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Wie Anansi zum neuen Namen kam

Heute Abend möchte ich Euch allen ein Märchen erzählen. Denn durch Märchen bleiben wichtige Ereignisse über Jahre, Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte in Erinnerung. Ich wollte für diesen Anlass ein besonders tolles Märchen mitbringen. Es muss unbedingt im Wald stattfinden, dachte ich, und es muss etwas mit Essen zu tun haben, denn die besten Märchen haben immer beides. Denken wir an Rotkäppchen, mit dem Korb voller Leckereien. Oder an Hänsel & Gretel, mit dem zuckersüßen Haus. Oder an Schneewittchen, mit dem giftigen Apfel.

Aber heute handelt es sich nicht um einen osteuropäischen Wald, sondern um einen westafrikanischen. Und die heldische Figur ist weder ein holdes Mädchen noch ein braver Junge – sondern eine Spinne. Und nicht irgendeine Spinne, sondern keine geringere als Anansi.

Anansi ist besonders in Ghana, aber auch in anderen Ländern Afrikas und in weiten Teilen der afrikanischen Diaspora als hinterhältige Märchenfigur bekannt. Eine Figur, die die Fähigkeit besitzt, mächtigere Gegner mit Kreativität und Witz zu überlisten.

Eines Tages ging Anansi mit großem Hunger durch den Regenwald. Hier gab es keine southern trees bearing strange fruit, keine Picknickkörbe, keine essbaren Häuser – von Äpfeln ganz zu schweigen. Anansi suchte und suchte und fand weder zum Frühstück, noch zum Mittag etwas Leckeres zu essen. Doch hin und wieder lagen ein paar Nüsse auf dem Waldboden herum und Anansi sammelte sie ein. Gegen Abend, als es noch nicht dunkel aber langsam kalt wurde, machte Anansi ein Feuer und begann, die Nüsse zu rösten. Es raschelte in den umliegenden Büschen.

„Bestimmt“, dachte Anansi, „bestimmt versteckt sich da mein richtiges Abendessen!“

Aber es kroch kein böser Wolf oder Babybär aus den Büschen, sondern drei Kinder. Was Anansi nicht wusste, war, dass sie die letzten Überlebenden eines unfassbaren Grauens waren. Sie zitterten und schlotterten und musterten das Feuer mit großen Augen.

„Hö?“, sagte Anansi. „Wer seid ihr denn?“

Und obwohl Anansi eine freundliche Spinne war, schwiegen die Kinder aus Angst. Sie hatten noch nie eine sprechende Spinne gesehen. Woher sollten sie wissen, ob Anansi es gut oder schlecht mit ihnen meinte? Anansi musste also dringend ihr Vertrauen gewinnen. Und wie könnten Spinnen das besser, als durch ein Wettspiel?

„Wir machen einen Wettbewerb!“, jubelte Anansi. „Einen Lügenwettbewerb!“

Da war das Eis gebrochen. Das älteste Kind sagte: „Was ist ein Lügenwettbewerb?“

Anansi grinste: „Wir erzählen uns gegenseitig Lügengeschichten. Wenn eure Geschichte so unglaublich ist, dass ich sagen muss: „Du lügst!“ dann gewinnt ihr. Aber wenn ich gewinne, dann müsst ihr mir Eure Namen sagen!“

Die Kinder traten etwas näher an das Feuer.

„Lügengeschichten?!“, sagte das mittlere Kind.

„Je krasser, desto besser!“ antwortete Anansi.

Die Kinder schauten einander an und schließlich nickten sie.

„Das gewinnen wir locker“, sagte das dritte Kind. Sie setzten sich alle um das Feuer. Die Flammen knisterten im Hintergrund und der Geruch von gerösteten Nüssen tröstete sie.

Kind eins fing an: „Ein großer Krieg wird die ganze Welt verschlingen. Meine ganze Familie wird ermordet werden. Meine Mutter, mein Vater, meine Schwestern, meine Brüder. Alle meine Onkel und Tanten. Alle Verwandten von mir. Alle werden sterben. Und alle anderen Roma werden auch von der Vernichtung bedroht sein. Und wenn dieser alles zerfressende Krieg eines Tages zu Ende geht, werden die Hälfte aller Roma unter der Erde liegen. Wir werden es Porajmos nennen. Aber die anderen Menschen, die Gadje, die nicht verfolgt wurden und weggesehen haben, sie werden sagen: Sie haben von nichts gewusst.“

Und Anansi nickte und sagte: „Das ist eine krasse Geschichte. Eine krasse Geschichte. Und es klingt erfunden. Doch ich glaube dir jedes Wort.“

Und dann fing Kind zwei an zu erzählen: „In diesem Wald werden grausamen Menschen unaussprechliche Dinge tun. Die kleinsten Kinder werden die größten Opfer sein. Mitten in diesem Terror wirst du entscheiden, drei Kinder bei dir aufzunehmen. Aber es wird am nächsten Tag noch ein Kind dazu kommen und eine Woche später noch ein Kind. Und immer weiter. Bis du am Schluss über fünfzig Kindern das Leben gerettet hast. Und das, obwohl so etwas zu tun, deinen sicheren Tod bedeuten könnte!“

Und Anansi nickte und sagte: „Das ist auch eine krasse Geschichte. Sehr krass. Und obwohl es auch erfunden klingt, glaube ich dir jedes Wort.“

Als letztes spricht Kind drei: „In achtzig Jahren werden wieder einige Menschenleben mehr wert sein als andere. Ein deutscher Politiker wird Schwarze Menschen kulturfremd nennen, eine deutsche Politikerin wird Muslimas als Taugenichts beschimpfen, und noch ein anderer deutsche Politiker wird Schutzsuchende als Ungeziefer beschreiben. Sie werden alle ihren Job nicht verlieren dafür. Denn viele andere Erwachsene werden wegschauen. Sie werden die Worte „nie wieder“ sagen. Sie werden denken, dass sie keine Angst zu haben brauchen. Sie werden aber falsch liegen.“

Und Anansi nickte und sagte: „Hmmm. Diese Geschichte ist wirklich, wirklich krass. Und es klingt auch so was von erfunden. Doch ich glaube dir jedes Wort.“ Es war ein Moment lang still um das Feuer. Dann rief Anansi: „Und jetzt bin ich dran!“

Anansis Geschichte ging so: „Vorgestern ging ich durch diesen Regenwald und suchte Essen. Ich fand eine Paranuss und beschloss sie zu pflanzen. Über Nacht wuchs aus der Nuss eine Pflanze, und aus der Pflanze ein Baum. Als ich gestern wach wurde, lag ich unter dem Baum. Er hatte sogar ein Baumhaus! Ich kletterte zum Baumhaus hoch, machte die Tür auf, und sah drei Kinder. Da der Baum mir gehörte, gehörte auch das Baumhaus mir und die Kinder waren meine Gäste. Also fragte ich alle Kinder nach ihren Namen. Aber sie wollten mir ihren Namen nicht sagen und rannten weg. Sie versteckten sich in den Büschen. Aber heute ist mein Glückstag, denn da seid ihr ja und könnt mir jetzt euren Namen sagen!“

Wow. Was sollten die Kinder sagen? Wenn sie gesagt hätten, „du lügst!“, dann hätten sie ja verloren. Aber wenn sie, wie Anansi, gesagt hätten: „Das ist eine krasse Geschichte, und ich glaube dir jedes Wort“, dann hätten sie auch verloren, denn die Geschichte endete damit, dass sie ihren Namen sagten. Sie sahen einander an und lächelten schließlich.

„Wir heißen“, sagten sie „Mut, Hoffnung und Solidarität.“

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie in uns weiter. Vielen Dank.

*

Aber ein Teil der Geschichte fehlt! Es ist heute Abend nämlich wie im Kino, wenn nach dem Abspann noch eine Szene gezeigt wird. Weil ihr alle bis zum Schluss geduldig zugehört habt, kommt nun das echte Ende der Geschichte.

Die drei Kinder wollten selbstverständlich auch wissen, wie Anansi heißt. Und Anansi dachte: „Ich muss vorsichtig sein. Denn der Name, der gleich aus diesen Kindermünden kommen wird, bleibt für immer an mir kleben“. Wir wissen ja, wie ärgerlich es ist, wenn unseren Namen falsch buchstabiert oder betont werden. Es war daher wichtig, dass die Kinder, den Namen „Anansi“ richtig sagten. Um kein Risiko einzugehen, gab Anansi jedem Kind eine Silbe.

Kind eins sollte „A“ sagen, Kind zwei bekam die Silbe „Nan“ und Kind drei nickte, weil es verstand, dass es an der richtigen Stelle „Si“ sagen soll. Aber was passierte? Während Anansi noch mit Kind drei beschäftigt war, nahm Kind eins eine der Nüsse. Als es an der Zeit war, Anansis Namen zu sagen, war sein Mund noch voll, also sprach Kind zwei als erstes: „Nan!“

Kind drei wusste nur, dass es nach Kind zwei dran war, und rief: „Si!“

Und Kind eins, das sich an dem heißen Snack die Zunge verbrannt hatte, rief: „Aah!“

Und ab diesem Moment galt der neue Name: Nancia… Noncia… Nonci.

~

Eine Kurzgeschichte von Sharon Dodua Otoo

"Wie Anansi zum neuen Namen kam" wurde zunächst anlässlich der Veranstaltung "Codes of Memory" in Erinnerung an die Ermordung der letzten Sinti* und Roma* in Auschwitz-Birkenau 1944 vorgetragen. Die Veranstaltung fand am 2. August 2023 am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas statt.

Foto von Alfreada "Noncia" Markowska © Chad Evans Wyatt

Kategorie Kurzgeschichte

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