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das erinnern

an den tagen, an denen ich am optimistischten bin,

weiß ich, es geschieht sowieso: das erinnern

denn es gibt menschen, sie tragen geschichten in den haaren

stränge der hoffnung eingeflochten in jeder cornrow

alltäglicher widerstand eingedreht in jeder dreadlock

manche zeigen goldene adinkra-symbole am ohr

oder um den hals

hier werden kinder mit den namen derer geschmückt, die vor ihnen kamen

dort werden freiheitslieder gesungen

libations werden gegossen, immer und immer wieder, die erde ist berauscht davon

und manche von uns tun es: das erinnern

es geschieht sowieso, ob die anderen es wahrhaben wollen oder nicht

.

Aber an den Tagen, an denen meine Geduld nachlässt,

an denen ich alle Social Media meide und den Klingelton ausschalte;

wenn ich Bücher lese statt Zeitungen;

wenn ich Musik höre statt Radio;

an solchen Tagen lastet die Frage nach Dem Erinnern

wie ein Haufen Bügelwäsche in der Ecke.

Ich sollte mich darum kümmern. Je schneller ich anfange, desto besser, denke ich.

Wenn sie erledigt ist, wird es mir zweifellos besser gehen.

Doch um den Anfang zu machen, muss ich mich wirklich anstrengen und

ungefährlich ist die Aufgabe auch nicht.

Ich könnte mich sogar dabei verbrennen.

Denn ich pflege Kontakt mit kultivierten Menschen,

belesenen Menschen,

gut situierten Menschen,

die vermutlich die Knigge-Regeln mit der Muttermilch aufgesogen haben.

Menschen, mit denen ich mich an meinen optimistischsten Tagen gerne unterhalte.

Menschen, die allerdings keine Bedenken zeigen – kein Zögern, wirklich keine Scham –

im höflichen Gespräch – mit mir – rassistische Worte zu verwenden oder

im Radiobeitrag – für uns – antimuslimische Ressentiments zu bedienen.

Ich sitze mit Herrn Bernhard beim deutschen Mittagstisch.

Die Themen „Kinderbücher“ oder „Straßenumbenennung“ kündigen sich am Horizont an.

In jenen Momenten, irgendwo zwischen Gazpacho und Espresso, erlebe ich,

dass „Die Zauberflöte“ genauso zu Dem Erinnern gehört,

wie „Pippi Langstrumpf“ und „Sarottistraße“,

es gibt nicht nur Nazis in der Suppe.

Und in den Köpfen, in denen Betrüger als Forscher verharmlost werden,

in denen geraubtes Land zu Schutzgebieten verklärt wird,

in denen aufrichtige Könige verraten werden,

in denen fehlende offizielle Entschuldigungen auf kolonial-begründete Hinrichtungen folgen,

hilft kein Appell an das Gewissen.

So in etwa denke ich, an den Tagen, an denen die Bügelwäsche wächst und wächst. Doch:

an den tagen, an denen ich am optimistischsten bin,

weiß ich, es geschieht sowieso: das erinnern

es gibt menschen, sie tragen geschichten auf der haut

unschuldiges blut in den adern und

blüten entlang der rückenwirbelsäule

manche sprechen leise und halten ihren blick gesenkt

oder gleich den ganzen kopf

hier werden brücken gebaut, eine geduldige erklärung wie zum ersten mal

dort marschieren menschen los, denn: wir wollen endlich atmen

tränen werden vergossen, beim lachen und beim weinen, die erde ist berauscht davon

und manche von uns tun es: das erinnern

wir schenken deutschen straßen unsere namen,

es geschieht sowieso, ob die anderen es wahrhaben wollen oder nicht

.

Sharon Dodua Otoo

Dezember 2022

Otoo, Sharon Dodua (2022) “das erinnern (ein gedicht statt einer rede)”

Zu den Straßenumbenennungen am 02. Dezember 2022 im afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding.  Bild: Rudolf-und-Emily-Manga-Bell-Platz © Hanno Hauenstein

Kategorie Gedicht

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