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Nachwort für “Haus Feuer Körper” von Warsan Shire

Anmerkung:
Hinweis zur Veröffentlichung dieses Textes auf Steady. Er erschien zuerst in der folgenden Publikation:
Haus Feuer Körper. Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head (Zweisprachige Ausgabe) von Warsan Shire. Aus dem Englischen von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning und Hans Jürgen Balmes (Öffnet in neuem Fenster). SDO.

Eine Melodie für den Schmerz                                                                                  

Mein Kopf ist voll und leer, beides zugleich, es ist erstaunlich. Ich freue mich auf Frühling, und: Ein weinender Vater, wehrpflichtig, verabschiedet sich von seiner kleinen Tochter. Mein jüngster Sohn hatte gerade sein erstes Probetraining in einem Basketball-Verein, und: Eine mutige Frau, Zivilistin, beschimpft einen schwer bewaffneten Soldaten. Es ist auf den Tag genau ein Jahr her, seit mein Debütroman veröffentlicht wurde, und: Tausende demonstrieren auf der Straße gegen ihren autoritären Präsidenten. Ich versuche diesen Text zu schreiben, und: Ich versuche Worte für einen unbestimmten Schmerz zu finden. Mir fallen hin und wieder Fetzen ein, aber nichts von Bestand.

Und folgendes Zitat kommt mir in den Sinn:

 

later that night                                                             später in der nacht
i held an atlas in my lap                                             hielt ich einen atlas in meinem schoß
ran my fingers across the whole world                 fuhr mit den fingern über die ganze welt
and whispered                                                             und flüsterte
where does it hurt?                                                    wo tut es weh?

it answered                                                                  die antwort:
everywhere                                                                  überall
everywhere                                                                  überall
everywhere                                                                  überall
                                                                                        (meine Übersetzung)

Diese Zeilen entstammen dem allerersten Gedicht, das ich von Warsan Shire gelesen habe: „What They Did Yesterday Afternoon“ („Was sie gestern Nachmittag getan haben“). Tatsächlich wurde es anlässlich eines anderen Krieges geschrieben; andere Tränen, in einer anderen Zeit. Heute lese ich die Zeilen und denke, sie haben an Aktualität nichts verloren.

Immer wieder, wenn schreckliche Ereignisse die Nachrichten beherrschen, beispielsweise nach einem Bombenattentat oder einem terroristischen Anschlag, kursieren in den sozialen Medien Gedichte von Shire. „What They Did Yesterday Afternoon“ las ich erstmals 2015, nach dem tödlichen Angriff auf Charlie Hebdo, der Pariser Satirezeitschrift. Ebenfalls in 2015, in einem Aufruf zur Solidarität mit Menschen, die vor dem Krieg in Syrien flüchteten, zitierte der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch:

Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn Zuhause ist das Maul eines Haifischs.
(S.25)

Besonders ergreifend waren diese Worte für viele Menschen, die das weltweit berühmte Foto von Nilüfer Demir gesehen hatten, auf dem der dreijährige Alan Kurdi, bekleidet nur mit einem roten T-Shirt und blauen Shorts, leblos am Strand lag.

Wo tut es weh?

Und vor allem: Wem tut es weh? Vor einiger Zeit wurde ein Schwarzer Mann vor laufender Kamera von einem weißen Polizisten ermordet. Eine Welle der Empörung ging durch die Welt, und für einen vergänglichen Moment standen das Leben, die Perspektiven, die Kämpfe, die Sehnsüchte und die Errungenschaften Schwarzer Menschen im Mittelpunkt. Es war in dieser Zeit, ich nenne sie inzwischen den „Black-Lives-Matter-Sommer“ 2020, da ich erfuhr, dass Warsan Shire bald ihren langersehnten, ersten vollständigen Gedichtband veröffentlichen würde. Es bestehe die Möglichkeit, dass die neue Sammlung in deutscher Übersetzung erscheinen könnte. Ob ich bereit wäre, das Nachwort dafür zu schreiben? Ich habe sofort zugesagt.

Warsan Shire ist Teil einer Generation junger Lyriker*innen, die durch die Veröffentlichung ihrer Gedichte im Internet, vor allem auf Tumblr, bekannt wurden. Dazu gehören unter anderem Vanessa Kisuule, Rupi Kaur, Kate Tempest, Nayyirah Waheed, Brian Bilston, Hera Lindsay Bird und Ysra Daley-Ward. Nachdem sie im Alter von 15 Jahren an ihrem ersten Lyrik-Workshop teilgenommen hatte, wurde Shire von Schriftsteller*innen wie Bernardine Evaristo und Nii-Ayikwei Parkes begleitet und gefördert. Es war Parkes, der Gründer und Herausgeber des unabhängigen Verlags flipped eye publishing, der später ihr erstes Chapbook „Teaching My Mother How to Give Birth“ veröffentlichte. Shire war zu dieser Zeit gerade einmal 23 Jahre alt. Allerdings kennen viele Menschen den Namen Warsan Shire erst seit ihrer Zusammenarbeit mit der Sängerin Beyoncé. Auf „Lemonade“, ein 2016 erschienenes, faszinierendes, visuelles Album in Spielfilmlänge, rezitiert Beyoncé zwischen ihren Liedern Verse von Shire. Binnen wenigen Stunden nach der Veröffentlichung des Albums war das Chapbook ausverkauft und Shire selbst über Nacht zum Star geworden. Doch sie ließ sich nicht davon beirren, sondern widmete sich still und leise der langen, geduldigen Arbeit an ihrem ersten vollständigen Gedichtband.

Der Sommer 2020 gehört, gefühlt, in ein anderes Jahrzehnt. Doch die Gedichte von Warsan Shire sind in ihren schillernden Tönen da. Sie sind da. Und das Warten hat sich gelohnt. In der englischsprachigen Originalausgabe, „Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head“ („Segne die Tochter, die von einer Stimme in ihrem Kopf erzogen wurde“), werden nicht nur weitere Worte für den Schmerz zusammengetragen, sondern sie ergeben in ihrer einzigartigen Komposition eine wunderschöne Melodie: Mal tröstend, mal provokativ, immer schmerzhaft ehrlich. Ich werde niemals müde, die Worte von Warsan Shire wieder und wieder und wieder zu lesen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie anspruchsvoll es sein kann, Gefühle und Eindrücke von einer Sprache in einer anderen zu transportieren. Und da es darüber hinaus um so schwerwiegende Themen geht, wie sie, die Warsan Shire in ihrer Poesie aufgreift, musste ich mich beim Lesen doch fragen, wie es gelingen könnte, ihre so dringliche Botschaft in die deutsche Sprache zu übertragen?

*

„Ich schreibe. Ich schreibe mir, ich schreibe dir. Ich schreibe, um mich zu finden, um zu verstehen, um mein Sein begreifen zu können. Um mich frei zu machen und um mich einzufangen. Ich streife die Oberflächen meiner Erfahrungen und erkenne die Dichtungen meiner Tiefen. Ich schreibe, weil es drängt, weil es mich bestärkt, weil es mich rührt. Ich schreibe und gleite über dem, was mich bestimmt, über die Worte, die meine Seele wählt, über Jahre, über den Verlust, über das Finden und Wahrwerden. Beginnend, schließend, verwundet, wunderbar. Vor zehn, fünf, zwei Jahren. Gestern. Heute. Lebendig und wirklich, vergangen und bestehend. Mir selbst darin zu begegnen. Ich schreibe, um zu sein, um bei mir zu sein. Ich schreibe, um zu sein, um mit dir zu sein.“

(aus: „Die Haut meiner Seele“ von Muna AnNisa Aikins, S.14)

 

So lauten einige Zeilen aus dem ersten Buch einer auf Deutsch schreibende Lyrik- und Prosa-Autorin, die Ähnliches wie Warsan Shire erlebt hat und für ähnliche Erfahrungen nach einer Sprache sucht. Und findet. „Die Haut meiner Seele“ von Muna AnNisa Aikins wurde 2021 für den BücherFrauen-Literaturpreis nominiert. Zusammen mit Mirjam Nuenning, freiberufliche Übersetzerin für englischsprachige afrodiasporische Literatur, und Hans Jürgen Balmes, Lektor für internationale Literatur und Lyrik-Übersetzer, ist ein Team entstanden, das eine langjährige Begeisterung für die Arbeit Warsan Shires besitzt; das die nötige Expertise und Erfahrung zusammenbringt; und das der Herausforderung, die Gedichte Warsan Shires für deutschsprachige Lesenden zugänglich zu machen, mehr als gerecht geworden ist. Denn die Sprache Warsan Shires ist schonungslos:

We’re practising back strokes at the local swimming pool
when I think of Kadija, how her body must’ve felt
as it fell from the twenty-fourth floor.
(S.112)

Diese scheinbar einfachen Zeilen, die so unschuldig beginnen, eröffnen eine gesamte traumatische Erfahrungswelt. Die deutsche Sprache braucht oft mehr Silben, und noch dazu manchmal Artikel, manchmal muss ein grammatikalisches Geschlecht gewählt werden, um denselben Gedanken aus dem Englischen zum Ausdruck zu bringen. Wann kann ein Gerundium als deutsches Partizip wiedergegeben werden, um Warsan Shires Englisch treu zu bleiben? Wann klingt das antiquiert? Und die Vergangenheitsformen: Imperfekt oder Perfekt? Warsan Shires knappe, brutale Sprache auf Deutsch zu übertragen, ist eine große Kunst:

Wir üben Rückenschwimmen im nahegelegenen Schwimmbad,
als ich an Kadija denke, wie ihr Körper sich angefühlt haben muss,
als er aus dem vierundzwanzigsten Stock stürzte.
(S.113)

Als ich dieses Gedicht zum ersten Mal las, musste ich sofort an den tragischen, durch kriminelle Fahrlässigkeit verursachten, Großbrand im Londoner Grenfell Tower im Jahr 2017 denken. Unter den 72 Toten befand sich auch die 24-jährige Khadija Saye, eine talentierte und vielversprechende Künstlerin, deren Werke zu dieser Zeit auf der Biennale in Venedig ausgestellt wurden und die kurz vor dem Durchbruch in der Kunstwelt zu stehen schien. Wie genau Khadija Saye starb ist nicht bekannt. Tatsächlich sind aber viele Menschen aus dem brennenden Wohnblock gesprungen. Eine Vorstellung, die mir seit dem Brand nie gänzlich aus dem Kopf gegangen war, und durch Shires Textgeflecht mal anmutig, mal beklemmend sofort wieder in Erinnerung gerufen wurde.

Wie gelingt es Shire so furchtlos zu schreiben? Ein kurzer Blick auf ihre Biografie könnte uns Hinweise auf eine Antwort liefern.

Warsan Shire wurde 1988 in Kenia geboren, als Tochter somalischer Eltern, die vor politischen Repressionen in Somalia geflohen waren. Die Familie ließ sich 1989 in London nieder und bekam noch ein Kind, einen Sohn. Kurz darauf brach in Somalia der Bürgerkrieg aus. Binnen vier Monaten wurden in der Hauptstadt Mogadischu etwa fünfundzwanzig Tausend Menschen getötet, mehr als zwei Millionen wurden obdachlos, und weitere anderthalb Millionen verließen das Land, darunter ein Großteil von Shires Familie. Viele ihrer Texte beruhen auf den Erfahrungen ihrer Verwandtschaft. In knappen Sätzen werden herzzerreißende Ereignisse der nicht allzu fernen Vergangenheit in den Mittelpunkt einer ansonsten recht bequemen Gegenwart gestellt. Es geht um Mord, um Folter, um sexuelle Gewalt, um Kindesmissbrauch.

Stilistisch rufen Shires Gedichte Erinnerungen an somalische Storytelling-Traditionen auf, an die scheinbare leichte Art und Weise wie Frauen sensiblen Geschichten und Anekdoten mit einander austauschen, die ihre Kinder nicht verstehen sollen. Zum Beispiel:

Mutter sagt, in allen Frauen gebe es verschlossene Zimmer.
Manchmal kommen Männer – mit Schlüsseln,
und manchmal kommen Männer – mit Hämmern.
(S.101)

Zeilen, die zu viele Frauen, die einen Krieg überlebt haben, ohne Weiteres verstehen. Frauen wie die Mutter von Shire. „Hooyo“, das Somali Wort für „Mutter“, und kommt in sieben der Gedichte vor, doch nicht nur in diesen Gedichten wird die komplizierte Natur ihrer Mutter-Tochter-Beziehung deutlich. Im Interview erzählt Shire von ihrem Mitleid für ihre Mutter: „I’ve always had [compassion] but it’s the strongest it’s ever been now. Whenever I write about it, I come back to the fact that her childhood was like a horror film.” („Ich hatte es schon immer, aber jetzt ist es so stark wie nie zuvor. Immer, wenn ich darüber schreibe, komme ich darauf zurück, dass ihre Kindheit wie ein Horrorfilm war.“) Ihre Gedichte sind eine Annährung, ein Versuch, trotz aller Widrigkeiten, der eigenen Mutter zu verstehen:

Hooyo, Schutzpatronin von
     meine Kinder haben andere Pässe als ich.
Hooyo, gesegnete Heilige von
     sie viel zu weit weg von Zuhause aufziehen.

Ich erkenne meine eigenen Kinder nicht wieder
     sie sprechen und träumen in der falschen Sprache
     was mich betrifft,
könnten sie ebenso gut die Sprache der Vögel sprechen.

(S.69)

In Gedichten wie „Fotografien von Hooyo“ (S.53), „Buraanbur“ (S.108) und „Barwaaqo“ (S.127) werden diese Bemühungen besonders deutlich, da Shire auf Bilder und Erinnerungen ihrer Mutter zurückgreift, die zum Teil bis in die Kindheit ihrer Mutter zurückreichen. Erinnerungen, die bestimmte Düfte und Melodien zusammen mit Beschreibungen von medizinischen Geräten und Andeutungen von Brutalität verbinden: „Gesegnet sei der Katheterstich der Weiblichkeit.“ (S.109)

Warsan Shire schreibt allgemein viel über spezifische weibliche Erfahrungen. In dieser Sammlung schöpft sie aber auch aus ihren Gesprächen mit männlichen Verwandten, zum Beispiel mit ihrem Onkel. „Cidlada ka atkow, Abti“, sagt sie ihm:

… sei stärker als deine Einsamkeit,
Onkel
– bitter vor Tränen steigt vom qaxwo Dampf, vorsichtig
rollt er Tabak von der Farbe seiner Hände.
Er singt mit. Diesmal allein, immer allein.
(S.21)

Der Titel des Gedichts „My Loneliness is Killing Me” erinnert stark an das Lied “…Baby One More Time” von Britney Spears. In der deutschen Übersetzung ist diese Konnotation nicht mehr da. Vielleicht passt das aber auch gut. Ich weiß nicht, ob Britney Spears die gleiche kulturelle Bedeutung, im deutschsprachigen Kontext hat oder haben kann. Für mich trägt das Gedicht eine Melancholie, die Ende der Neunziger überall in London zu spüren war: Es war die Hymne für jedes Schulmädchen mit gebrochenem Herzen, das davon träumte – das sich danach sehnte - eines Tages etwas Besseres zu werden. Das was auf Deutsch bleibt ist die blanke Wahrheit, ohne Umschweife: „Meine Einsamkeit bringt mich um.“

Das Shire früh Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen musste, beeinflusste ihre Kunst sehr. Nach der Scheidung ihrer Eltern und einer zweijährigen Phase der Obdachlosigkeit, in der Shire und ihr Bruder eine Zeitlang aufhörten, die Schule zu besuchen, heiratete ihre Mutter erneut und bekam drei weitere Kinder. Shire sagte im Interview, dass ihre Mutter sich auf sie als „shift mother“ („Schichtmutter“) verlassen habe. Sie zog ihre Geschwister also auf, kümmerte sich aber auch um die vielen traumatisierten Familienmitglieder, die dem Krieg im Somalia entkommen waren, besuchte die Schule und schrieb nebenbei Gedichte: „If I was gonna write”, sagte Shire im gleichen Interview, „I was gonna have to write in the middle of three screaming children, in the middle of cooking and cleaning and doing my schoolwork“ („Wenn ich schreiben wollte, musste ich inmitten von drei schreienden Kindern schreiben, inmitten von Kochen, Putzen und Schularbeiten“). Darum schrieb sie bei laufendem Radio oder Fernsehen. “These are the places that I write: I write in the cinema, in the loudest coffee shop in the world ... I love when children are screaming, so now that I have kids, it’s really inspiring! The more noise, the better!” - „Das sind die Orte, an denen ich schreibe: Ich schreibe im Kino, im lautesten Coffeeshop der Welt ... Ich liebe es, wenn Kinder schreien, und jetzt, wo ich selbst Kinder habe, ist das wirklich inspirierend! Je mehr Lärm, desto besser!”

Das erklärt vielleicht die Durchlässigkeit der Gedichte für Anspielungen aus der Popkultur. Von „Absolutely Fabulous“, dem Titel einer beliebten britischen Fernsehserie, bis zu „Are you there, God?“, der Hälfte des Titels des Jugendromans von der US-Amerikanischen Autorin Judy Blume „Are You There, God? It’s Me, Margaret“. Dies stellte das Übersetzungsteam vor interessante Herausforderungen. Manchmal wurde die Entscheidung getroffen, das Zitat oder Titel ins Deutsche zu übersetzen. Doch wurde ein Liedtext manchmal auch in der deutschen Übersetzung des Gedichts auf Englisch belassen. Zum Beispiel bei dem Gedicht „Extreme Girlhood“ („Extreme Mädchenzeit“) ist es kaum möglich die Worte “at first I was afraid, I was petrified” zu lesen, ohne sofort Gloria Gaynors Stimme am Anfang des Lieds „I will Survive“ zu hören. Eine Übersetzung dieser Zeile ins Deutsche würde die Dynamik dieses Zitats völlig auflösen.

Aber besonders die Zeilen, die mit Spiritualität angehaucht sind, und auf Somali oder Englisch poetisch klingen, benötigen auf Deutsch einen sorgfältigen Umgang. Die Überschriften „Bless Maymuun’s Mind“, “Bless Our Blue Bodies”, “Bless Your Ugly Daughter” und „Bless the Ghost“ rufen Assoziationen zu religiösen Formeln auf. Auf Deutsch schwingt die Frage, wer genau spricht dieses Segnen aus, mit. Das Übersetzungsteam hat sich nicht auf eine Möglichkeit festgelegt: Die Titel werden mit „Segne Maymuuns Verstand“, „Segne unsere blauen Körper“, aber auch „Gesegnet sei deine hässliche Tochter“ und „Segen dem Gespenst“ übertragen. In Shires Gedichten werden jene Menschen verehrt, die üblicherweise keinerlei gesellschaftliche Anerkennung erhalten. Beim Lesen fühlt es sich zunächst ironisch an, als würde sie sich auch noch über diese Personen lustig machen. Doch die Sprachbilder sind rau, hart, unnachgiebig und alles andere als scherzend. Besonders die Gedichte „Segne die Qumayo“ (S.39) und „Segne die Sharmuto“ (S.93) zwingen den Lesenden genau hinzuschauen, obwohl es bestimmt bequemer wäre, den Blick abzuwenden. Wie Muna AnNisa Aikins sagt: „Warsan schreibt Gedichte, die verkörpern, was Menschen nicht tragen können.“

Sie anzurufen bedeutet den feuchten Atem
im Hintergrund zu hören, der die toten
Kinder Somalias verfolgt, ausgemerzt vom Krieg
und der weiß behandschuhten Hand Europas.
(S.33)

Neulich erfuhr ich, wie frustrierend Warsan Shire es findet, dass Gedichte von ihr meistens nur in einem bestimmten Kontext zitiert werden: „I wrote those words for Black immigrants, and the most I’ve ever seen those words used was when the immigrants and refugees were lighter-skinned with lighter eyes.“ - „Ich habe diese Worte für Schwarze Migrant*innen geschrieben, aber diese Worte werden meistens nur dann verwendet, wenn die Migrant*innen und Geflüchteten eine hellere Haut besaßen und hellere Augen hatten.“

Wo tut es weh?

Mein Kopf ist voll und leer, beides zugleich, daran habe ich mich fast gewöhnt. Es ist wieder Krieg. Und es ist weiterhin Krieg:

Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, es sei denn das Wasser ist sicherer als das Land.
(S.23)

Wie beschämend, dass es diese so deutliche Aussprache überhaupt braucht. Wie erschütternd, dass diese Aussprache immer noch nicht ausreicht. Wie dankbar, ich dennoch bin, dass Warsan Shire schreibt. Und dass sie, im Schreiben, eine Melodie für den Schmerz findet.

 

Sharon Dodua Otoo
24. Februar 2022

Otoo, Sharon Dodua (2022) Nachwort. In: Shire, Warsan - Haus Feuer Körper. Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head (Zweisprachige Ausgabe) Aus dem Englischen von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning und Hans Jürgen Balmes (Öffnet in neuem Fenster) (S.139-148)

Kategorie Essay

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