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Es passiert selten, dass Du hier einen Text liest, den wir nicht selbst geschrieben haben. Wenn es passiert, dann aus gutem Grund. Wir können zwar wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenfassen, nicht aber die persönliche Sicht von Wissenschaftler*innen wiedergeben, samt ihren Gefühlen und Gedanken.
Genau diese wertvolle Perspektive möchten wir Dir heute liefern. Wir sind gerade an einem Punkt der Krise angelangt, an dem Temperatur-Anomalien selbst die besten Forscher*innen ratlos zurücklassen und 2024 wahrscheinlich das erste Jahr wird, das die 1,5-Grad-Grenze reißt.
Deshalb liest Du jetzt die Worte von Sebastian Seiffert. Er ist Professor der physikalischen Chemie, Wissenschaftskommunikator und aktiv bei den Scientists4Future. Und er hat einen ausgesprochen persönlichen und aufrichtigen Gastbeitrag geschrieben, der die aktuelle Klima-Situation ziemlich treffend analysiert. Wir hoffen, der Text inspiriert Dich genauso wie uns zum Nachdenken und Handeln.
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#78 #Wissenschaft #Komplexe Systeme #Anpassung
Der kleinste gemeinsame Nenner heißt Anpassung
Professor Sebastian Seiffert hat bereits verschiedene Gefühlsstadien durchlaufen – Schock, Wut, Depression. Jetzt versucht er sich im Akzeptieren. Für ihn ist Klima-Anpassung die neue Priorität und zugleich eine große Chance. ~ 11 Minuten Lesezeit
Von Prof. Sebastian Seiffert
Sich der Klimakrise gewahr zu werden, heißt immer wieder dazuzulernen. Das fängt schon bei der Begrifflichkeit an. Klimakrise – das passte vielleicht vor fünf Jahren. Inzwischen sind wir weiter. Ich nenne es nunmehr Klimanotlage. Vielleicht wäre sogar Klimakollaps passender. In ehrlichen Momenten erzählen mir selbst gestandene Expert*innen im Zwiegespräch, dass sie nicht wirklich erklären können, was zurzeit mit den Meeren geschieht.
Bei mir waren es vor ein paar Jahren die Trockensommer und ihre Folgen, die mich zum ersten Mal spüren ließen, dass irgendetwas da draußen nicht stimmt. Die Bilder ockergelber norddeutscher Steppenlandschaften unterstrichen 2018 die brutalen Eindrücke, die mir damals und in den Folgejahren umso schmerzhafter in meiner geliebten Harzer Heimat entgegen schlugen.
Sebastian Seiffert, Professor für Physikalische Chemie an der Universität Mainz
Sich der Klimakrise klar zu werden, heißt auch, dass nichts mehr bleibt, wie es war. Am Anfang steht ein Schock. Ein Schock darüber, wie die Lage wirklich ist. Dass du das selbst so lange nicht erkannt hast. Und was das nun bedeutet. Es sickert langsam ein – und verändert alles.
Passivität ist nicht neutral
Es hat hierzu schon den Vergleich mit den Sterbephasen (Öffnet in neuem Fenster) im Kübler-Ross-Modell gegeben: Verdrängung. Wut. Verhandeln. Depression. Und schließlich Akzeptanz. Ich habe jede davon durchlebt. Vor etwa zwei bis drei Jahren steckte ich tief in der Depression. In einem Video (Öffnet in neuem Fenster) gab ich dem im September 2022 Ausdruck; es wurde damals auf Twitter über 100.000 Mal gesehen und stieß auf viel Resonanz. Offenbar sprach es vielen aus der Seele.
Darin gab ich meiner damals depressiven Phase der Klima-Verarbeitung Ausdruck. Die Kulisse dafür bildete eine wüste Kahlschlagfläche eines vertrockneten Oberharzer Forsts, den ich seit Kindheitstagen kannte. Einige Tage zuvor hatte ich dort im damaligen Familienurlaub auf einer kurzen Wanderung eine Abzweigung verpasst, die ich unzählige Male im Leben schon gegangen war, weil ich sie einfach nicht mehr erkannt hatte. Die Wege meiner Jugend, die ich einst mal mit meinen eigenen Kindern neu entdecken wollte, ich finde sie nicht mehr.
Es gibt verschiedene Wege, damit umzugehen. Mein eigener bestand fortan darin, aktiv zu werden. Manche nennen es Aktivismus; was okay für mich ist. Ich empfinde den Begriff nicht als Diskreditierung, sondern als treffende Beschreibung. Wir sind alle Aktivisten – auch und insbesondere, wenn wir nicht handeln. Denn auch das hat einen Effekt darauf, in welche Zukunft wir steuern. Passivität ist nicht neutral.
Das Restbudget ist aufgebraucht
Meine Art des Aktivwerdens bestand vor allem in der Kommunikation. Ich steuerte Lehrbeiträge zur bundesweiten Public Climate School bei, konzipierte in Mainz ein Zukunftsmodul zur Klimabildung mit und trat verschiedentlich als Klima-Kommunikator in Erscheinung: in sozialen Medien, Podcasts, Blogs, Rundfunk, TV, Printmedien, und mehr. Ich initiierte in Mainz zwei große Podiumsdiskussionen zu den Fragen „Muss Wissenschaft lauter werden?“ (Öffnet in neuem Fenster) und „Follow the Science? (Öffnet in neuem Fenster)“ und diskutierte in Dresden auf einem Podium der Psychologists for Future mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (Öffnet in neuem Fenster).
Bei alldem stellte ich oft und stetig das Pariser Klimaschutzabkommen in den Mittelpunkt. Insbesondere eine Größe hatte es mir in diesem Kontext angetan: das Treibhausgasbudget. Ich hielt es für ein griffiges Konzept, um den nötigen Klimaschutz und dessen Dringlichkeit konkret zu beziffern und bestenfalls jedem Staat und jedem Sektor ein Maximum an noch verfügbarem CO2 zuzuschreiben. Vielleicht aber lag ich damit falsch. Denn eben dieses Konzept, so griffig es auch sei, impliziert etwas, das vielleicht gar nicht da ist: eben ein Restbudget. Einen zwar engen, aber dennoch existierenden Spielraum zum Zeitlassen.
Doch dieser Spielraum existiert nicht mehr. Wir haben die für die Menschheit sichere Epoche des Holozäns verlassen, die über zehntausend Jahre lang klimatische Planbarkeit bot und damit Landwirtschaft, arbeitsteilige komplexe Gesellschaften und alle modernen menschlichen Errungenschaften erst ermöglichte. Stattdessen befinden wir uns bereits jetzt in unbekanntem, gefährlichem Gebiet. Das Budget ist aufgebraucht. Bereits jetzt ist alles, was wir tun, Hochrisiko. Jede weitere Gigatonne führt tiefer in den Nebel. Oder sagen wir lieber: in die Rauchschwaden.
(Öffnet in neuem Fenster)💌 Ausgabe #73: Temperatur-Anomalien – Ist das Klima schon gekippt? (Öffnet in neuem Fenster)
Zwischen Desinteresse und Ratlosigkeit
Wie gehen wir nun damit um; als Einzelne und gesellschaftlich? Es wurde viel geschrieben über gesellschaftliche Kipppunkte. Darüber, dass nur genug Menschen anfangen müssen, in eine neue Richtung zu gehen, und dass der Rest dann folgen werde. Und es gab viel, viel Hoffnung, als dies 2019 zu beginnen schien. Als eine junge Generation genau diesen Weg ging. Freitags. Hunderttausendfach.
Auch wenn beim globalen Klimastreik am 20. September wieder viele von ihnen auf die Straße gingen, gilt es heute, neuen Realitäten entgegenzublicken. Ich habe diese neuen Realitäten jüngst im Hörsaal erlebt; in meiner Grundvorlesung Physikalische Chemie. Dort sitzt eine neue Generation. Der Abiturjahrgang 2023.
Ich habe es mir angewöhnt, auch in meinen Grundvorlesungen Klima-Aspekte zu thematisieren. Besonders in der ersten Semesterwoche lasse ich gern Raum für größere Kontexte und Fragen. Worum geht es in der Physikalischen Chemie? Wie arbeitet Naturwissenschaft? Und was hat das alles mit uns zu tun?
So war es auch in diesem Jahr zum Start des Sommersemesters. Ich zeigte aktuelle Klimadaten. Die viel zu hohen Luft- und Meerestemperaturen. Bisher stieß das immer auf Interesse. Zwar bedrückt, aber bewegt. Diesmal war es anders. Von rund 150 Personen im Hörsaal verließen gut 20 die Vorlesung während dieses Teils. Als ich anschließend die Dagebliebenen fragte, ob wir im Laufe des Semesters (da wo es eben thematisch passt) weiter darauf eingehen sollen, sprach aus vielen Gesichtern vor allem Ratlosigkeit.
Ein paar Wochen später kamen wir zum ersten Hauptsatz der Thermodynamik und zu den Begriffen Reversibilität und Irreversibilität. Ich nutzte die Gelegenheit für einen kurzen Exkurs zu Kippelementen im Erdsystem. Niemand, absolut niemand konnte meine Frage beantworten, auf wieviel der Treibhausgasausstoß global zu reduzieren sei, um die Temperatur zumindest konstant zu halten. Nach einiger Zeit sagte jemand leise: „So auf 50 Prozent vielleicht?“
Nachdem ich daraufhin die Notwendigkeit einer Nettonull-Emission zur Klimastabilisierung erklärte, und dass auch das ein deutlich unbequemeres Klima für Jahrtausende bedeutet, kamen nach der Stunde zwei Studierende zu mir. Sie meinten, dass sie sich einfach mal bedanken wollten; so deutlich hätte ihnen das bisher noch nie jemand erklärt.
Das Unwissen darüber, wohin sich die planetaren Systeme derzeit entwickeln, reicht noch weiter. Vor Kurzem etwa hörte ich bei einer Fachtagung den Vortrag eines Managers, der davon berichtete, dass seine Firma sich selbstverständlich voll zum 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens bekenne. Im Anschluss des Vortrags merkte ich an, dass die monatliche globale Durchschnittstemperatur seit über einem Jahr darüber lag (Öffnet in neuem Fenster); und fragte, ob die Firma dies nun irgendwie weiter reflektiere. Ich vermute, dass ihn das kalt erwischt hat. Er hatte schlicht keine Ahnung, was er antworten sollte. (Im Nachhinein entschuldigte ich mich noch bei ihm, ihn mit dieser Frage ein wenig bloßgestellt zu haben; ich hätte das vielleicht lieber nicht öffentlich fragen sollen.)
Klimaschutz in einer neuen Realität
Diese drei Geschichten sind für mich symbolisch. Sie zeigen etwas, das ich auch in der Gesamtgesellschaft wahrnehme: eine gefährliche, lähmende und erdrückende Mischung aus Desinteresse und Unwissen. Klima ernüchtert. Viele wollen nichts mehr davon hören. Viele können es nicht mehr hören. Viele sind ratlos. Und unendlich müde. Das Momentum von 2019 ist verpufft. Dauerkrisen haben uns mürbe gemacht; und so richtig mitreißen kann irgendwie kein Handlungsansatz. Vielleicht wünschen sich die meisten schon noch irgendwie, dass jemand das Problem lösen werde. Aber es ist zäh. Bleiern. Ermattend.
💌 Ausgabe #27: Aufwachen, liebe Medien, die Welt geht unter (Öffnet in neuem Fenster)
Was heißen diese Entwicklungen im Zeitraffer, von vermeintlich existierendem Restbudet hin zu akutellen Temperatur-Anomalien; von Momentum hin zu vermeintlich unwissendem Desinteresse? Dass wir uns auf brutale Folgen einstellen müssen. Dass uns selbst bei einem Stopp der Erhitzung unter zwei Grad nie dagewesene Hitze, Dürre und Wetterextreme drohen, die die Art wie wir arbeiten, Landwirtschaft betreiben und unser Leben organisieren, vor immense Umbrüche stellen werden. Und dass selbst das wohl gar nicht mehr erreichbar ist.
Um es einzuordnen: Für eine (hypothetische!) Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad müsste der Reduktionspfad so steil sein wie während der härtesten Phase der Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020. Die Emissionen müssten global bis 2035 auf den Stand der frühen 1970er sinken. Und danach bis zur Jahrhundertmitte auf null. Zero. Nichts mehr. Global! Und damit immer noch nicht genug. Ab dann braucht es Negativemissionen. Carbon Dioxide Removal in ganz großem Stil, zurück auf deutlich unter 400 ppm bis zur Mitte des 22. Jahrhunderts. Die Technologie dafür existiert in dieser Skalierung noch gar nicht. Von Ausbau und globaler Umsetzung gar nicht zu reden.
Klimaschutz heißt Schutz vor dem Klima
Daraus folgt für mich nun vor allem eines: Klimafolgen-Anpassung ist für mich die neue Priorität.
Was ich damit meine? Lange, viel zu lange, gab es keinen ausreichenden Klimaschutz. Das hat uns dahin geführt, wo wir nun stehen. Irreversibel. Es gilt nun, den Fehler im Hinblick auf Adaption nicht zu wiederholen. Vor allem, weil Anpassung immer schwerer werden wird und immer schneller ablaufen muss durch immer brutalere Klimafolgen. Und durch immer brutalere gesellschaftliche Verwerfungen.
Bei Klima und Gesellschaft haben wir es mit komplexen Systemen zu tun. Mit denen kenne ich mich als Physikochemiker etwas aus. Komplexe Systeme sind mehr als bloß komplizierte Systeme. In komplizierten Systemen ist das Wechselspiel der Systemkomponenten unübersichtlich. In komplexen Systemen ist es unvorhersagbar. Jedenfalls dann, wenn sie ihren Stabilitätsbereich verlassen.
Komplexe Systeme unterscheiden sich von komplizierten Systemen dadurch, dass es Rückkopplungen in den Beziehungen zwischen den Systemkomponenten gibt. Das macht sie einerseits erstaunlich resilient und stabil. Sie können beachtlichen Stress aushalten und dennoch immer wieder in ihre Gleichgewichtslage zurückkehren. Wenn aber der Stress zu groß wird, können dieselben Wirkprinzipien dazu führen, dass diese Systeme in komplett neue Zustände kippen.
Das Erdsystem ist das für uns größte und wichtigste komplexe System, das seinerseits wieder aus komplexen Teilsystemen besteht, hauptsächlich in Form seiner Eiskörper, seiner Ökosysteme und seiner Strömungssysteme. In all diesen gibt es beängstigende Evidenz für die Existenz von Kippelementen, die wenn sie einmal angestoßen sind, selbstverstärkend und unbremsbar, ja vielleicht sogar aneinander gekoppelt, epochale Veränderungen hervorrufen können. Ein Charakteristikum, das alle komplexen Systeme teilen, ist das Auftreten von Fluktuationen beim Erreichen solcher Übergangspunkte.
Ich durfte das vor rund zehn Jahren am Helmholtz-Zentrum selbst untersuchen, durch Neutronenstreuung an Polymer-Mikrogelsystemen, die kritische Übergänge zeigen. Wenn ich mich heute indes etwa im Harz umschaue, dann brauche ich keine Neutronenstreuung um deutliche Fluktuationen wahrzunehmen.
Auch Gesellschaften sind komplexe Systeme. Auch dort ist mit Kippvorgängen zu rechnen. Und manchmal frage ich mich, ob wir nicht schon längst genau dies erleben. Das Kippen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in die Instabilität. In ein Zeitalter der Gräben und Grabenkämpfe, der Desinformationen und der Destabilisierung.
Das Wechselspiel aus beidem bereitet mir schlaflose Nächte. Denn die Perspektive, die sich daraus ergibt, ist furchterregend.
Aus Klimaschutz-Perspektive habe ich dem wenig entgegenzusetzen. Und eben daraus folgt für mich nun vor allem eines: Klimafolgen-Anpassung als neue Priorität. Wir brauchen sie dringend, um uns für kommendes Extremwetter vorzubereiten. Jedes Hochwasser und jede Dürre zeigen wieder und wieder, dass unsere Infrastruktur dafür nicht gemacht ist. Wie denn auch? Sie stammt aus einer anderen Epoche.
Ich will damit übrigens keinesfalls Klimaschutz infrage stellen. Er ist vielmehr absolute Notwendigkeit für zumindest irgendeine Chance auf Anpassung. In Anpassung sehe ich indes wiederum eine weitere Chance. Es gibt viele übliche Vorbehalte gegen Klimaschutz. Fast nichts davon trifft aber auf Klimafolgen-Anpassung zu. Dies ist kein globales, sondern ein höchst lokales Thema. Und ein höchst eigennütziges. Es geht dabei nicht darum die Welt zu retten, sondern erstmal die eigene Haut.
Hierüber müsste es doch eigentlich möglich sein, auch Menschen zu gewinnen, die dem Klimaschutz eher skeptisch gegenüberstehen. Und dadurch vielleicht einen ganz großen gesellschaftlichen Graben zumindest teilweise zu überwinden.
Vielen Dank fürs Lesen! Da in Sebastians Text auch von Trauer- und Depressionsbewältigung die Rede ist, wollen wir Dich an dieser Stelle auf das Beratungsangebot der Psychologists for Future (Öffnet in neuem Fenster) aufmerksam machen.
Die nächste Ausgabe bekommst Du am 05. Oktober. Bis dahin!
Herzliche Grüße
Manuel & Julien
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