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Warum ich nicht mehr arbeiten möchte

Ich habe immer gearbeitet. Im Bürobedarfsladen, im Schmuckladen, putzen im Krankenhaus, kellnern im Café, Pakete packen in der Fabrik, Obst und Gemüse im Bioladen einräumen, privilegierte Leute abkassieren. Als Praktikantin in Redaktionen, als Auszubildende in einer Druckerei, als Texterin in Agenturen, als Türsteherin einer Karaoke-Bar. Manchmal hatte ich auch mehrere Jobs gleichzeitig. Seit meinem 16. Lebensjahr arbeite ich. Heute bin ich 43 Jahre alt. Ich arbeite also seit fast 30 Jahren. In dieser Zeit war ich nie länger als ein oder zwei Monate arbeitslos (und auch in diesen Zeiten habe ich gearbeitet). Es gibt nur eine sogenannte “Lücke” in meinem Lebenslauf und das sind die Jahre, in denen ich meine erste Tochter gepflegt habe. 24 Stunden am Tag, 4 ½ Jahre lang. Das sind 1.643 Tage, also 1.643 24-Stunden-Dienste. Wenn wir von einem 8-Stunden-Arbeitstag ausgehen, sind das 4.935 Arbeitstage à 8 Stunden. Wenn wir von einer Vollzeitarbeit mit 8-Stunden-Tagen bei einer 5-Tage-Woche ausgehen, sind das 18 Jahre und etwa 11 Monate Arbeit. Zusammen mit meiner anderen Erwerbsarbeit komme ich so auf 48 Arbeitsjahre. Und so fühle ich mich auch.

An einem Samstag vor ein paar Wochen sagte ich zu meiner zweiten Tochter: “Krass, das ist der erste Tag seit drei Wochen, an dem ich gar nicht arbeite.” “Das nennt man Wochenende, Mama”, antwortete mir meine Tochter. Als freie Journalistin und Autorin mit Kind arbeite ich zwar am Wochenende weniger – aber ich arbeite selten gar nicht. Häufig sind am Wochenende auch Veranstaltungen, bei denen ich arbeite, Lesungen oder Moderationen. Was ich immer mache, ist Care-Arbeit, egal ob Wochenende oder nicht. Bevor ich mich an diesen Text gesetzt habe, habe ich Wäsche aufgehängt und eine zweite Maschine Wäsche angestellt. Wenn ich diesen Text fertig geschrieben haben werde, wird die Maschine piepen und ich die nächste Fuhre Wäsche aufhängen. Wenn ich die Zahlen meiner Care-Arbeit noch mit in diese Arbeitsrechnung aufnehmen würde, würde die Rechnung platzen. Dann dürfte ich offiziell in Rente gehen. Und wisst ihr was? Ich wäre bereit für die Rente. Ich finde, ich habe genug gearbeitet in meinem Leben. Mir reicht es jedenfalls. Die Care-Arbeit, die mache ich weiter. Ich wollte erst schreiben: Die mache ich gern weiter. Aber so ganz stimmt das nicht. Sie muss gemacht werden und ich mache sie für mich und einen geliebten Menschen, also mache ich sie, aber ich bin nicht wild drauf, sie zu machen. Ich mache sie, weil ich sie machen muss. Die andere Arbeit, meine Erwerbsarbeit, mache ich, damit ich unsere Miete zahlen kann und Essen und Kleidung und Schuhe (ich liebe Schuhe) und wenn es gut läuft, einen Urlaub im Jahr. Ich habe das Glück, dass mir meine Erwerbsarbeit Freude macht, meistens. Und dennoch: Ich wäre bereit für die Rente.

Ich erinnere mich nicht, jemals gelangweilt gewesen zu sein in meinem Leben. Außer in Gesprächen mit langweiligen Menschen (von denen es glücklicherweise nicht so viele gibt). Aber mit mir selbst, da war und ist mir nie langweilig. Nicht als Kind, nicht als Jugendliche und heute erst recht nicht (heute haben wir ja das Internet, ein Traum!). Ich habe immer was zu tun und damit meine ich nicht eine dem Kapitalismus dienliche Tätigkeit. Mir reicht Musik hören, ein bisschen im Internet lesen, vielleicht schwimmen gehen, Wolken beobachten. Wirklich, ich brauche nicht viel mehr. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass mir damit irgendwann langweilig werden würde. Ja, vermutlich wäre ich eine Rentnerin, die neben der Rente auch noch ein bisschen was macht. Vielleicht ein paar Instagram-Posts im Monat, oder einen Podcast oder eine moderierte Playlist oder endlich wieder Zeit für diesen Newsletter, den ich dann in Slowletter umbenenne oder noch besser, ich werde endlich entdeckt für eine Radiosendung. Ansonsten könnte ich mir gut vorstellen, wenig zu tun. Was ja trotzdem noch viel wäre: Mich um ein Kind kümmern, die Wäsche, das Essen, die Wohnung, die Umarmungen. Alles, was so anfällt. Aber nicht mehr für die Miete und gegen die Existenzangst ackern, das wär`s. Ich habe wirklich auch so schon genug zu tun.

Genug zu tun, das kennen alle, die Erwerbs- und Care-Arbeit leisten. Und das kennen alle, die ausschließlich Care-Arbeit leisten. Zum Beispiel Menschen, die das im ersten Absatz errechnete Pensum nicht viereinhalb Jahre leisten, sondern vierzig Jahre. Viele pflegende Angehörige tun das. Die meisten Politiker haben von dieser Lebensrealität keine Ahnung; vor allem die Politiker, die zu Arbeit und sogenannter Leistung sprechen. Zum Beispiel Friedrich Merz. In seiner ersten Regierungserklärung sagte er: “Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.” Abgesehen von der Frage, welchen Wohlstand er wohl meint (die meisten pflegenden Personen können von Wohlstand nur träumen, Pflegearbeit ist ein Armutsrisiko), kommt Care- und/oder Pflegearbeit in seinen Leistungsfantasien nicht vor. Während Merz darüber spricht, dass doch alle bittschön mehr arbeiten sollen, übersieht er einiges. Zum Beispiel, wie viel so viele Menschen schon arbeiten. Schlecht bezahlt oder gar nicht bezahlt. Zum Beispiel migrantische Frauen im Niedriglohnsektor. Pflegen, putzen, kassieren – sie halten die Gesellschaft am Laufen und werden dafür am schlechtesten bezahlt. Prozentual arbeiten unter nicht-deutschen Staatsangehörigen fast doppelt so viele Menschen im Niedriglohnsektor. Besonders migrierte und geflüchtete Frauen werden oft in niedrige Entgeltbereiche verdrängt. (Quelle: Netzwerk Integration durch Qualifizierung)

Während die neue Arbeitsministerin Bärbel Bas darüber redet, dass Mütter mehr erwerbsarbeiten sollen, übersieht sie einiges. Zum Beispiel die Zahlen aus dem vierten Gleichstellungsbericht: Addiert man die Zeit für bezahlte Erwerbsarbeit und unbezahlte Sorgearbeit, arbeiten Frauen mehr als Männer. Frauen arbeiten 45,5 Stunden pro Woche, Männer arbeiten 44,3 Stunden pro Woche. Und die Politik überlegt sich nun, wie die Frauen (oft Mütter, weil die häufig in Teilzeit arbeiten und laut Politik mehr arbeiten sollen) noch mehr arbeiten können. Ja, es gibt Mütter, die in die sogenannte Teilzeit-Falle gezwungen werden. Ja, es gibt vor allem pflegende Mütter, für die Erwerbsarbeit Luxus (Öffnet in neuem Fenster) ist. Aber genau diese Lebensrealitäten müssen doch von Politiker*innen gesehen und in ihren politischen Entscheidungen berücksichtigt werden! Das Gegenteil ist der Fall. “Die Arbeitgeber müssen die Arbeitswelt so gestalten, dass mehr Mütter in Vollzeit arbeiten können”, sagte Bärbel Bas. Wie wäre es denn, wenn Politiker*innen die Arbeitswelt so gestalten würden, dass alle passend zu ihrer aktuellen Lebenssituation arbeiten können (oder auch nicht)? Wenn eine alleinerziehende Mutter eines behinderten und pflegebedürftigen Kindes Vollzeit arbeiten gehen würde, weil sie es will und weil sie es könnte. (Weil sie gute und verlässliche Pflege für ihr Kind hätte, eine gute und verlässliche Bildungseinrichtung, inklusive Freizeitangebote für ihr Kind, ein unterstützendes Arbeitsumfeld und eine*n Arbeitgeber*in, der*die sie einstellt.) Es gibt so unglaublich viel zu tun im Bereich Arbeit und Soziales, damit es Arbeitnehmer*innen und Arbeiter*innen besser geht. Der aktuellen Regierung scheint es aber vor allem darum zu gehen, dass es Arbeitgeber*innen besser geht.

Die Überschrift dieses Textes hat zwei Bedeutungen. Ich möchte nicht mehr arbeiten und ich möchte nicht mehr arbeiten. Ich möchte weniger arbeiten. Ich wünsche mir, dass alle, die gern arbeiten wollen, arbeiten können und die, die schon genug gearbeitet haben, Pause machen können, wenn sie wollen. Die Waschmaschine piept.

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