Zum Hauptinhalt springen

Nachwort für "Im Dunkeln spielen" von Toni Morrison


Anmerkung:
Hinweis zur Veröffentlichung dieses Textes auf Steady. Vielen Dank an den Rowohlt Verlag für die Erlaubnis, meinen Text auch auf dieser Plattform zu veröffentlichen. Er erschien zuerst in der folgenden Publikation:
Im Dunkeln spielen. Weiße Perspektiven und literarische Imagination von Toni Morrison. Aus dem Englischen von Barbara von Bechtolsheim und Helga Pfetsch, überarbeitet und aktualisiert von Mirjam Nuenning. (Öffnet in neuem Fenster) Diese Version des Textes, die sich auf die Recherchen von Tim Brown und Wendy Sutherland bezieht, hat es leider nicht in die erste Auflage der Printpublikation geschafft. Dies wird in zukünftigen Auflagen korrigiert. SDO.



Ich wünsche mir, ich hätte dieses Buch früher gelesen. Ende 2013 sollte ich Im Dunkeln spielen für eine deutschsprachige Online-Zeitschrift rezensieren (mehr dazu später). Weil das Buch aber nicht rechtzeitig bei mir ankam, habe ich diese wegweisende Essaysammlung zunächst im englischen Original gelesen. Playing in the Dark war bereits fast zwanzig Jahre zuvor erschienen, 1992 als kleine Publikation bei Harvard University Press. Warum mir das Buch nicht vorher in die Hände gefallen ist (hin und wieder hatte ich wohl Ausschnitte gelesen), kann ich nicht sagen. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Beloved, in der deutschen Übersetzung Menschenkind, mein absoluter Lieblingsroman ist und dass ich seine Autorin, Toni Morrison, für die begabteste, geistig anspruchsvollste, literarische Persönlichkeit halte, die ich je die Ehre hatte zu lesen. Ihre belletristische Sprache ist poetisch, eindringlich, schonungslos, ihre präzisen Reflektionen über Literatur und Literaturkritik sind eine Offenbarung. Seit ich Playing in the Dark gelesen habe, hat sich mein Blick auch auf deutschsprachige Literatur grundlegend verändert.

Playing in the Dark basiert auf drei Vorlesungen, die Morrison 1990 an der Harvard University hielt und in denen sie die Wirkung Schwarzer Präsenz – oder wie sie es nennt, des „Afrikanismus“ – auf Weißsein und literarische Imagination ausführlich darlegt. Ihre Beispiele stammen aus Schlüsselwerken US-amerikanischer Literatur, darunter: Sapphira and the Slave Girl von Willa Cather (1940), To Have and Have Not von Ernest Hemingway (1937) und Huckleberry Finn von Mark Twain (1884). Deutschsprachige Leser*innen sind vermutlich zumindest mit Huckleberry Finn vertraut. Dieser Roman findet immer wieder spätestens dann Erwähnung, wenn Diskussionen über rassistischen Sprachgebrauch in literarischen Übersetzungen aufgewärmt werden. Morrisons prüfender Blick zielt allerdings ausdrücklich nicht auf ein Urteil darüber ab, ob die Romane an sich rassistisch sind oder nicht. Vielmehr analysiert sie anhand der genannten Werke, wie Weißsein in der US-amerikanischen Literatur überhaupt konstruiert wird. Morrisons Darlegung setzt voraus, dass ihre Leser*innen verstehen, dass „Weißsein“ und „Schwarzsein“ jeweils soziale Konstrukte und keine biologischen Tatsachen sind. Im US-amerikanischen Kontext ergibt diese Annahme Sinn. Morrison konnte dort Anfang der 1990er Jahre an einen Diskurs andocken, der vielen weißen Personen nicht gänzlich fremd war. Race ist eine Vokabel, die im alltäglichen Kontext fällt. Gespräche über race, auch wenn sie nicht leicht sind, werden in Bildungsinstitutionen, in den Medien, in der Verwaltung und Politik offen geführt. Es ist zum Beispiel üblich, von Gefangenen oder Studierenden, Regierungsmitgliedern oder Kleinunternehmer*innen zu berichten und jene Gruppen anhand ihrer race zu analysieren. Um strukturelle Ungleichheiten kenntlich zu machen, gehört die Erhebung solcher Statistiken zu den effektivsten Untersuchungsmethoden.

Die Übersetzung des Wortes race ins Deutsche ist umstritten. Wenn überhaupt, wird es meist als „Rasse“ übersetzt. Ich gehöre zu den Menschen, die diese Übersetzung für unzulänglich halten, da das Wort „Rasse“ im deutschsprachigen Raum seit der Kaiserzeit, verstärkt durch die nationalsozialistische Ideologie, bis heute eine auf das Biologische reduzierte Bedeutung hat. Aus diesem Grund gibt es Bestrebungen, unter anderem von dem Verein Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und der Partei Bündnis 90/Die Grünen, das Wort „Rasse“ im Grundgesetz zu ersetzen, zum Beispiel durch die Formulierung: „rassistische Zuschreibung“. Expert*innen wie Emilia Roig, Cengiz Barskanmaz und Nahed Samour argumentieren dagegen, dass der Rechtsbegriff „Rasse“ ein notwendiges Instrument sei, um Anti-Schwarzen-Rassismus angehen zu können und es daher gilt, sich das Wort als Ausdruck des Widerstands anzueignen. Für die überarbeitete deutsche Version von Playing in the Dark hat die Schwarze deutsche Übersetzerin Mirjam Nuenning race mit Race übertragen. Die Debatte wird allerdings weiterhin rege geführt.

Welche Bedeutung hat Morrisons Analyse im Kontext deutschsprachiger Literatur – unter ganz anderen sprachlichen, historischen und politischen Voraussetzungen als in den Vereinigten Staaten? Morrison selbst schreibt dazu:

Die Vereinigten Staaten haben den Afrikanismus natürlich nicht allein konstruiert. Südamerika, England, Frankreich, Deutschland, Spanien – die Kulturen aller dieser Länder sind daran beteiligt gewesen und haben zu irgendeinem Aspekt eines «erfundenen Afrika» beigetragen. Und keine konnte sich lange einreden, die Kriterien und das Wissen könnten außerhalb der Herrschaftskategorien zum Vorschein kommen. (S. 25, meine Hervorhebung)

Wie intellektuell befreiend wäre es, wenn die im Feuilleton geführten Diskussionen über Race, Literatur und Literaturkritik um folgende Themen erweitert werden könnten: Wie wird unsere literarische Vorstellungskraft von einem „erfundenen Afrika“ beziehungsweise „erfundenen Afrikaner*innen“ beeinflusst? Welche Rolle haben Klassifizierung, Hierarchisierung und gewaltvolle Herrschaft über kolonisierte Menschen bei der Wissensproduktion im Land der Dichter und Denker gespielt?

Ich freue mich jedenfalls auf die Zeit, in der Debatten in den sozialen und etablierten Medien das Niveau verlassen, bei dem es vorwiegend darum geht, welche Worte Nicht-Schwarze Menschen benutzen dürfen und welche nicht, oder welche Werke Nicht-Schwarze Menschen übersetzen dürfen und welche nicht, denn kurz zusammengefasst: You do you. Nicht-Schwarze Menschen dürfen einiges, nur nicht erwarten, dass sie für ihre Wortwahl oder Handlung nicht kritisiert werden. Es gibt wesentlich aufschlussreichere Auseinandersetzungen, die geführt werden könnten, ich würde sogar sagen, die dringend geführt werden müssen. Selbstverständlich ist die Lage kompliziert, aber wie Morrison schreibt:

Erschwert wird die Situation durch die Aufgeregtheit, die in den Diskurs um Race einbricht. Was sie noch schwieriger macht, ist der Umstand, dass die Angewohnheit, Race zu ignorieren, als taktvolle, sogar großmütige liberale Geste verstanden wird. Sie zur Kenntnis zu nehmen bedeutet, einen bereits diskreditierten Unterschied anzuerkennen. Durch Schweigen ihre Unsichtbarkeit zu erzwingen bedeutet, dem Schwarzen Körper eine schattenlose Teilhabe an dem dominierenden kulturellen Körper zuzugestehen. (S. 28)

Das mag widersprüchlich klingen, denn nur wenige Absätze zuvor habe ich geschrieben, dass Diskussionen über Race in den Staaten zum Alltag gehören. Und das tun sie auch, allerdings nur bei bestimmten Themen. Zu der Zeit, als Morrison Playing in the Dark verfasste, gehörten literarisches Schreiben und die Literaturkritik eher nicht dazu. Wie oft haben Sie den Satz „Ich sehe keine Hautfarben“ gehört? Oder vielleicht sogar selbst gesagt? Das ist nämlich die deutsche Entsprechung von „I don't see race“.

Morrison lehrt uns, dass diese Haltung nicht nur falsch ist (denn selbstverständlich wird bei manchen Menschen öfter als bei anderen ein sogenannter Migrationshintergrund vermutet), sondern im Kontext der Literaturkritik auch verschleiernd. Sie schreibt:

Wir alle, Leserinnen und Leser, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, werden um etwas gebracht, wenn die Literaturwissenschaft zu höflich bleibt oder zu ängstlich, um eine zerreißende Dunkelheit vor ihren Augen zu bemerken. (S. 127)

Morrisons ursprüngliche Wortwahl hier ist atemberaubend: „All of us, readers and writers, arebereft […]” Die Emotionalität der englischsprachigen Formulierung ist in der Übersetzung nicht wiederzugeben. Denn ich möchte behaupten, dass das, was sie auf Englisch schreibt, weiter geht als „wir werden um etwas gebracht“. Bereft beschreibt das Gefühl einer Person, die einen geliebten Menschen unwiederbringlich verloren hat. Der von Morrison kritisierte Zustand ist nicht nur ungünstig oder ärgerlich – er ist, und ich würde ihr recht geben, tragisch.

Ich möchte gerne das Beispiel des „N-Wortes“ an dieser Stelle anbringen, um für den deutschen Kontext zu verdeutlichen, worüber Morrison schreibt. Allein eine Abhandlung über die Formulierung „N-Wort“ und seine Wirkung auf Nicht-Schwarze Menschen könnte ein ganzes Buch füllen. Die einen fühlen sich davon provoziert, wollen ihre Redefreiheit nicht beschnitten wissen, bedauern oder befürchten eine schleichende politische Korrektheit, die den vernünftigen menschlichen Umgang miteinander in einer demokratischen Gesellschaft unmöglich mache. Die anderen verstehen vielleicht, warum die Formulierung notwendig ist und verwenden sie auch, fühlen sich aber nicht wohl dabei, weil sie glauben, dass es Ausnahmen gebe, in denen es richtig und vielleicht sogar wichtig wäre, das ursprüngliche Wort vollständig auszuschreiben. Und wieder andere wissen ganz einfach nicht, wofür die Abkürzung „N-Wort“ überhaupt stehen soll. Jene Menschen haben vielleicht eine vage Ahnung um die Brisanz des Themas, möchten daher unbedingt vermeiden, einen Fehler zu machen, schweigen lieber, anstatt zu fragen. Das sind allesamt durchaus wichtige Anliegen, aber für Morrisons vorliegende Arbeit nicht von Interesse.

Morrison schreibt die Worte negro und nigger in Playing in the Dark aus. In der überarbeiteten Übersetzung ins Deutsche belässt Mirjam Nuenning das erste Wort bewusst englisch und ausgeschrieben, mit der Begründung, dass es kein deutsches Äquivalent hat, welches an dieselben soziokulturellen und politischen Diskurse anknüpft und als historische Selbstbezeichnung von Schwarzen Menschen galt. Das zweite Wort wird auch bewusst englisch belassen und ausgeschrieben, so wie auch Morrison – eine Schwarze Autorin - es ausgeschrieben hat. Für die Rezeption des Buches in Deutschland halte ich Nuennings Entscheidungen und Erläuterungen, insbesondere den deutlichen Hinweis, dass das N-Wort von Nicht-Schwarzen Menschen aus Respekt nicht vorgelesen oder reproduziert werden sollte, für essentiell wichtig. Die Begriffe und ihre Übersetzungen sind allerdings bei Im Dunkeln spielen nicht Gegenstand der Betrachtung. Wer sich eingehender mit der Definition und Geschichte des deutschen N-Wortes auseinandersetzen möchte, findet in Kelly (2010) und Arndt (2011) empfehlenswerte Lektüren.

Morrisons Projekt ist ein anderes. Sie untersucht die Relevanz solcher Begriffe für die Konstruktion des Weißseins. Dieses Projekt ist keineswegs neu, auch in Deutschland nicht. Dualla Misipo, ein Schwarzer Autor, der 1901 in Duala, der Hauptstadt der damaligen deutschen Kolonie Kamerun, geboren wurde und 1913 nach Deutschland zog, schrieb seinerzeit:

Es hört sich albern an, dass viele Afrikaner das Wort „Neger“ zum ersten Male bei ihrem Aufenthalt in Europa vernehmen, ohne im ersten Augenblick den Sinn ahnen oder deuten zu können. Ich habe festgestellt, dass „Neger“ in Europa eine Formel, aber kein menschliches Wesen darstellt. „Neger“ ist etwas, dass Europäer zu beargwöhnen, zu verurteilen oder zu verteidigen haben. Es ist etwas, das sie niederhalten oder aufhelfen müssen. „Neger“ ist hier ein Objekt der Fürsorge oder eine soziale Last, im günstigsten Falle ein Hanswurst, durch welches Medium beliebter Weise der schwarze Schauspieler der europäischen Menschheit dargestellt wird.
(zitiert in: Koepsell, 2014)

 Hätte ich Playing in the Dark während meines Germanistiktudiums gelesen, hätte mich die Lektüre mit den analytischen Fähigkeiten ausgestattet, die „afrikanistische“ Präsenz in den deutschsprachigen Klassikern zu interpretieren. Jahrzehnte später erinnere ich mich leider kaum an Feirefiz in Wolfram von Eschenbachs Parzival oder McArthur in Friedrich Dürrenmatts Die Physiker. Doch die Schwarzen Figuren in Heinrich Hoffmanns Erzählung Die Geschichte von den schwarzen Buben, Herbert Malechas Kurzgeschichte Die Probe oder Dea Lohers Theaterstück Unschuld sind greifbar, da ich sie erst (bzw. noch einmal), nach der Lektüre von Morrison gelesen habe. Über Lohers Text habe ich bereits ausführlich geschrieben (siehe Otoo, 2012). Kurz zusammengefasst: Er erzählt uns unfreiwillig viel zum Thema der Konstruktion von Weißsein. Empfehlen möchte ich auch die Doktorarbeit von Tim Brown, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie die Darstellung vom Schwarzsein in diversen Märchen von verschiedenen Autor*innen des deutschen Kanons dazu beitrugen, das Schwarze Subjekte als Gegeninstanz zum weißen deutschen Selbstverständnis im deutschen Imaginären bildeten. Die wichtige Forschung von Wendy Sutherland, besonders ihr Buch Staging Blackness and Performing Whiteness in Eighteenth-Century Drama ist auch hier unbedingt zu nennen. Beide Wissenschaftler*innen erwähnen Playing in the Dark als Motivation für ihre Analyse.

 An dieser Stelle, und auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich deutlich hervorheben: Morrisons Ziel ist es nicht, diese Werke zu verteufeln. Sie fordert nicht ein, die Schriften zu verbannen, oder gar die Autor*innen zu canceln. Vielmehr geht es ihr darum nachzuzeichnen, wie Schwarze Figuren in den Werken weißer Autor*innen eingesetzt werden, um eine vermeintliche weiße Überlegenheit herzustellen oder zu stabilisieren. Als ich das verstanden hatte, wurde es immer einfacher, Afrikanismus zu entschlüsseln, wann immer ich ihm in der Literatur begegnete. Ich konnte auch immer besser die Wirkung des Afrikanismus auf weiße Schriftsteller*innen, Leser*innen und Literaturkritiker*innen erkennen.

 Morrisons Werk sollte als Chance begriffen werden. Als Angebot, an ihrer Analyse teilhaben zu können. Denn wie sie 1993 in ihrer Nobelvorlesung formuliert:

Oppressive language does more than represent violence, it is violence; does more than represent the limits of knowledge, it limits knowledge

Unterdrückerische Sprache stellt nicht nur Gewalt dar, sie ist Gewalt; sie stellt nicht nur die Grenzen des Wissens dar, sie begrenzt das Wissen.

So in etwa verhält es sich auch mit dem Afrikanismus: Er schränkt Wissen ein.

Zu Beginn dieses Nachworts habe ich erwähnt, dass ich ursprünglich Playing in the Dark gelesen habe, weil ich die deutsche Übersetzung für eine Online-Zeitschrift rezensieren sollte. Meine Kopie von Im Dunkeln Spielen kam erst wenige Tage vor dem Abgabetermin bei mir an, da war mein Text schon so gut wie fertig. Doch so begeistert ich vom Originalwerk war, so enttäuscht war ich von der Übersetzung. Umgehend beschloss ich, die Buchbesprechung nicht einfach wie geplant einzureichen, sondern stattdessen eine Polemik über meine Lektüre der Übersetzung im Besonderen und über den bedauernswerten Zustand des deutschen rassismuskritischen Diskurses im Allgemeinen zu verfassen.

Es ist ohne Zweifel eine Herausforderung, Morrisons Gedanken ins Deutsche zu übertragen. Schwarze Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen greifen für ihre Arbeit oft auf englische Begriffe zurück (z.B. Race, People of Color, Ally, Colorism, Passing, lightskinned und darkskinned), da die wörtlichen deutschen Übersetzungen unverständlich, verzerrt oder schlicht falsch werden. Genau hier macht sich das Fehlen einer institutionalisierten Auseinandersetzung mit Schwarzer Kultur, Schwarzer Kulturproduktion und Black Studies an deutschen Universitäten schmerzhaft bemerkbar. Zwar gibt es hierzulande unzählige Schwarze und nicht-Schwarze Akademiker*innen, die sich mit der Literatur Schwarzer deutscher Autor*innen beschäftigen, Schwarzen Feminismus erforschen, deutsche Kolonialgeschichte aufarbeiten oder die postkolonialen Verhältnisse und Beziehungen im heutigen Deutschland analysieren. Doch im gesamten deutschsprachigen Raum gibt es keine einzige Professur für Schwarze Literatur, Schwarzen Feminismus oder Schwarze Geschichte in Deutschland. Viele der uns in der deutschen Sprache zur Verfügung stehenden Begriffe und Konzepte entstammen Wissenstraditionen, die von einer unhinterfragten Normsetzung und Zentrierung des Weißseins geprägt sind. Um emanzipatorische Schwarze Philosophien und Analysen gebührend zum Ausdruck zu bringen, braucht es neue Vokabeln, neue Schreibweisen, neue Sprechformen. Beziehungsweise braucht es eine respektvolle Anerkennung der bereits existierenden Theoriearbeit, welche der Schwarzen deutschsprachigen queerfeministischen, aktivistischen Communities entstammt, die seit fast vierzig Jahren existieren. Wir reden von „versklavten Menschen“, und nicht von „Sklaven“, um deutlich zu machen, dass die Enteignung, Verschleppung und Ausbeutung durch Zwangsarbeit von Afrikaner *innen kein von ihnen inhärentes, naturgegebenes Phänomen war, sondern das Ergebnis einer externen Handlung. Statt des „transatlantischen Sklavenhandels“ gedenken wir der Opfer der Maafa, ein Begriff aus dem Kisuaheli, der „eine Katastrophe“, „ein schreckliches Ereignis“ oder „eine große Tragödie“ bedeutet. Wir schreiben „Schwarz“ mit großem „S“, da wir damit nicht eine vermeintliche „Hautfarbe“ hervorheben, sondern eine politische Positionierung innerhalb einer (vielleicht noch) mehrheitlich weißen Gesellschaft. In diesem Buch wird „weiß“ mit kursivem Anfangsbuchstaben geschrieben, ebenfalls um die soziale Position von der Farbe zu unterscheiden.

Selbst für eine Schwarze Person, die sowohl die inhaltliche Expertise, die fachliche Kompetenz, als auch das nötige Erfahrungswissen besitzt, ist es nicht leicht, Morrisons Analyse aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Wie könnte zum Beispiel der Begriff slaveholder ideology ins Deutsche übertragen werden, wenn gleichzeitig Gendervielfalt und die Kritik an dem Wort „Sklave“ berücksichtigt werden soll? Mirjam Nuenning entscheidet sich für die Formulierung „Sklavenhalterideologie“, da es sich bei diesem Wort, ähnlich wie beim „Afrikanismus“, um eine Täterphantasie handelt (dass es möglich wäre „Sklaven“ zu halten). Diese Phantasie gilt es nicht, mit dem Gendersternchen demokratisch aufzuwerten. Wenn Schwarze Übersetzer*innen für solche Aufträge gar nicht erst in Frage kommen, oder lediglich als ungenannte, korrigierende Instanzen engagiert werden, weil ihre Expertise, Kompetenz und ihr Erfahrungswissen weiterhin von Auftraggeber*innen im Literaturbetrieb als solches gar nicht anerkannt wird, sind wir alle, um Morrisons Wort noch einmal zu benutzen, bereft.

Es ist hervorragend, dass diese überarbeitete Version endlich vorliegt. Ich wünsche mir, ich hätte dieses Buch früher gelesen. Aber offenbar war die Lektüre immer noch rechtzeitig. Morrisons Analyse hat nichts an Relevanz verloren.

Sharon Dodua Otoo, Januar 2023

Vielen Dank an Aischa Ahmed, Tim Brown, Mirjam Nuenning und Patrice Poutrus für ihre wichtigen und sehr hilfreichen Anmerkungen.

Literaturnachweis:

Arndt, Susan (2011), "Neger_in", in: Susan Arndt & Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk (Münster: UNRAST), S.653-657.

Brown, Tim (fortlaufend), Disenchanting Race – Deutsche Nationsphatasien in schwarz/weiß. Oder: Deutsche Kunst- und Volksmärchen um 1800 (Arbeitstitel Promotionsprojekt, Universität Tübingen).

Koepsell, Philipp Khabo (2014), "Literature and Activism", in: Asoka Esuruoso & Philipp Khabo Koepsell (Hg.), Arriving in the Future. Stories of Home and Exile (Berlin: epubli), S.40.

Kelly, Natasha A. (2010), "Das N-Wort", in: Adibeli Nduka-Agwu & Antje Lann Hornscheidt (Hg.), Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen (Frankfurt/Main: Brandes & Apsel), S.157-166.

Morrison, Toni (1993), Nobel Lecture (https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1993/morrison/lecture/), letzter Zugriff 02.01.2023

Otoo, Sharon Dodua (2012), "Reclaiming Innocence. Unmasking Representations of Whiteness in German Theatre", in: Sandrine Micossé-Aikins & Sharon Dodua Otoo (Hg.), The Little Book of Big Visions. How to be an Artist and Revolutionize the World (Münster: edition assemblage), S.54-70.

Otoo, Sharon Dodua (2014), "Die Kunst, über Rassismus zu schreiben", Rezension von Toni Morrison (1995), "Im Dunkeln Spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination" (Reinbek: Rowohlt Verlag), veröffentlich auf der Webseite Kritisch-Lesen (https://kritisch-lesen.de/rezension/die-kunst-uber-rassismus-zu-schreiben), letzter Zugriff 02.01.2023.

Sutherland, Wendy (2016), Staging Blackness and Performing Whiteness in Eighteenth-Century German Drama (New York: Routledge)

Otoo, Sharon Dodua (2023) Nachwort. In: Morrison, Toni Im Dunkeln spielen. Weiße Perspektiven und literarische Imagination. Aus dem Englischen von Barbara von Bechtolsheim und Helga Pfetsch, überarbeitet und aktualisiert von Mirjam Nuenning (Öffnet in neuem Fenster) (S.129-143)

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlages.

Kategorie Essay

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Sharon Dodua Otoo und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden