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Protest und Legalität

„Man merkt es den Deutschen wirklich an, dass sie Tätervolk sind“, sagte mir letztens eine Freundin. Es ging um den Umgang des SWR mit der Journalistin Melina Borčak (Öffnet in neuem Fenster). Sie hatte eine Podcastfolge des SWR kritisiert (Öffnet in neuem Fenster), in der die Genozidleugnung an Bosniak*innen durch eine Serbin im Interview von der Moderatorin nicht als solche eingeordnet wird. Nach monatelangen öffentlichen Auseinandersetzungen lud SWR Borčak auf ein Gespräch ein, das ausgestrahlt wurde. In diesem Gespräch mobben zwei weiße SWR-Journalistinnen Borčak fast zwei Stunden lang. Alleine das Gespräch zu hören war unbeschreiblich schwierig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für Melina Borčak sein muss, da zu sitzen und das direkte Ziel dieser Angriffe zu sein. Einfach furchtbar.

Was meinte meine Freundin mit ihrer Aussage? Sie meinte, dass sich Deutsche nicht in die Opfer hineinversetzen können, weil sie historisch Täter*innen sind – eine Rolle, die nicht aufgearbeitet wurde. Die fehlende Aufarbeitung verhindert, dass diese Täter*innenrolle abgelegt werden kann. So entstehen Kontinuitäten. Damit meint sie natürlich die Mehrheitsdeutsche und nicht Schwarze, jüdische, muslimische, behinderte, chronisch kranke, trans oder anderweitig marginalisierte Deutsche. Sie meint also die Dominanzgesellschaft und markiert damit eine Machtstellung.

Vergangene Woche veröffentlichte Der Spiegel die Ergebnisse einer Studie (Öffnet in neuem Fenster), laut der Deutsche die Proteste der Klimabewegung mehrheitlich ablehnten. „Dies ist umso erstaunlicher, weil gleichzeitig viele Bürgerinnen und Bürger die Ziele von Klimaaktivisten durchaus teilen“, so das Magazin. Demnach gehen die Proteste der Klimabewegung 86 Prozent der Bevölkerung zu weit :) Außerdem findet 80 Prozent der Befragten Protestformen, die „in ihrer Form gegen Gesetze verstoßen“, nicht gut :)) 78 Prozent fordert härtere Strafen für Aktivist*innen :))) während 53 Prozent die Meinung vertritt, dass die Bundesregierung nicht genug gegen die Klimakrise leistet :))))

Was hier zur Erscheinung kommt sind autoritäre Verhältnisse der Gesellschaft. Ein Vertrauen in die Gesetzlichkeit. Eine ganz bestimmte Art von Unantastbarkeit.

„Law is not synonymous with justice; what's ‚legal‘ is not always just. Throughout history legality does not always make room for marginalized, powerless people“, schreibt der US-amerikanische Journalist Jose Antonio Vargas 2015 auf Facebook. Er kam als Kind in die USA und musste erst im 16. Lebensjahr herausfinden, dass er „undocumented“ sei – ein illegalisierter Status. In seinem Buch „Dear America“ schreibt er: „To pass as an American, I always had to question the law. Not just break it, not just circumvent it, but question it. I had to interrogate how laws are created, how illegality must be seen through the prism of who is defining what is legal for whom. I had to realize that throughout American history, legality has forever been a construct of power.“

Das gilt auch für Deutschland: Das, was als Recht und Unrecht definiert wird, schützt vor allem Macht und Dominanz. Jose Antonio Vargas erinnert: Shoa war legal. Legalität ist kein logisches Merkmal für Moral und Gerechtigkeit. Der beste Beweis dafür ist, dass fast alles, was zur heutigen Klimakrise führte, legale Aktivitäten sind. Es ist legal, dass reiche Länder bis zum Erbrechen konsumieren – auf Kosten jener Länder, in denen als Folge der von uns verursachten Klimakatastrophe ein menschenwürdiges Leben heute schon nicht möglich ist. Das Problem seien aber die Proteste gegen diese Verbrechen? Diese Perspektive ist kaum an Zynismus zu überbieten.

Es muss uns klar werden, dass alleine die Tatsache, dass gewisse Protestformen gegen die Klimakrise illegal sein sollen, die Legitimität ebenjener Proteste nicht ungültig macht. Was als legitim und illegitim gilt, wird permanent ausgehandelt. Gesetze, Gesellschaften, Menschen ändern sich – das müssen sie.

Auch die Saure Kolumne handelt von diesem Thema, geschrieben hat die Autorin Jonë Zhitia: Heute wird Martin Luther King Jr. als Vergleich zu heutigen Protesten herangezogen und als die Verkörperung friedlichen Protests behandelt. Zu seiner Zeit wurde er allerdings enormen rassistischen Angriffen ausgesetzt, seine Protestformen wurden flächendeckend abgelehnt und schließlich wurde er ermordet. Aus heutiger Sicht unverständlich, oder? Nur wenn wir den identischen Fehler nicht ständig wiederholt hätten.

Mit lieben Grüßen
Sibel Schick

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Von Jonë Zhitia

Gewalt ist keine Lösung, bringt man Kindern in Deutschland bereits in der Kita oder im Kindergarten bei. Dabei lernen gerade Kinder sehr früh: Was als Gewalt gilt, hat oft weniger damit zu tun, was getan wird, sondern viel mehr damit, wer es tut. Studien aus den USA ergaben, dass wir Gewalt weniger ablehnen, wenn wir uns mit denen, die sie verüben, identifizieren können. (Öffnet in neuem Fenster) Je mehr der Gewalttätige unseren eigenen Vorstellungen entspricht, desto mehr können wir verzeihen. Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass Deutsche weißen Männern beim Tatort oder bei SoKo Köln gerne dabei zusehen, wie sie „Verbrecher“ verprügeln, aber kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehen, wenn bei einem linken Protest eine Mülltonne angezündet wird. Die Bewertung von Gewalt im gesellschaftlichen Diskurs scheint wenig mit ihrem realen Ausmaß zu tun zu haben. Bei gewaltvollen Protesten wird gerne Martin Luther King Jr. als Gegenbeispiel heran gezogen. King prägte das 20. Jahrhundert in den USA wie kaum ein anderer. Die von ihm angeführten Protesten bestanden oft aus Sitzblockaden und anderen friedlichen Methoden zivilen Ungehorsams. Das ihm aber mit massiver Brutalität, von Polizei und Zivilbevölkerung, begegnet wurde, wird dabei gerne ausgeblendet. Auch King wurde seinerzeit als Extremist gekennzeichnet. Auch ihm wurde vorgeworfen, seine Aktionen würden mehr für Spaltung sorgen, als sein Anliegen voranbringen. Weniger als ein Viertel der weißen Bevölkerung in den USA befürwortete Kings Verhalten damals. Parallelen zu diesen Mechanismen sehen wir auch in Deutschland. Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg wies darauf hin, dass Gewalt heute bereits subjektiv empfunden wird, was früher noch keine Gewalt war. Die Polizei würde einen inflationären Gewaltbegriff benutzen, bei dem es weg von der realen physischen Gewalt und hin zur sozialen Anerkennung geht. Nur bei Gewalt, die gegen sie selbst gerichtet ist, natürlich. Das beschreibt das Kernproblem am Satz „Gewalt ist keine Lösung“ im politischen Kontext ganz gut. Es geht nicht um die realen Taten, sondern um Deutungshoheit. Politischer Protest vor allem  migrantisierter Aktivist*innen und/oder Antifaschist*innen wird hier pauschal Gewalt unterstellt. Besonders deutlich wird das im Anbetracht dessen, dass der sächsische Verfassungsschutz das #wirsindmehr-Konzert in Chemnitz als „linksextremistisch“ einstufte. Grund seien Parolen wie „Nazis raus!“ gewesen. Diese Beispiele zeigen, dass es bei der Warnung vor vermeintlicher Gewalt nicht um ihre Prävention oder gar den Schutz der Demokratie geht. Viel mehr hat sie die Zielsetzung linke Denk- und Handlungsweisen insgesamt zu denunzieren und Bestrebungen marginalisierter Gruppen gegen Unterdrückung politisch zu delegitimieren. Es ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die sagt: „Es ist schlimm, dass marginalisierte Menschen ermordet werden, aber die Sachbeschädigung muss aufhören“ anstatt: „Es ist schlimm, dass es Sachbeschädigung gibt, aber dass marginalisierte Menschen ermordet werden, muss aufhören.“

Jonë Zhitia ist freie Autorin und Mitbegründerin des feministischen & nachhaltigen Online-Magazin @ekologiskamag (Öffnet in neuem Fenster). Sie studiert, schreibt und lebt in Leipzig, manchmal moderiert sie auch oder gibt Seminare zu Antirassismus und Feminismus um die Miete zu zahlen. Auf Instagram postet sie unter @jonazhitia (Öffnet in neuem Fenster)

Klima und Leipzig – auf der Klima-Themenseite (Öffnet in neuem Fenster) behandeln kreuzer-Kolleg*innen Themen wie Stadtplanung, Verkehr, Gesundheit, Stadtgrün und Wasser.

„Twitter droht der Rechtsruck. Muss man bleiben, um die Plattform nicht den Rechten zu überlassen? Mitnichten“, schreibt Simone Dede Ayivi in ihrer Kolumne (Öffnet in neuem Fenster) über Twitter nach der Übernahme von Elon Musk.

In diesem Blog „El Oso“ schreibt ein Freund über sein Deutschland als Kurde – die Aufarbeitung der Behördenschikane und Othering im Alltag durch die Mehrheitsgesellschaft. In diesem zweiten Text (Öffnet in neuem Fenster) geht es um Erfahrungen in Kettershausen, die mich teilweise wütend und traurig machten. Seine Sprache ist bildstark und poetisch. Am liebsten abonniert ihr seinen Blog gleich.

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