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Drei Gedanken zu Solingen

Hallo,

es ist jetzt knapp zwei Wochen her, dass in Solingen eine junge aus Bulgarien stammende Familie bei einem Brandanschlag getötet wurde. Die einzigen guten Nachrichten seitdem: Drei Schwerverletzte sind nicht mehr in Lebensgefahr, und die vier Getöteten sind in ihrem Heimatdorf beerdigt worden. Neue Erkenntnisse zu den Hintergründen der Tat gibt es nicht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt “in alle Richtungen”. Am vergangenen Samstag gab es einen Trauermarsch, über den ich im nd berichtet (Öffnet in neuem Fenster) habe. Im Nachgang des Trauermarsches habe ich ein wenig nachgedacht, mit Menschen gesprochen, Dinge gelesen und so weiter. Drei Gedanken, die dabei entstanden sind, mag ich gerne mit euch teilen.

Solingen - Du bist nicht das Opfer

In der biodeutschen Solinger Stadtgesellschaft finden es viele offenbar sehr schlimm, dass darüber gesprochen wird, dass die Brandstiftung einen rassistischen Hintergrund haben könnte. Diejenigen, die das als erstes angesprochen haben, wurden teilweise angefeindet. Die ganze Thematisierung des Anschlags wird in Frage gestellt. Das könne die Stadt ja retraumatisieren. Solingen befindet sich damit auf dem Gipfel des guten, geläuterten Gedenkens. Der Brandanschlag 1993, der einer Familie aus der Türkei galt, wird zur Tat gegen die ganze Stadt. Und weil man jedes Jahr brav zum Jahrestag gedenkt und letztes Jahr sogar einen kleinen Platz nach Mevlüde Genç (Öffnet in neuem Fenster) benannt hat, ist Solingen jetzt auch einfach Opfer und hat deshalb ein gewaltiges Wort darüber mitzureden, wo und wie viel Rassismus es gibt. Die Stimmen der wirklich Betroffenen sind dabei gar nicht so wichtig. Ich vermute, die biodeutsche Zivilgesellschaft treibt vor allem die Sorge um, dass der Stadt der Makel anhaften könnte, die Stadt mit den zwei mörderischen Brandanschlägen zu sein. Dagegen würde dann nämlich kein buntes Stadtmarketing helfen.

Was hingegen helfen würde. Auf Dinge hören, die Solinger*innen mit Migrationsgeschichte sagen, und ernst nehmen, was sie über die Tat denken. Welche Erfahrungen sie gemacht haben und was ihnen mitgegeben wurde. Sofia Eleftheriadi-Zacharaki, Mitgründerin des Vereins BIPoC Voices (Öffnet in neuem Fenster) aus Solingen, erzählt im Gespräch mit Radio Corax (Öffnet in neuem Fenster) zum Beispiel davon, wie Menschen aus ihrem Bekanntenkreis in den 1990ern volle Wassereimer in der Wohnung lagerten und einen Baseballschläger hinter der Wohnungstür hatten. Weil sie eben wirklich potentielle Opfer sind und waren. Im Gegensatz zur Stadt Solingen.

Wo ist die Linke?

Es ist fast 13 Jahre her, dass der NSU aufgeflogen ist. Viele Linke haben danach Selbstkritik geübt und ihr Versagen offen kommuniziert. Die neonazistischen Morde wurden entweder einfach nicht wahrgenommen oder man hat sich auf Behördenäußerungen verlassen, dass das irgendwelche Morde unter Migranten seien. Nach dem Mord in Kassel gab es sogar einen Trauermarsch von Migrant*innen, die eine rechte Mordserie befürchteten. Ihre Ängste kamen bei der deutschen Linken nicht an. Weil deutsche Linke nicht bei dem Trauermarsch waren. Nun, diesmal haben virtuell viele Menschen gesagt, dass der Brandanschlag in Solingen schlimm ist, haben sich über die Staatsanwaltschaft aufgeregt und Aufklärung gefordert. Das ist gut. Aber physische Präsenz ist auch nicht ganz verkehrt. Viele Menschen sehen nämlich nicht, dass ein Instagram-Trauerposting 500 oder 5000 Likes hat. Und das sind oft die Menschen, für die es am besten wäre zu sehen, dass sie in ihrer Trauer nicht alleine sind und dass ihre Ängste gesehen werden. Also ihr lieben Linken, Antifas, Antiras, usw., “Say their names” ist nicht nur eine Parole für Instagram und lang geplante Gedenkveranstaltungen. Das heißt auch mal spontan umplanen und an einem Samstag nach Solingen fahren und sich an einem bedrückenden Trauermarsch beteiligen.

Gedenken ist auch umkämpft

Es gab bei dem Trauermarsch viele Szenen, die für mich befremdlich waren. Die Masse an bulgarischen und später auch türkischen Fahnen. Streit darum, welche dieser Fahnen vorangehen soll, und der massive Auftritt von Ditib- und AKP-Funktionären. Über den konkreten Ausdruck der Trauer habe ich nicht zu richten. Es war gut wie es war, wenn es für Angehörige und Freunde gut war. Trotzdem muss man die politische Ebene dahinter betrachten. Ditib und Vertreter des türkischen Staats mischen bei dem Gedenken nicht mit, weil sie so gute Menschen sind, sondern weil es auch um knallharte Politik geht. Es gehört zum Konzept der AKP, sich als Schutzpatron türkeistämmiger Menschen zu inszenieren. Sie sind es, die da sind, sie sind es die Rassismus anprangern und bei den Behörden nachfragen. Dabei vermitteln sie aber auch extrem konservative und nationalistische Weltbilder. Weltbilder, die zu anderen Formen von rassistischer Gewalt, wie jüngst den Hetzjagden (Öffnet in neuem Fenster) auf Kurd*innen in Belgien, führen können.

Der Trauermarsch am Samstag wäre der falsche Ort gewesen. Trotzdem bleibt es wichtig, Ditib und AKP wegen ihrer Ideologie zu kritisieren und an einer Gesellschaft zu arbeiten, in der Trauer über Gewalttaten nicht von Nationalist*innen instrumentalisiert werden kann.

Dinge, auf die ich euch noch aufmerksam machen mag:

In Dortmund sind am Mittwoch und Donnerstag zwei Wohnungslose getötet worden. Mittwochabend wurde ein Mann bei einem Polizeieinsatz erschossen. (Öffnet in neuem Fenster) Der Fall sorgt, auch weil es Videos von der Tat gibt, für viel Aufmerksamkeit. Die Gruppe “Schlafen statt Strafen” und der Solikreis Mouhamed veranstalten am Abend eine Kundgebung. (Öffnet in neuem Fenster) Am Donnerstag wurde dann ein 31-jähriger von einer Gruppe Kinder und Jugendlicher getötet. Laut Staatsanwaltschaft (Öffnet in neuem Fenster) kamen die tödlichen Messerstiche von einem 13-jährigen Jungen.

Die Gemeinsamkeit beider Fälle: Es hat Menschen getroffen, die draußen leben. Hätten sie Wohnungen, könnten sie wahrscheinlich noch leben. Dass sie keine Wohnungen hatten, dass es an Angeboten für Menschen in schwierigen Situationen fehlt. Das ist ein Versagen des Staates. Nicht mehr und nicht weniger.

Zum Schluss mag ich euch noch zwei Podcasts empfehlen. Es gab mal wieder ein Chaosradio (Öffnet in neuem Fenster) und da gings um Bezahlkarten. Wer in einer Stunde alles wichtige zum Thema hören mag, ist da richtig aufgehoben.

Christoph Ullrich vom WDR hat sich mit Marco Schild getroffen (Öffnet in neuem Fenster). Der war in der AfD, ist aber mittlerweile raus. Seine Gedanken zum Umgang mit der AfD. “Den gemäßigten die Hände reichen…” finde ich grundfalsch. Aber es ist interessant zu hören, wie er seinen Weg in die Partei und wieder raus beschreibt.

Das war´s für diese Woche.

LG

Sebastian