergessen, inoriert, nicht verstanden oder nicht in die richtige Relation gerückt.

Die große Lage

Russland wollte den Donbass, also die selbsternannten Oblaste Donetzk und Luhans, schon 2014 eingenommen haben. Sie waren ja sogar so vermessen, und erklärten den Donbass für annektiert. Dabei haben sie ihn bis heute nicht komplett unter Kontrolle.

Meinem Eindruck nach verursachen die Medienberichte bei vielen ein Bild, die Ukraine sei nun stark auf dem Rückzug und da wäre eine große Schlacht verloren gegangen. Tatsächlich ist es aber so, dass Russland mit einem riesigen Blutzoll von mehreren zehntausend Soldaten ein inzwischen völlig zerstörtes Gebiet „eingenommen“ hat, das schon vor zwei Jahren eigentlich ihr Ziel war.

Tatsächlich nimmt Russland bis heute pro Tag etwa 30cm ein. Was bedeutet, dass es etwa weitere sechs Jahre bräuchte, um wenigstens auf voller Breite bis zum Dnepr zu kommen.
Russland kontrolliert nach wie vor etwa ein Fünftel der Ukraine. Doch dazu zählen ja auch die Krim und die Gebiete in den „Volksrepubliken“. Die tatsächlichen Raumgewinne seit dem Überfall sind gering.

Wenn Selenskyj die Lage an der Front, wie gestern, als „extrem schwierig“ bezeichnet, sollte man es doch unter diesem Gesichtspunkt verstehen.

„Der Fall von Awdijiwka ist der größte militärische Erfolg Russlands seit Mai 2023, als die Invasionstruppen die ukrainische Stadt Bachmut einnahmen.“
Tagesschau, Live-Ticker, 19.02.24

…kann nur jemand geschrieben haben, der keine Ahnung von Krieg hat.
Aber gut, Holz hacken ohne sich die Axt ins Bein zu rammen kann ja auch ein großer Erfolg sein. Wobei ich nicht sicher bin, ob Russland das in diesem Fall gelungen ist.

Versorgungsprobleme

Ja, es gibt Versorgungsprobleme.
Doch wie ich mehrfach erklärt habe, sind dafür nicht Taurus entscheidend. Sondern Artillerie-Munition und Flugabwehr. Darauf werde ich in einem kommenden Newsletter eingehen.

Denn der Rückzug aus Awdijiwka ist auch Folge von Munitionsmangel bzw. der Unfähigkeit der Ukraine, die russische Luftunterstützung an der Front zu unterbinden.
Einen signifikanten Vorteil für Russland durch Awdijiwka vermag ich nicht zu erkennen.

Kategorie Krieg

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