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Puzzle-Abenteuer: Von Myst über Portal bis Talos Principle

Anfang der 2000er, als ich meine ersten Berichte als Redakteur über Videospiele schrieb, waren Puzzle-Abenteuer kein Thema. Wenn man darüber sprach, ging es meist um Klassiker wie Shanghai, Soko-Ban, um Dr. Mario, Zoo Keeper oder Tetris und all seine Nachfahren, wie z.B. Lumines, Meteos oder Puyo Puyo. Auf dem PC dachte man vielleicht noch an Bridge Builder oder Bejeweled, bevor die als Browsergame gestartete Match-3-Variante die Smartphones eroberte.

Es gab Ausnahmen, wie etwa die kniffligen Schiebe-Aufgaben in Onimusha (2001), die übrigens ein Mastermind aus Japan (Öffnet in neuem Fenster) designt hat: Nobuyuki Yoshigahara. Der studierte Chemiker war in seiner Heimat berühmt als Sammler und Erfinder von Rätselspielen aller Art - er hat sie auch in Zeitschriften veröffentlicht, als Kolumnist thematisiert und wurde 2003 mit dem Sam Loyd Award (Öffnet in neuem Fenster) ausgezeichnet.

In der Regel ging es aber um kleine Spiele, um fallende Klötzchen und passende Teile im Stile der analogen Klassiker Tic-Tac-Toe oder Vier gewinnt. Das waren letztlich digitale Brettspiele, aber keine Spielwelten, die man mitsamt einer Geschichte erkunden konnte. Zwar gab es etwas in der Art schon viel früher, u.a. in Tower of Babel (1989), das auf dem Amiga für futuristischen Rätselspaß sorgte und gleichzeitig als Abenteuer erlebt wurde.

Und natürlich im Grafik-Adventure Myst (1993), das von Jules Vernes' Fantastik (Öffnet in neuem Fenster) inspiriert war und mit seinem außergewöhnlichen Ansatz, der eine fremde Sprache und Kultur mit einbezog, eine zunächst erfolgreiche Reihe begründete. Allerdings stagnierte dieses Puzzle-Abenteuer über die Jahre und war recht statisch designt. Ubisoft war mit der Egosicht sowie mehr Interaktion in Myst IV (2004) und Myst V (2005) auf dem richtigen Weg, aber eine neue Faszination wollte sich nicht einstellen.

Während Shooter und Rollenspiele in diesen Jahren triumphierten, schrumpften Rätsel zu kleinen Auflockerungen, meist auf dem Niveau von ein paar verschobenen Kisten oder aktivierten Schaltern. Selbst die Öffnung einer Tür mit Schlüssel galt schon als Puzzle. Doch das sollte sich nur wenige Jahre später ändern, als sich das totgeglaubte Genre plötzlich neben dem Shooter auf die Bühne der großen Abenteuer teleportierte - und dann noch mit diesem wunderbaren Song "Still Alive (Öffnet in neuem Fenster)".

https://youtu.be/Y6ljFaKRTrI (Öffnet in neuem Fenster)

Valve katapultierte die Puzzle-Abenteuer mit Portal (2007) nicht nur in die dritte Dimension, sondern demonstrierte, dass es auch auf technisch höchstem Niveau kreativere Herausforderungen als Headshots und Bosse geben kann. Dass es im Universum von Half-Life spielte, dabei köstlichen schwarzen Humor sowie erzählerische Finesse in Form der künstlichen Intelligenz GLaDOS bewies, sorgte für zusätzliches Prestige. Und ihre erste Zeile aus dem oben erwähnten Lied des Abspanns war fast schon prophetisch: This was a triumph...

Denn das nur fünf Stunden kurze Portal mauserte sich zum Star der so genannten Orange Box, in der sich immerhin Half-Life 2 samt Erweiterungen und Team Fortress 2 befanden. Die Sammlung war wirtschaftlich erfolgreich, aber vor allem Portal wurde vielerorts als Spiel des Jahres gefeiert - ich hab es damals inhaliert. Parallel sorgten Titel wie Professor Layton (2007), Puzzle Quest (2007) sowie Braid (2008) für kreative Impulse, auch wenn sie sich eher dem Adventure, dem Rollenspiel sowie dem Jump'n Run näherten.

In diesen Jahren hatte ich jedenfalls das gute Gefühl, dass Rätselspaß in allen Facetten floriert, dass man sich auch in kleinen Spielen an eine Story herantraut und dass Portal die Sehnsucht nach mehr sowie umfangreicheren Spielen dieser Art wecken konnte. Natürlich war sich Valve dessen bewusst und servierte mit Portal 2 (2011) ein in nahezu jeder Hinsicht verbessertes Abenteuer, das mit vielfältigeren Herausforderungen und tollen Ideen wie dem Repulsion Gel auftrumpfte und sogar kooperativ spielbar war - bis heute sind mir die Level mit meiner Tochter in allerbester Erinnerung.

https://youtu.be/A88YiZdXugA (Öffnet in neuem Fenster)


Spätestens jetzt bildeten Puzzle und Abenteuer nicht nur eine zweite epische Symbiose nach Myst, sondern eine technisch gleichwertige Alternative zu Shootern oder Rollenspielen. Das sagt sich natürlich leichter als es entwickelt ist. Es folgten also weiter kleine und rein logische Puzzler wie SpaceChem (2012), kreative haptische Ansätze wie in The Room (2012), die sich auf das ertastende Knobeln an Kisten und Apparaten fokussierten, oder ästhetische Knobel-Schmuckstücke wie Monument Valley (2014).

Direkt inspiriert von Portal war u.a. Quantum Conundrum (2012), das immerhin von derselben Lead-Designerin stammte, was am Humor sowie Szenario sofort erkennbar war. Inhaltlich nur etwas entfernter knobelte man auch in Antichamber (2013) oder ChromaGun (2016). Sie alle haben auf ihre Art gut bis sehr gut unterhalten. Aber GLaDOS war bereits Kult und so einfach ließ sich ein Abenteuer dieser Qualität und Wirkung nicht nachahmen. Doch schon bald wagten sich Entwickler an größere und konzeptionell eigenständigere Welten.

Hier spürte man etwas mehr Distanz zum Vorbild von Valve, denn es ging weniger lustig und actionreich zu, dafür philosophischer und Gehirn verzwirbelnder in offener Umgebung. Zum einen in The Talos Principle (2014) von Croteam, das auch deshalb bemerkenswert ist, weil es quasi aus der Arbeit an dem Shooter Serious Sam 4 entstanden ist, in dem es einige Rätsel geben sollte. Die wurden allerdings so komplex, dass man sich dachte, ein eigenes Spiel samt einer Story über Transhumanismus daraus zu machen. Und die hatte es in sich.

https://youtu.be/m8oxVPeTUnU (Öffnet in neuem Fenster)

Das erzählerisch und spielerisch anspruchsvolle Experiment wurde ein Erfolg und erhielt weltweit Auszeichnungen. Auch aufgrund der Geschichte rund um künstliche Intelligenz, die das eigene Handeln kommentierte und zum Stellung beziehen aufforderte - man musste mitdenken. In eine ähnliche Kerbe schlug The Witness (2016) von Jonathan Blow (Braid), das auf einer Insel noch mehr Erkundungsflair bot, aber sich wie ein Denksportmarathon an hunderten Stationen anfühlen konnte, dem die Symbiose aus Knobelei und Story, aus atmosphärischer Immersion oder philosophischem Mitdenken, nicht so gut gelang wie Portal oder Talos. Trotzdem kann ich diese komplexe Hommage an Myst empfehlen.

https://youtu.be/9ytwNUMdbcE (Öffnet in neuem Fenster)

Apropos: Die neue Welle an Puzzle-Abenteuern hat auch dazu beigetragen, dass die Tradition von Myst endlich unterhaltsam von Cyan fortgeführt wurde. Im geistigen Nachfolger Obduction (2016) erkundet man mit Twilight-Zone-Flair eine rätselhaft verlassene Kleinstadt, experimentiert mit Maschinen, Konstrukten und Lasern, während sich eine surreale Story entfaltet. Es gibt weniger Knobelei als in Talos oder The Witness, aber ihr Anspruch und ihre Vielfalt nehmen bis ins Finale zu.

https://youtu.be/2wCPOTK587o (Öffnet in neuem Fenster)

Eine ähnliche Adventure-Harmonie gelingt übrigens The Spectrum Retreat (2018), in dem man ein labyrinthisches Hotel mit viel Logik und Kombinatorik, aber auch einem mulmigem Gefühl durchstöbert, fast à la Shining.

https://youtu.be/tW7HN9Pd9nU (Öffnet in neuem Fenster)

Last but not least weitere Empfehlungen, die zeigen, wie vielfältig sich Spiele dieser Art entwickelt haben. Wer auf eine markante Ästhetik wert legt, abstrakte Architektur mag und Manipulation im Raum nicht scheut, sollte sich von Manifold Garden (2019) den Kopf verdrehen lassen.

https://youtu.be/vLt4ZXcDdIQ (Öffnet in neuem Fenster)

Ein kartentaktisches Abenteuer mit Horrorflair in einer Rätselhütte inszeniert Inscryption (2021), das damals auf Platz 8 meiner Spiele des Jahres (Öffnet in neuem Fenster) landete. Im selben Jahr habe ich Bonfire Peaks (Öffnet in neuem Fenster) besprochen, bei dem es lediglich darum geht, eine Kiste zu verbrennen - allerdings muss man alles andere clever verschieben, wo wir wiederum in der Knobelsphäre des oben erwähnten Nobuyuki Yoshigahara sind, der Brettspiele wie Rush Hour designt hat.

https://youtu.be/t0v6kslHUfE (Öffnet in neuem Fenster)

Nicht zu vergessen Dungeons of Dreadrock (Öffnet in neuem Fenster), das für mich zu den kreativen Überraschungen des Jahres 2022 gehörte und mit seiner coolen Knobelei in Katakomben bewies, dass es auch auf iOS und Android längst mehr als Bejeweled & Co gibt. Wie es entstanden ist, hat Christoph Minnameier damals im Podcast (Öffnet in neuem Fenster) erläutert; mittlerweile ist es auch auf Switch erhältlich.

https://youtu.be/9HmFykKLdqQ (Öffnet in neuem Fenster)

Und kürzlich habe ich mit Cocoon (Öffnet in neuem Fenster) (2023) und Chants of Sennarr (Öffnet in neuem Fenster) (2023) zwei überaus kreative Puzzle-Adventures rezensiert, wobei man in Ersterem mit Kugeln in einer insektoiden SciFi-Welt knobelt und in Letzterem fremde Sprachen anhand von Zeichen entschlüsselt.

Aktuell sitze ich an der Rezension von The Talos Principle 2, das am 2. November 2023 für PC, PS5 und XBS erschienen ist. Es greift übrigens auch Ideen von The Witness auf und hat einige Überraschungen zu bieten. Jetzt müsste ich nur noch in diesem verflixten letzten Drittel weiter kommen. Aber ich weigere mich einfach, nach Lösungen zu suchen.

Kategorie Erkundung

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