REDUZIERTER EXZESS DES INTIMEN
LITERATUR-KRITIK
„>>Ein frischer Wind weht durch den modernen Diskurs, als feierte die Malerei eben erst ihren Einstand, die unbekannte Künstlerperson – ob Mann oder Frau bleibt (noch) im Dunkel – weiß vieles, was sie uns mit geübter Hand, ohne Belehrung, näherbringt. Zwar wissen wir nicht, um wen es sich bei F handelt, und vielleicht werden wir es nie erfahren, doch spielt das bei so viel Zeitlosigkeit auch gar keine Rolle. Die Welt erklärt sich auf Fs exponierten Bildern wie seit Langem nicht mehr durch Farbe. Diese Kunst ist Rückbesinnung und Fortschritt im Sinn eines beharrlichen und unbeirrten Voranschreitens. Hier zählen Motiv und Farbigkeit, Dichte und Durchlässigkeit. Hier sieht ein Künstler die Welt als Fragment und Ganzes.<<“ - S. 122 f.
Hui! Wer ist denn diese*r „F“? Ein junger, unbekannter, aufstrebender Star am wechselhaften Himmel der Kunstszene? Das Pseudonym eines*einer bekannten Künstler*in? Finden wir die Person etwa in der aktuellen Mein Schwules Auge/My Gay Eye 21 – Love, Not War-Ausgabe oder hat Andy Warhol heimlich mehr als Pop-Art gemacht? Hatte Leonora Carrington vor ihrem späten Durchbruch als „F“ gezeichnet? Hat Hannah Höch noch andere Kunst, als ihre vielschichtigen Collagen kreiert?
Weder noch. Leser*innen des jüngsten Romans Alain Claude Sulzers, Fast wie ein Bruder, sowie jene dieser Rezension wissen, dass es sich um den besten Freund des Erzählers handelt. Dieser hieß Frank und ist am 23. August 1993 in einer Berliner Klinik an den Folgen seiner Aids-Erkrankung gestorben. Frank wurde zweiunddreißig Jahre, einunddreißig davon kannten sich die beiden. Sie treffen erstmals einjährig 1962 aufeinander, als die Eltern am selben Tag ins selbe Haus, in dieselelbe Etage, „wir links, Reimers rechts“ in Bochum zogen.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/0829005f-cd90-44dc-b147-c52f4d1521bf (Öffnet in neuem Fenster)Sie blieben dort, sowohl die Eltern wie auch die Söhne, in enger Freundschaft verbunden leben, bis es zum Skandal kam, als die Jungen siebzehn waren. Wobei, das stimmt nicht so recht: Beide Einzelkinder werden bis dahin schon jeweils einen Elternteil verloren haben. Ebenso setzt spätestens mit der (frühen) Pubertät eine leichte Entfremdung der Jungen voneinander ein. Frank beginnt sich für Kunst zu interessieren, schleppt seinen besten Freund in die Düsseldorfer Kunsthalle zur Sigmar Polke Retrospektive, beginnt manisch zu zeichnen. Sein bester Freund, der nun mit bald sechzig auf die gemeinsame Zeit und Franks Ableben zurückblickt, immer wieder betont, er sei doch fast wie ein Bruder gewesen oder der einzige Bruder, den er je gehabt hätte, interessiert sich derweil eher für Mädchen und Co.
Diese wiederum sind Franks Sache gar nicht, er interessiert sich für Jungen. Wir erfahren, das sei seinem besten Freund egal gewesen und doch hält er sich auffällig zurück, als es kurz vor der Volljährigkeit zum Skandal kommt, der (Achtung – kleiner Spoiler zum Verlauf) ein (Liebes-)Verhältnis Franks mit einem der Sinti-Und-Roma-Nachbarsjungen namens Matteo zum Gegenstand hat. Nun zerreißt mensch sich das Maul, in Bochum, im Pott der ausklingenden 1970er-Jahre.

Der Erzähler versteht nicht recht, was da vor sich ging, empfindet wohl Scham, eventuell, so meine Interpretation, gar Neid, dass Frank sich ihm nicht anvertraut hatte. Für andere ist der Junge nun ein Abartiger, einer der nicht dorthin gehöre, der Elternteil in Mithaftung genommen, irgendwie sind die Eltern doch verantwortlich, ein Makel, der bleibt. So steht der Wegzug an – die Reimers gehen nach München, Erzähler und Erziehungsberechtigte nach Stuttgart.
So entfernen sich die beiden immer mehr voneinander, wenn sie auch telefonisch in Kontakt bleiben und einander am Leben des anderen so gut es geht – und sie willens sind – teilhaben lassen. Der Erzähler beginnt Pädagogik zu studieren, entdeckt dann, dass dies nicht wirklich das Seine ist, beginnt ein Praktikum in einer Firma, die Werbefilme dreht und wird schlussendlich, nach Franks Tod, ein renommierter, weltweit bekannter Kameramann. Frank hingegen beginnt ein Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf, ob er es abschließt, erfahren wir nicht, Abschlüsse hatten damals allerdings auch noch nicht die in sie hinein interpretierte Bedeutung wie heute, eher, so erzählt es der Fast-Bruder, bei welchen Namen studiert wurde. Wobei Frank seinen Lehrmeistern (ob unter ihnen auch der damals noch nicht so berühmte Gerhard Richter war, bleibt im Vagen), als Künstler wohl zu epigonal war. Er landet schließlich in New York, der Durchbruch will ihm, der zwar exzentrisch, aber kein Aufschneider gewesen sei, nicht gelingen.
Einzelne Gruppenausstellungen und Niedrigpreis-Käufe helfen nicht, zu verdecken, dass es Frank erging „wie anderen ausländischen jungen Künstlern, die sich von New York mehr erhofften, als New York ihnen bieten konnte. Es gab einfach zu viele seiner Art, die talentiert, aber nicht unverwechselbar waren.“ Ja, der Beste-Freund-Erzähler kann in seiner subjektiven Sicht auf die Dinge, die er jedoch immerfort rationalisiert, durchaus grausam sein.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/80eacff1-d633-4df0-8528-7be0901d3cff (Öffnet in neuem Fenster)Doch sah auch Frank, dass es ihm nicht wirklich gelang, auf den Boden zu kommen. Während die etwa gleichaltrigen Jean-Michel Basquiat oder Keith Haring populär wurden, wurde Frank kaum wahrgenommen. „Als Schwuler sei er erfolgreich, sagte er mit eines Tages am Telefon, als Künstler würde es ihm ohne die Überweisungen“ von zu Hause „nicht einmal gelingen, den Alltag zu bewältigen.“ Ja, definitiv kein Aufschneider.
Der Erfolg kommt also, wie sooft, erst nach dem Ableben. Allein, dass es ein mysteriöses Wunder ist, wie es dazu kommt, dass vierunddreißig der Zeichnungen Franks plötzlich in der Galerie Linie in Berlin landen. Denn an sich hatte Frank sein Gesamtwerk (wohl um die 200 Bilder) seinem besten, wenn auch entfremdeten, Freund vermacht, der sie wiederum in der Remise des kleinen Anwesens, das er mit Ehefrau Marie-Noëlle und den Söhnen Jerôme und Fabrice in Aix-en-Provence bewohnt, verstaut hatte.
„Solange ich es nicht bemerkte, konnte ich es ignorieren.“ - S. 160
Verstaut, abgestellt, ignoriert und im Prinzip über die Jahre vergessen. Er nahm sich ihrer nie an, hing keines davon im weitläufigen Haus auf, ließ nicht eines rahmen oder von einem der wohl zahlreichen Kunstkenner im Freundeskreis beurteilen. Die „Hinterlassenschaften“ seines besten Freundes, der ihm fast wie ein Bruder gewesen sei, interessierten ihn schlicht nicht, wie er uns wissen lässt. Unser Erzähler ist letztlich ein eher eigenbrötlerischer, definitiv in seiner Abgewandtheit von allem, das ihn nicht direkt zu betreffen scheint, egozentrischer wie egoistischer Un-Protagonist, da ihm jedes nicht absolut notwendige Handeln zuwider scheint. Dass er und seine Frau sich ebenfalls „auseinandergelebt“ haben, doch nichts so schlimm sei, dass eine räumliche Trennung und Scheidung sich lohnen würden, spricht Bände.
Jetzt, da er nach einem Dreh in den USA am Frankfurter Flughafen eher aus einer Laune heraus die Berliner Zeitung vom Vortag kauft und nach einem kurzen Schlaf, auf seinen Anschlussflug nach Marseille wartend, Bilder in einem Stil entdeckt, der ihm bekannt scheint, dazu der oben zitierte, exaltierte, sehr kunstbericht-typische Text, scheint, nein, IST, klar: Diese Bilder sind seine. Diese unbekannte Künstlerperson, dieser „F“, das ist Frank.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/75b5f924-1509-422f-8ea9-36c94be7a906 (Öffnet in neuem Fenster)Spätestens als er sich selbst im Bild „YOU, BROTHER“ in einer aggressiven und sexuell aufgeladenen Pose, einem „Exzess des Intimen“ erkennt, besteht kein Zweifel mehr. Doch wer sollte die Bilder gestohlen haben? Warum klauen, was keiner kennt? Etwas, das zunächst einmal keinen Wert hat? (Wenn die Bilder auch für solide Summen angeboten und gekauft werden.) Das sind die Fragen, die unseren, scheinbar aus einer Lebens-Lethargie gerissenen Erzähler nun umtreiben. Jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Denn schnell melden sich seine Interpretation, das Selbst und der Egoismus sowie der Gedanke, machen könne er nun eigentlich auch nichts, zurück. Als erste Hauptverdächtige kommt ihm bei einem zu salzigen Cassoulet (allerdings nichts so versalzen, dass er es zurückgehen lassen würde) und Rosé-Wein gar Marie-Noëlle in den Sinn, die sich im Gegensatz zu ihm mit den Zeichnungen beschäftigt hat und sie mochte, wie er nun erfährt.
Das ist alles unfassbar faszinierend zu lesen. Alain Claude Sulzer umspielt in Fast wie ein Bruder mit seinen Worten all unsere Rezeptoren. So fühlen die geneigten Leser*innen Freude und Schmach, Wut und Liebe, Unterhaltung und Spannung, Trauer und Verständnis. In einer auf der einen Seite reduzierten und doch mit voller Wucht wirkenden Sprache erzählt Alain Claude Sulzer kunstvoll, doch ohne Künstlichkeit von diesen zwei unterschiedlichen und doch immer verbundenen Leben.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/6a94b853-8681-4218-9351-6999618ec37b (Öffnet in neuem Fenster)Eines wird uns erzählt, das andere erfahren wir durch die Form, wie erzählt wird. Zwar liefert der Erzähler uns Schlaglichter seines Lebens, diese jedoch bewertet er, im Gegensatz zu allen Erfahrungen, die Frank mit Kunst, Sex und Drogen macht, nicht. Das obliegt uns, es fordert und belohnt mit einer intensiven Wirkung des nicht einmal zweihundertseitigen Buches. Film und Kamera, Stift und Kunst wirken als Mittler des Stoffes, als Übersetzerinnen der Erinnerungen dieses Mannes, der für Vernunft und Ruhe hält, was letztlich Angst vor allem Unerwarteten, Unbekannten und nicht seiner Norm Entsprechendem ist.
„Wann, wo und bei wem er sich angesteckt hatte, wusste Frank nicht. Wer das wusste oder zu wissen behauptete, musste seit seinem Coming-out ziemlich zurückgezogen gelebt haben, was in der sprichwörtlichen promiskuitiven Community eher selten Fall der Fall war. Wer noch vor Kurzem zu bedauern war, weil er ein unerfülltes Mauerblümchendasein geführt hatte, hatte jetzt die größte Chance, zu überleben.“ - S. 85
Zudem ist der Roman noch eine Reise in die repressive Geschichte der Bundesrepublik, wenn es um Homosexualität geht (es muss nicht daran erinnert werden, dass der unsägliche Nazi-Pragraph 175 noch immer in Kraft war). Oder auch das Aufkommen des HI-Virus und also Aids, das, letztlich eingeschleppt durch den ständigen Expansionswillen des Menschen wie durch frühe Momente des Klimawandels, zunächst in den USA und schließlich auch in Europa zuschlägt und als „Schwulenseuche“ oder „Schwulenkrebs“ bezeichnet wird. Ein Stigma, das, aller vergleichsweise zügigen medizinischen Fortschritte zum Trotz, zuweilen noch immer gern rausgeholt wird, um Homosexuelle und Queers zu diffamieren.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/85581948-3ffc-4e73-808b-396a418423b6 (Öffnet in neuem Fenster)Damit ist dieser wirklich famose, intensive, elegante und effektive Roman der (sprachlichen) Abwehr des erzählenden „Normalbürgers“ alles Unbekannten, vermeintlich Anrüchigen, nicht nur die Geschichte einer Freundschaft, die eben nicht allen Widrigkeiten – vor allem jenen der jeweils eigenen Persönlichkeit – trotzt, sondern auch ein Buch über die Liebe zum Leben, in nicht immer lebenswerten Zeiten. Sowie eine perfekte Lektüre zum Pride Month (Öffnet in neuem Fenster), der am heutigen 1. Juni eingeläutet wird.
Außerdem wird Alain Claude Sulzer heute im Rahmen der Solothurner Literaturtage mit dem Solothurner Literaturpreis für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Die Laudatio hält Nicola Steiner. (Jurybegründung im PPS.)
Unzählige Gründe also, sich dieses kleinen, besonderen, starken, wirkungsvollen und so reichhaltigen Romans anzunehmen, der lange nachhallen und sicherlich einen besonderen Platz im Lesegedächtnis einnehmen wird.
AS
PS: Die Figur des Pianisten Marek Olsberg, mit der Frank vermutlich eine aufregende Nacht und einen aufgeladenen Morgen in einem der exklusivsten Hotels New Yorks verbringt, ist einer der Protagonisten in Sulzers Roman Aus den Fugen, den ich nun natürlich lesen und besprechen möchte.
PPS: In der Begründung der Jury des Solothurner Literaturpreises heißt es: «Ob sich Sulzer in einen Stoff des 19. Jahrhunderts vertieft oder in die Nachkriegsgesellschaft zurückversetzt: Stets vermag er glaubwürdige Stimmungslandschaften zu erzeugen und bringt den Lesenden Protagonisten nahe, die man leicht als Nebenfiguren der Geschichte übersehen könnte. Nicht selten sind der Künstler, sein Leben und die Kunst das latente oder manifeste Thema seiner Romane. Doch in Sulzers Schaffen sedimentieren sich auch gewaltsame Realitäten vom sexuellen Übergriff bis hin zu strukturellen Unterdrückungsmechanismen. Dabei schreibt der Romancier unbeirrt und immun gegenüber kurzfristigen Trends. Verdrängtes holt er nüchtern und behutsam zurück ans Licht und beweist mit jedem Werk seinen Willen zur Form und ein unvergleichliches Gespür für Sprache und Stil»
PPPS: Das wunderschöne Covermotiv trägt übrigens den Titel „Das Selbstvertrauen der Jugend“, gezeichnet 2009 von Gerhard Knell, Acryl auf Leinwand, 160 x 110 cm. Mehr Infos zu Maler und Bild hier (Öffnet in neuem Fenster). [© VG Bild-Kunst, Bonn 2024]
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Eine Leseprobe findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster).
Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder (Öffnet in neuem Fenster); August 2024; 192 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-86971-294-9; Galiani Berlin; 24,00 €