Dieser Newsletter ist für mich immer eine interessante Beobachtung darüber, wie ich über die Woche hinweg über Themen nachdenke sowie was mit ihnen in medialen Debatten geschieht. Wie lange bestimmte Debatten sich halten, wie sie sich entwickeln und wie schnell manche Themen auftauchen und wieder verschwinden. Über die Woche hinweg notiere ich Stichwörter und Gedanken, um sie später auszuformulieren, denn würde ich das nicht tun, wären die Ideen meistens schnell wieder verschwunden. Mein eigener Alltag ist gerade sehr dicht und es sind so viele Themen, die in sozialen Medien und auf Nachrichtenwebsites behandelt werden. Ist ein Stichwort, das ich montags notiert habe, am Freitag bereits wieder überholt? Habe ich meine Meinung dazu geändert? Warum bin ich nicht mehr wütend oder immer noch?
Ich notiere meine Ideen an verschiedenen Orten, digital, auf Zetteln, in Notizbücher. Versuche sie im Kopf zu behalten und besitze eine Schreibtischunterlage aus Papier, auf der in den vielfältigen Kategorien ein To-Do-Ungetüm gewachsen ist, gegen das ich keine Chance habe. Ich denke nicht nur über das Schreiben nach, sondern auch darüber, wem ich noch heute noch zurückschreiben sollte, weil es in unserer Patchwork-Familien-Whatsapp-Gruppe eine wichtige Frage gab, auf welche beruflichen Mails ich noch antworten will, welche Sprachnachrichten ich ignoriere, was ich auf die Einkaufsliste schreiben wollte oder am besten gleich bestelle.
In einer Spalte auf der Schreibtischunterlage stehen die Menschen, mit denen ich mich zum Spazierengehen verabreden will, seitdem ich gemerkt habe, dass ich das ein Mal pro Woche tun sollte, damit meine Stimmung nicht kippt. In den letzten Wochen konnte ich niemanden von dieser Liste streichen. Ich habe jeden Tag nur wenige Stunden, die ich erwerbsarbeiten kann und alle Pflichten und notwendigen Aufgaben die ich zusätzlich in meinem Alltag unterbringen muss – wie durch die halbe Stadt zu einer Ärztin zu fahren, um dort ein Rezept abzuholen, weil so etwas scheinbar nicht zu digitalisieren ist – fressen häufig einen halben Arbeitstag, der mir dann wieder fehlt, um jemanden draußen zum Kaffee zu treffen.
Ich kann mich also gerade dazwischen entscheiden, meine Arbeit zu schaffen oder eine Freundin zu treffen und wofür man sich im Kapitalismus entscheidet, ist eine recht einfache Frage. Denn einfach die Arbeit auf den Abend zu schieben klappt für mich und für viele andere Eltern auch nicht. Das Baby schläft noch nicht zu festen Zeiten ein, wacht über den Abend hinweg manchmal mehrmals wieder auf – gern dann, wenn das größere Kind gerade eingeschlafen ist – sodass es an manchen Abenden so ist, dass ich noch einmal zwei Stunden an den Schreibtisch kann und manchmal nur zehn unkonzentrierte Minuten.
Ja, theoretisch darf ich gerade eine Person aus einem anderen Haushalt auch abends treffen, aber viele Freund_innen von mir haben gerade selbst kleine Kinder, Corona-Blues oder beides und mittlerweile leben wir so weit über die Großstadt verstreut, dass man bis zu einer Stunde braucht, um von der eigenen Wohnung zur anderen zu kommen. Halb-apathische Menschen raffen sich am Abend dazu selten auf. Dank Ausgangssperre ist diese Idee gerade ohnehin passé. Die beste Option wäre es wohl, wir besäßen alle eine Gästecouch und würden gegenseitig beieinander übernachten. Wie die aufregenden Übernachtungen bei Freund_innen, als ich noch ein Kind war und die Nächte in der Nachbarschaft, 300 Meter entfernt vom Haus meiner Eltern, sich anfühlten wie ein Abenteuer. Der Gedanke daran, jetzt als Erwachsene bei einer Freundin in der Wohnung, am besten neben ihr im Bett aufzuwachen und gemeinsam verschlafen den ersten Kaffee zu trinken, macht mich gerade ziemlich sehnsüchtig. Warum haben wir das noch nicht gemacht? Dieses Träumerei erinnert mich an die guten Seiten einer WG, als man sich mittags verkatert in der Küche traf und zusammen darüber lachen konnte, was in der Nacht passiert war und wie zerstört die anderen aussahen.
Jetzt freue ich mich immerhin jeden Morgen im Halbschlaf, wenn das Baby beginnt im Schlafsack durchs Bett zu robben, zerknautscht und auf eine Baby-Art verkatert aussieht und es selbst noch so verschlafen ist, dass der viel zu schwere Kopf beim Krabbeln immer wieder auf die Matratze fällt. Kurze Zeit später läuft es laut juchzend durch die Küche, weil einfach geboren zu sein das Größte ist, und ich gieße Apfelsaft in den Milchaufschäumer.
Meine erste Notiz für diese Woche war es, über Annalena Baerbock und die Vereinbarkeit von Kanzlerinnenschaft und Muttersein zu schreiben. Und auch, wenn die Frage danach, wie Annalena Baerbock möglicherweise eine Kanzlerinnenschaft mit ihrer Familie vereinbaren würde, für den Moment wieder verschwunden ist, blieb es das wichtigste Stichwort auf meiner Liste.
Das fängt damit an, dass ich das Wort Vereinbarkeit hasse. Es ist genauso schrecklich wie der Begriff Work-Life-Balance. So wie wir es gebrauchen, beschreibt das Wort Vereinbarkeit nur die zwei Dimensionen Erwerbsarbeit und Familie und – come on – das ist einfach zu wenig. Vereinbarkeit vergisst nämlich, dass manche Menschen nicht nur Familie haben, sondern auch noch eine Steuererklärung machen, zur Therapie gehen möchten, sich wohler fühlen, wenn sie ab und an Sport machen können, gern Ehrenämter übernehmen würden oder ans Telefon gehen, wenn Freund_innen anrufen und dass es absolut ungesund ist, mehrere Jahre nur fünf Stunden lang zu schlafen. Das Wort Vereinbarkeit kann einfach auf den Müll, weil es nicht zu reparieren ist. Denn es gesteht Müttern nicht zu, neben ein bißchen Geld zu verdienen und sich aufopferungsvoll um die Kinder zu kümmern, noch etwas anderes zu wollen.
Man könnte über eine Kanzlerkandidatin auch fragen: Wie viel Zeit wird Annalena Baerbock in Zukunft für ihre Freund_innen haben?
Jemanden nur als Politikerin und Mutter zu sehen, ist viel zu wenig.
Für ein Portrait (Öffnet in neuem Fenster) (€), das über Andrea Nahles erschien, als sie sich aus der SPD zurückzog, hat die Journalistin Lena Niethammer Freundinnen von Nahles kontaktiert, die sie schon als junge Frau kannte. Darin heißt es:
„Aber je höher Nahles kommt, desto seltener können sich die Freundinnen sehen. Strack schickt ihr Postkarten, kleine Aufmerksamkeiten, bei denen Nahles sich nicht verpflichtet fühlen soll zu antworten; sie soll ab und zu mal merken, dass jemand sieht, was sie leistet.“
Als Nahles den Parteivorsitz abgab, wurde in der Berichterstattung oft angemerkt, dass sie nun mehr Zeit für ihre Tochter haben würde, die nicht mit ihr in Berlin lebte. Mehr Zeit für Freund_innen wurde nicht erwähnt, vielleicht ja auch aufgrund der eindimensionalen medialen Wahrnehmung von Nahles, die ihr diese Seite, die das Porträt von Lena Niethammer zeigt, nicht zugestand. Vielleicht aber auch, weil Freund_innenschaft in der herkömmlichen Konzeption von Vereinbarkeit nicht vorkommt.
Wir nehmen Menschen in zu wenigen ihrer Rollen wahr. Man könnte sagen: Müttern wird immerhin zugestanden, die Rolle ihres Berufes und die des Elternteils auszufüllen. Männer, die interessante Berufe haben und Kinder, denken wir noch viel seltener in ihrer Rolle als Vater, was die fehlenden Fragen nach der Familienarbeit an Politiker oder Manager klar zeigen. Aber auch Väter selbst denken sich selbst zu wenig in ihrer Rolle, denn sie haben die Freiheit, jederzeit darüber zu sprechen, was Elternschaft für sie bedeutet.
Warum auch diese Fixierung auf die Beziehung zu ihren Kindern, wenn wir über Politikerinnen sprechen? Wir könnten ebenso fragen, welches Verhältnis Politiker_innen zu ihren Eltern, Geschwistern oder ehemaligen Arbeitskolleg_innen haben. Wer würde Markus Söders Hündin Molly Gassi führen, käme er dauerhaft nach Berlin?
Ich fand das Portrait über Nahles in vielerlei Hinsicht berührend, da es das erste Portrait ist, das ihr aus meiner Sicht, da ich mehrere Male getroffen und mit ihr zusammengearbeitet habe, nahekommt und ihr unvoreingenommen begegnet. Ohne Sexismus. Zudem ist diese kleine Sequenz über die Freundinnen Birgit Strack und Andrea Nahles ein schöner Ausgangspunkt, um sowohl über Vereinbarkeit als auch Freund_innenschaft nachzudenken.
Man könnte behaupten, dass Andrea Nahles ihr politisches Wirken und ihre Freund_innenschaft nicht mehr vereinbart bekam – aber weil sie Freundinnen hatte und Freund_innenschaft nicht das Gleiche ist wie Vereinbarkeit, unterstütze ihre Freundin sie weiterhin, sogar ohne unmittelbar etwas von ihr zu erwarten.
Was wir derzeit unter Vereinbarkeit verstehen, hat viel mit ungeschriebenen Regeln zu tun – zum Beispiel wie viel sich eine Mutter um ihre Kinder kümmern sollte, damit sie sagen kann, sie bekomme Beruf und Familie vereinbart. Daher ist es durchaus ein feministischer Ansatz, sich diesen Regeln zu widersetzen und dieses Verständnis von Vereinbarkeit nicht zum eigenen Maßstab zu machen.
Eine Frau kann eine gute Mutter sein, zufrieden mit sich als Mutter, und auch immer noch eine Freundin, wenn sie weniger Zeit hat als zuvor. Denn wer den Alltag von unterschiedlichen berufstätigen Eltern kennt, weiß auch, dass Zufriedenheit mit dem Familienleben nicht bedeutet, dass Eltern und Kinder jeden Tag gemeinsam zu Abend essen oder die Eltern ihre Kinder selbst aus der Kita und von der Schule abholen. Das gilt nicht nur für zeitintensive Jobs von Akademiker_innen, sondern auch für Eltern in Schichtarbeit oder solche, die in zwei Jobs arbeiten, um genügend Geld für ihre Familie zu verdienen. Und schließlich kommen auch Kinder nicht alle zur gleichen Zeit nach Hause.
In dem amerikanische Kochbuch „The Dinner Plan“ (Öffnet in neuem Fenster), das ich vor Kurzem gekauft habe, habe ich hierzu die Rezept-Kategorie „staggered“ (gestaffel) entdeckt, in der Gerichte erklärt werden, die man den ganzen Abend in der Küche stehen lassen und wieder aufwärmen kann. Die Autorinnen Kathy Brennan und Caroline Campion schreiben, dass die meisten Menschen, die sie über ihre Bedürfnisse und Essgewohnheiten unter der Woche befragt haben, selten gemeinsam zu einer Zeit aßen: „The truth is, for an ever-growing number of us, weeknight family meals are a complete fantasy.“
Familie ist eher Improvisation als Idyll und im Idealfall organisiert man sie mit mehr als ein oder zwei erwachsenen Menschen, die sich um Kinder kümmern. Und als Kind einen Wohnungsschlüssel zu haben und manchmal vor dem Fernseher zu essen, korreliert nicht mit einer besonders guten oder besonders schlechten Beziehung zu den eigenen Eltern.
Mütter sind und waren nie darüber definiert, die Menschen zu sein, die die meiste Zeit mit ihren Kindern verbringen. Menschen können viel Zeit miteinander verbringen, ohne anwesend zu sein. Sie können aber auch füreinander da sein, ohne physisch präsent zu sein. Und glücklicherweise endet weder Elternschaft noch Kindsein an willkürlichen Altersgrenzen. Manchmal, häufig sogar sehr lange, sind wir sogar beides gleichzeitig.
Alles Liebe
Teresa
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Eine Veranstaltung mit mir am 10. Mai
50 Jahre §218: Selbstbestimmung zwischen Gesundheitsversorgung und Strafrecht
Eine Kooperationsveranstaltung von pro familia Bayern und der Hochschule Landshut
Podiumsgäste: Teresa Bücker, Journalistin und Autorin Kristina Hänel, Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Sabine Simon, Stellvertr. Vorsitzende der bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft der staatlich anerkannten Schwangerschaftsberatungsstellen in freier Trägerschaft Moderation: Thoralf Fricke, Landesverband pro famila Bayern Prof. Dr. Barbara Thiessen, Hochschule Landshut, Fakultät Soziale Arbeit Die Veranstaltung wird in Gebärdensprache (DGS) übersetzt.