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Es ist ein Skandal, dass die Neonazipartei „Der III. Weg“ ihre Wahlplakaten mit dem Mordaufruf „Hängt die Grünen!“ in Sachsen weiterhin aufhängen darf. Menschen, die in Ostdeutschland wohnen und nicht weiß sind, dürften allerdings nicht überrascht sein. Wahlkampfphasen in Ostdeutschland sind Zeiten, in denen menschenfeindliche Aggression eine neue Qualität bekommt. Dass dieses Jahr ein Mordaufruf von rechter Seite als „Meinungsfreiheit“ geschützt werden soll, zeichnet ein klares Bild über das Demokratieproblem in Sachsen.

Ich wohne in Leipzig. Ich zog hierhin, weil ich mich verliebt habe. Die Person, mit der ich zusammen bin, lernte ich im Sommer 2018 kennen – über Twitter. Ungefähr zu der Zeit der rassistischen Jagden in Chemnitz also. In dem Sommer reisten wir viel im Umland von Leipzig. Wir waren frisch verliebt und wollten es uns gut gehen lassen, wir übernachteten auf Campingplätzen, in Wäldern, in Pensionen… Da lebte ich noch nicht in Leipzig, sondern in Berlin und davor circa sieben Jahre in Köln. Fremdsein war ich zwar aufgrund meiner Biografie als Kurdin und Alevitin, die in der Türkei geboren und aufgewachsen ist, gewöhnt. Aber eine solche Ausnahme zu sein wie in Sachsen unterwegs, hätte ich auch nicht erwartet. Im Umland auf unseren Reisen bin ich immer ein schwarzhaariges Einhorn im sächsischen Walde, ich fühle mich nie ganz sicher, habe ständig Angst und muss mich von der Reise erholen. Das ist die sächsische Realität für BIPOC, also jene Menschen, die nicht weiß sind.

Zu dem Gefühl der Einsamkeit und ständiger Gefahr kamen 2019 die Wahlkämpfe zu. Während der Europa- und Sachsenwahlen hingen in ländlichen Gebieten Sachsens, durch die wir wanderten, so viele AfD- und NPD-Plakate, dass ich mich selbst über die CDU-Plakate fast schon gefreut habe. Die Selbstverständlichkeit, mit der Plakaten faschistischer Parteien aufgehängt und in Ruhe gelassen werden, ist vor allem eine Machtdemonstration von White Supremacy und vermittelt Menschen wie mir die Botschaft, dass sie weder erwünscht noch in Sicherheit sind. Dabei handelt es sich um Drohungen gegen die körperliche und seelische Unversehrtheit betroffener Menschen, selbst wenn sie keine Botschaften mit Gewaltaufrufen o.ä. vermitteln. Faschismus ist nämlich nur durch Gewalt durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.

Wir befinden uns heute wieder in einer Wahlkampfphase, diesmal für die Bundestagswahl 2021. In einer Zeit, in der die Grenzen des Sag- und Machbaren in die rechte Richtung mit einer schwindelnden Geschwindigkeit erweitert werden und die gesamte Gesellschaft von einem Rechtsruck betroffen ist, war es zu erwarten, dass sich diese Realität auch auf Plakaten politischer Parteien abbildet. Genauso kam es auch, und zwar in Begleitung einer juristischen Shitshow. Am ersten September-Wochenende wurden in Sachsen und Bayern Wahlplakate der neonazistischen Partei „Der III. Weg“ entdeckt, auf denen der Mordaufruf „Hängt die Grünen!“ zu lesen war. Die bayerische Polizei ergriff Eigeninitiative, entfernte die Plakate eigenhändig und holte die Bestätigung der Staatsanwaltschaft erst nach.

In Sachsen allerdings durften sie zuerst einmal nicht entfernt werden, obwohl Beschwerden und Anzeigen, u.a. durch Die Grünen, eingingen. Eine Sprecherin der Zwickauer Staatsanwaltschaft sagte dem Tagesspiegel (Öffnet in neuem Fenster), dass die Behörde keine strafrechtliche Relevanz des Slogans feststellen könne, da man nicht wisse, „wer konkret angesprochen wird“. Es könne sich sowohl um Grüne Politiker*innen als auch um Wähler*innen handeln. 🤡

Außerdem sei keine konkrete Bedrohungslage ausgemacht worden, argumentierte die Zwickauer Staatsanwaltschaft, dabei soll ein Plakat vor Ort direkt vor dem Wahlkreisbüro der Grünen hängen – wie eine Zielmarkierung. Erst durch die Anweisung der Dresdner Generalstaatsanwaltschaft am 9. September musste Zwickau ermitteln und anordnen, dass die Plakate innerhalb drei Tagen entfernt werden müssen.

Das Verwaltungsgericht Chemnitz entschied allerdings nach einem Eilantrag der Neonazipartei, dass die Plakate doch nicht entfernt werden dürften. Begründet wurde das Vorgehen mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Diese ganze Shitshow muss man sich erstmal über die Zunge zergehen lassen. In was für einer Hölle leben wir eigentlich, wenn selbst die bayerische Polizei in dem Fall demokratischer handelt als die Sächsische? In was für ein Loch leben wir, wenn das Wort „Pimmel“ für eine Hausdurchsuchung reicht, der Mordaufruf einer bekennenden Neonazipartei aber von der Meinungsfreiheit geschützt wird? In Zeiten wie dieser wird noch einmal deutlich, wie sehr andere Wahlplakate wie „Nazis töten“ recht haben – Nazis töten, und ihre Mordphantasien werden staatlich geschützt.

https://twitter.com/GildaSahebi/status/1437875602413993985 (Öffnet in neuem Fenster)

Die Kolumne des Monats schrieb @teacherofcolor__ (Öffnet in neuem Fenster) über Schule und Rassismus. teacherofcolor__ betreut den gleichnamigen Instagram-Account, dem ihr unbedingt folgen solltet. Der 20. September ist Weltkindertag. In Deutschland leben aktuell 2,8 Millionen Kinder in Armut, die Corona-Pandemie hat die Lage womöglich verschlechtert. Außerdem werden Kinder in der Schule und Kita Rassismus ausgesetzt – das wurde mehrfach wissenschaftlich belegt und auch in den Tausenden persönlichen Erfahrungsberichten während der Aktionen wie #schauhin (Öffnet in neuem Fenster) (2013) und #metwo (Öffnet in neuem Fenster) (2018) geschildert. Hört Lehrkräften und Schüler*innen of Color zu.

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Illustrationen und Banner in diesem Newsletter sind von Tabea Ćubelić.

Liebe Grüße
Sibel Schick

Warum Schule revolutioniert werden muss

Von teacherofcolor__

Ich bin eine Frau, eine Woman of Color, ich bin politisch und antirassistisch. Ich bin außerdem eine Lehrerin im deutschen Bildungssystem. Ich positioniere mich klar und spreche Probleme an. Hier liegt der springende Punkt in meiner Geschichte, denn die Institution Schule möchte genau das nicht. Ebenso wenig möchte sie, dass BIPoC (Öffnet in neuem Fenster)-Schüler*innen sich politisieren, Lehrer*innen auf ihr Fehlverhalten ansprechen und sie zur Verantwortung ziehen. Die Schule ist absolut weiß dominiert und BIPoC haben hier weder als Lehrer*innen noch als Schüler*innen einen sicheren Platz. Außer sie verharren in der Anpassung und existieren als Token (Öffnet in neuem Fenster).

Lange habe auch ich geschwiegen und meine Wut in mir festgehalten. Ich habe viele Gespräche mit anderen BIPoC-Lehrer*innen geführt, viel über mich und meine eigene Positionierung reflektiert, bis ich Schritt für Schritt den Mut gefunden habe, das repressive System als solches zu benennen.

Es gibt unzählige unerzählte Geschichten, weil gerade Women of Color besonders viel Angst vor real existierenden Maßregelungen haben. Ich beginne trotzdem damit, diese Geschichte zu erzählen, denn ich wünsche mir eine schrittweise Revolution für die Institution Schule. Für die vielen zukünftigen Schüler*innen, die noch durch dieses System müssen.

Schaut man von außen auf die Schule, sind Begriffe wie „Diversity“, „Vielfalt“, „Interkulturalität“ präsent und suggerieren eine Sensibilität der Institution. Allerdings geht es hier weniger um real existierende Menschen als Konzepte. In den relevanten Positionen und Klassenräumen befinden sich trotzdem meist weiße Menschen, die ihre Privilegien nicht reflektieren. Ein paar Beispiele: Viele machen sich über Gendern lustig, sprechen abwertend über trans oder nicht-binär Menschen. Sie werfen mit anti-muslimischen Aussagen um sich, verwenden Materialien, die Rassismus reproduzieren – das N-Wort ist immer noch Alltag in Unterrichtsmaterialien. „Antirassismus“ steht selbstverständlich nicht auf dem Plan, auch nicht „Empowerment“. Menschen, die strukturellen Rassismus erkennen, sich politisieren und selbst ermächtigt auftreten, stellen die Strukturen dieser Institution in Frage. Somit erfahren empowerte Schüler*innen zahlreiche Repressionen, indem sie bei politischen Handlungen jedes Mal ein Gespräch mit Schulleitungen führen müssen, ihnen ein Demokratieverständnis abgesprochen wird, Projekte und Aktivismus blockiert und Räume verwehrt werden – schlechtere Noten sind hier nur die Spitze dessen, was weißen Lehrer*innen und Schulleitungen einfällt.

Auf der anderen Seite gibt es diejenigen weißen Lehrer*innen, die sich selbst als kritisch betiteln und somit gleich den Bereich „Diversity“ an sich reißen, Arbeitskreise bilden und Buttons mit Pro-LGBTQIA+ und antirassistischen Slogans produzieren lassen, die das eigentliche Problem verschleiern. Auch diese Lehrer*innen bemerken nicht, dass sie damit Betroffenen den Raum wegnehmen und dass Allyship und Solidarität so nicht funktionieren. Kommt es darauf an, BIPoC-Schüler*innen und Lehrer*innen tatsächlich zu unterstützen und auch mal den eigenen Kopf hinzuhalten, sind diese Lehrer*innen plötzlich nicht mehr greifbar.

Werde ich von Außenstehenden gefragt, warum ich an meiner Schule denn nicht die Beauftragte für „Diversity“ sei, kann ich nur noch milde lächeln. Zu oft wurde mir meine Expertise abgesprochen, wurde ich mundtot gemacht und in meinen Vorhaben blockiert. Dabei muss es doch darum gehen, dass Stimmen gehört und Positionen geschaffen werden. Räume müssen geöffnet und Ressourcen müssen geteilt werden. Es muss darum gehen, weiße Dominanz zu benennen und dann aufzubrechen – für BIPoC-Schüler*innen und -Lehrer*innen, die jeden Tag dieser Gewalt ausgesetzt sind.

Ich möchte nicht mehr, dass die Stimmen meiner BIPoC-Schüler*innen nicht gehört werden, dass ihnen bereits in der Schule Chancen verwehrt werden, dass ihre Lebensrealitäten nicht anerkannt werden. Ich wünsche mir, dass Schule von den Menschen aus gedacht wird, die dieses System auch betrifft, und das sind an allererster Stelle die Schüler*innen. Ich wünsche mir, dass nicht alle zur selben Zeit dasselbe lernen müssen, dass Schüler*innen mitgestalten und entscheiden, was sie lernen möchten, wofür sie sich gerade interessieren und so oft sie möchten, ihre Meinung ändern und darüber sprechen können. Ich wünsche mir, dass sie sich in der Schule ohne Angst bewegen, dass ihnen mit Empathie begegnet wird, dass sie von Menschen umgeben sind, für die Antidiskriminierung nicht nur ein Schlagwort ist. Ich wünsche mir, dass diese Schüler*innen von multiprofessionellen Teams begleitet werden, die ihre unterschiedlichen Lebensrealitäten verstehen. Ich möchte wirklich wissen, was in jungen Menschen vorgeht und sehen, wie sie wachsen und handelnd Zukunft gestalten. Ich wünsche mir Schule als einen Raum auf Augenhöhe, in dem tatsächlich diskriminierungskritisch und empowernd gearbeitet wird, in dem „Diversity“ nicht nur ein schön klingendes Label ist. Schule muss revolutioniert werden.

teacherofcolor__ (Öffnet in neuem Fenster) ist seit 10 Jahren im Schuldienst, Teil verschiedener Netzwerke zur diskriminierungskritischen Bildungsarbeit und legt in der Schule den Fokus auf Projekte mit dem Schwerpunkt Antirassismus und Empowerment.

Unbezahlte, unaufgeforderte Werbung. Empfehlungen können sich wiederholen.

„Indem wir über die Tätigkeiten nachdenken, durch die unser Leben reproduziert wird, können wir die Illusion überwinden, die kapitalistische Entwicklung sei in der Lage, die materiellen Bedingungen einer nicht-ausbeuterischen Gesellschaft zu schaffen.“ – Silvia Federici

Kitchen Politics – Queerfeministische Interventionen ist eine Bücherreihe des gleichnamigen Kollektivs. In dem Band „Aufstand aus der Küche“ aus 2012 werden drei Essays der US-amerikanisch-italienischen Autorin Silvia Federici veröffentlicht „zu einem Zeotpunkt, in dem der globale Kapitalismus sich in einer tiefgreifenden Krise befindet“. Edition Assemblage. 128 Seiten, 9,80 Euro.

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„An easy, critical, no-bullshit email magazine on world news.” – Sham Jaff über ihren wöchentlichen Newsletter whlw

what happened last week (Öffnet in neuem Fenster)“ ist ein englischsprachiger Newsletter über unterberichtete Nachrichten primär aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Sham Jaff schickt ihn jeden Montagmorgen an mehr als 14 000 Abonnent*innen. Sham ist kurdische Journalistin und Politikwissenschaftlerin in Berlin. Abonniert ihren Newsletter!

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„Krisen sind für uns nicht einfach eine Leidenszeit – und schon gar nicht nur tote Punkte der Gewinnerwirtschaftung.  Wesentlich ist, dass sie auch Momente des politischen Erwachens und eine Gelegenheit zum gesellschaftlichen Wandel sind.“ – Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser

Das Buch „Feminismus für die 99 Prozent – ein Manifest“ (Matthes & Seitz Berlin) bietet Perspektiven für einen Feminismus, der auch gegen Klassismus und Rassismus ist. 107 Seiten, 10,99 Euro.

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