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STELL DIR VOR ES IST BOMBE UND...

FILM-KRITIK

...alle machen was anderes. So geschieht es in Kerstin Poltes Ensemble-Drama (oder -Dramedy) Blindgänger, in dem/der es im Kern um die Entschärfung einer während Bauarbeiten im Hamburger Schanzenviertel gefundenen 1000-Pfund-Weltkriegsbombe geht. Doch im Grunde ist diese beinahe so etwas wie ein Red Hering, denn eigentlich geht es um eine recht spezielle Gruppe von (teils über Ecken) miteinander bekannten Menschen und ihre recht illustren Probleme.

https://steadyhq.com/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/e1cc816c-b41a-4772-9031-e7f7dd2a2118 (Öffnet in neuem Fenster)

Dass so eine Bombe auftaucht, ist vor allem für Großstädter keine Seltenheit. Und wer vor zwei Jahren oder danach Sergei Loznitsas eindrucksvollen Dokumentarfilm Luftkrieg – Eine Naturgeschichte der Zerstörung gesehen hat, wundert sich vermutlich auch bei Funden in Kreis- und Kleinstädten oder auf Feldern eher weniger. So eröffnet Polte ihren Film passend mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Bombenabwürfen und einer Coverversion des Depri-Mood-Klassikers „The End of the World“ von Evelinn Trouble (leider noch nicht auf Spotify zu finden).

Anne Ratte-Polle wird als Lane von Haley Louise Jones als Ava in BLINDGÄNGER in den Arm genommen und getröstet
End of the World oder Beginning of the Nähe?! Anne Ratte-Polle als Lane und Haley Louise Jones als Ava in BLINDGÄNGER // © missingFILMs

Überhaupt ist die Musik neben dem mit Talent und Spiellust aufwartenden Ensemble (Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones, Bernhard Schütz, Claudia Michelsen, Daniel Sträßer, Karl Markovics, Barbara Nüsse, Lukas von Horbatschewsky, Ivar Wafaei) weiterer wesentlicher Bestandteil der Erzählung(en) in Blindgänger. Ein wenig auch das Schanzenviertel oder das bunte, queere Hamburg, wenn es etwa in die Prinzenbar auf St. Pauli geht.

Dorthin treibt es den versierten Bombenentschärfer Otto Bismarck (Bernhard Schütz), der ausgerechnet am Tag der Entschärfung die Arbeit schwänzt, da er zuvor erfahren hat, dass er a) möglicherweise Prostatakrebs hat – Joe Biden schickt betroffene Grüße) und b) seine Ehefrau, die Lehrerin Hanne (Claudia Michelsen) mit ihrem 35 Jahre jüngeren Kollegen eine Affäre hat. So treibt es Otto durch die nicht evakuierten Straßen Hamburgs, wo dieser Otto Bismarck nun in einem ziemlich unwirtlich wirkenden Reisebüro auf Prince Charles, seines Zeichens Kaninchen, trifft. Dieses betreut aktuell der gutmütige Viktor Knigge (Karl Markovics), der nach Reiselust auf Drag-Fun steht und so mit Otto und dessen dringendem Wunsch, kurz mal wer anderes zu sein, in besagter Prinzenbar landet.

Otto Bismarck in der Prinzenbar in BLINDGÄNGER
Otto Bismarck bunt in der Prinzenbar in BLINDGÄNGER // © missingFILMs

Hanne setzt sich mal fix ins sehr kompakte Auto und trifft auf dem Weg nach „weit weg“ auf ihren Schüler William Herbst (Lukas von Horbatschewsky), der zunächst schlagfertig aus ihrem Unterricht abgehauen ist und den es nun wohl ebenfalls „weit weg“ treibt. Derweil versteckt sich der von Viktor gut gehütete Mitbewohner und zur Abschiebung vorgesehene afghanische Flüchtling Junis Nerwa (Ivar Wafaei) mit Kaninchen-Besitzerin und Weltkriegsbomben-Traumtisierter Margit Petersen (Barbara Nüsse) in Viktors Wohnung vor der Evakuierung. Einer hat Angst eher abgeschoben als abgesichert zu werden und die andere, die ein paar Etagen über Viktor lebt, einfach das Haus zu verlassen. Immerhin haben sie Kuchen, Mensch ärger dich nicht und Perücken! Delikat: Margits Tochter Lane (Anne Ratte-Polle) ist nun verantwortlich für die Entschärfung des titelgebenden Blindgängers. Doch leidet sie unter Panikattacken, schlechtem Schlaf und Weltsorge (womöglich auch Klimaangst).

Immerhin konnte sie die neue Therapeutin... uhm... Psychologin... also Evaluierungsspezialistin Ava Shabani (Haley Louise Jones) noch mit bewegenden Worten („Ich esse gut, ich schlafe gut, ich ficke gut.“) dazu überreden, sie wieder für diensttauglich zu erklären. Nur bleibt die Frage: War das die richtige Entscheidung? Außerdem: Knistert da nicht was? Bei Lane in jedem Fall. Und weil das alles noch nicht reicht, macht sich noch ein fetter Sturm auf den Weg in die Hansestadt...

https://www.youtube.com/watch?v=wB3-Y0lwXLI (Öffnet in neuem Fenster)

...Boom und Puuuh! Klingt alles reichlich überladen. Ist es allerdings so gar nicht. Kerstin Polte (verantwortlich u. a. für die teil-queeren Serien WIR und Becoming Charlie sowie den tollen Saarland-Tatort: Die Kälte der Erde – die Review dazu könntet ihr lesen, wenn unser „altes“ Magazin wieder am Start wäre, siehe unten) hat ihre Figuren im Griff, was sich von denen nun nicht immer sagen lässt.

„Jede Figur hat ihren eigenen Raum und ihre eigene Stimme. Der Film geht empathisch auf Widersprüche und komplexe Beziehungen ein, ohne sie zu vereinfachen oder zu verurteilen, und lässt dem Publikum Raum zum Nachdenken.“

Porträtfoto BLINDGÄNGER Regisseurin und Autorin Kerstin Polte
Autorin und Regisseurin Kerstin Polte // © missingFILMs

So laut Polte der Anspruch an sich, die Figuren und den Film. Dieser wird allemal erfüllt. Trotz der vergleichsweise knappen Laufzeit von gut neunzig Minuten, ist dieser Raum, sind diese eigenen Stimmen da und vernehmbar. Wir erleben keine auf ein oder zwei Hauptfiguren reagierenden Abziehbilder. Was uns die Charaktere sehr schnell und sehr empathisch nahebringt. Da spielen unterschiedliche Generationen, Herkunftsgeschichten oder sexuelle Orientierung, Gender und Co. keine Rolle. Was sich ganz natürlich fügt. Dass Blindgänger in einer Großstadt und im Umfeld dieser Viertel/Kieze spielt, hilft der Glaubwürdigkeit. (Im Mai ist Blindgänger in der Queerfilmnacht zu sehen.)

Einsam? Schüler William Herbst (Lukas von Horbatschewsky) auf dem Außenzugang eines Hamburger Hochhauses
Einsam? Schüler William Herbst (Lukas von Horbatschewsky) in BLINDGÄNGER // © missingFILMs

Dabei kombiniert Kerstin Polte starke emotionale Momente (die nicht vorweggenommen werden sollen) mit Stille, vielleicht gar kurzzeitiger Resignation, solider Spannung, lakonischem Humor und einem aus dem Problem Rauswachsen. Stichwort Resilienz oder auch Selbstwirkamskeit(serwartung). Solidarität bildet sich zwischen Menschen, wo wir sie zunächst nicht erwartet hätten, sie aber absolut Sinn ergibt. (Vererbte) Traumata werden teils an nicht vorhergesehener Stelle durchbrochen. Zuhören wird zelebriert, Chaos (im Kopf) nicht verdammt und Nähe ermöglicht.

Guck mal was da fliegt! Lehrerin Hanne (Claudia Michelsen) schaut in BLINDGÄNGER aus dem Fenster auf fliegende Blätter
Guck mal was da fliegt! Lehrerin Hanne (Claudia Michelsen) in BLINDGÄNGER // © missingFILMs

Das alles ist nicht zuletzt dank der fantastischen Bilder Katharina Bühlers sowie dem gelungenen Schnitt von Aurora Vögeli und Julia Wiedwald ziemlich großes Kino, das durchaus nachhallt und von dem man sich gern durch die Gegend wehen lässt. Beinahe ist es schade, dass wir diesem starken Ensemble nicht doch nicht fünfzehn bis zwanzig Minuten länger folgen durften.

AS

PS: Die Prinzenbar findet sich übrigens nicht im Band 111 queere Orte in Hamburg, die man gesehen haben muss. Dafür viele andere - demnächst lest ihr mehr dazu. Bis dahin könnt ihr euch ja die queeren Orte Berlins anschauen (Öffnet in neuem Fenster)

Viktor Knigge (Karl Markovics) und Nachbarin Margit Petersen (Barbara Nüsse) in BLINDGÄNGER
Viktor Knigge (Karl Markovics) und Nachbarin Margit Petersen (Barbara Nüsse) in BLINDGÄNGER // © missingFILMs

PPS: „Ich hab das meinem Mann erzählt mit uns. Er hat jetzt Prostatakrebs.“

PPPS: Womöglich mag es an unserem Screener gelegen haben, aber teilweise war die Tonqualität arg rauschend, so dass manch ein Dialog zwei, drei Mal gehört werden musste und noch immer nicht jedes Wort genau verstanden wurde.

IN EIGENER SACHE: Da unser reguläres Online-Magazin noch immer nicht wieder am Start ist, veröffentlichen wir vorerst hier. Mehr dazu lest ihr in unserem Instagram-Post (Öffnet in neuem Fenster) oder auf Facebook (Öffnet in neuem Fenster). Außerdem freuen wir uns immer, wenn ihr uns einen Kaffee spendieren wollt (Öffnet in neuem Fenster).

Blindgänger startet am 29. Mai 2025 im Kino; derzeit ist er u. a. noch in der Queerfilmnacht zu sehen (Öffnet in neuem Fenster).

Blindgänger; Deutschland 2025; Regie und Drehbuch: Kersint Polte; Bildgestaltung: Katharina Bühler; Musik: Daniel Hobi, Ephrem Lüchinger; Darsteller*innen: Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones, Bernhard Schütz, Claudia Michelsen, Daniel Sträßer, Karl Markovics, Barbara Nüsse, Lukas von Horbatschewsky, Ivar Wafaei; Laufzeit ca. 95 Minuten; FSK: 12; Eine Tamtam Film Produktion in Koproduktion mit Catpics (Schweiz) in Koproduktion mit Saarländischer Rundfunk, Bayerischer Rundfunk in Zusammenarbeit mit ARTE. Gefördert durch die MOIN Filmförderung, Hessen Film & Medien, Deutsche Filmförderfonds, Bundesamt für Kultur (BAK).

Kategorie Film

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