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Missklänge, wo sie hingehören

Eric Whitacre: “Sleep” (2000)

Das Voces8-Vokalensemble (Foto: Lauravoces8.foundation, CC BY-SA 4.0 (Öffnet in neuem Fenster), via Wikimedia Commons)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich Musik vor, die ihr vielleicht noch nicht kennt. Und ich mache Vorschläge, wie ihr sie besser verstehen und damit mehr genießen könnt. Aber solche Texte machen Arbeit und kosten Zeit. Daher bitte ich euch: Unterstützt meine Arbeit auf Steady (Öffnet in neuem Fenster) mit einer Mitgliedschaft, damit wir die Schleichwege zusammen weitergehen können.

Perfekt ist etwas nicht, wenn man es nicht mehr verbessern kann. Perfekt ist es, wenn es so gut ist, dass man über all seine Unzulänglichkeiten hinwegsehen kann. Was für Menschen gilt, die man liebt, gilt auch für den Kunstgenuss.

Die Musik, um die es heute gehen soll, lässt sich am besten genießen, wenn man über alles mögliche hinwegsieht. Weshalb ich vorschlage, sich erstmal knapp sechs Minuten Zeit zu nehmen und dem folgenden Stück für achtstimmigen Chor zuzuhören. Es singt das großartige VOCES8-Vokalensemble aus England. Alles weitere danach:

https://www.youtube.com/watch?v=GeLW43SqqbA (Öffnet in neuem Fenster)

Hier findet ihr das Stück im Streaming (Öffnet in neuem Fenster).

Ist das nicht schön? Diese satten Harmonien, diese genußvoll ausgehaltenen Dissonanzen (diese absichtsvollen Missklänge findest du im Video zum Beispiel bei 0:47 und 1:03) – das ist Musik zum Reinbeißen. Leute mit Chor-Erfahrung bestätigen zudem, dass es sich sehr gut singen lässt. Der Komponist Eric Whitacre weiß, was er tut.

Er weiß es etwas zu gut, denn er schreibt nicht nur Musik für Chor und Bläserensembles, sondern ist ein Selbstvermarktungskünstler erster Kajüte. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er bekannt, als er “virtuelle Chöre” dirigierte, oder besser: Sänger*innen aus aller Welt zusammensamplete. (Eine Technik, die während der frühen Phase der Corona-Pandemie unerwartete Relevanz bekam, weil man sich beim Singen per Zoom nicht gegenseitig Aerosole in den Nacken atmet.)

Seinem Erfolg tut sicherlich auch keinen Abbruch, dass er wie ein Surfer aussieht.

https://www.youtube.com/watch?v=D7o7BrlbaDs (Öffnet in neuem Fenster)

Über all dies empfehle ich, wie gesagt, hinwegzusehen und stattdessen einfach nur hinzuhören. Aber bitte nicht zu genau, denn so überzeugend die Musik zu “Sleep” ist, so schlicht ist der Text. Es handelt sich um ein Schlaflied, das sich der Schlafende selbst vorsingt. Es ist vor allem ein Lamento über die Schwierigkeit, einzuschlafen.

Der amerikanische Dichter und Dozent Charles Anthony Silvestri schrieb zu “Sleep” diese Lyrics:

Upon my pillow, safe in bed
A thousand pictures fill my head
I cannot sleep, my mind's aflight
And yet my limbs seems made of lead
 

Da liegt also jemand im Bett und kann nicht schlafen, weil so viele Bilder im Kopf herumspuken. Wer kennt es nicht. Aber ist das nicht ein bisschen, naja, wenig? Die weiteren Verse erspare ich euch, sie fügen dem Ganzen nicht wirklich etwas hinzu. Es tut mir leid, aber der Text ist wirklich knalleblöd.

Tatsächlich vertonte Whitacre mit “Sleep” eines der berühmtesten amerikanischen Gedichte überhaupt: Robert Frosts “Stopping by Woods on a Snowy Evening”. Auf diesen melancholischen, ganz zart humorvollen und gleichzeitig sehr ernsten Text passt die Musik, Phrase für Phrase. In der Frankfurter Anthologie (Öffnet in neuem Fenster) findet sich neben dem amerikanischen Original die deutsche Übersetzung, die kein Geringerer als Paul Celan verfasst hat. Es lohnt sich, Frosts Gedicht nachzulesen.

In ihm hadert die erzählende Person, die an einem verschneiten Abend mit ihrem kleinen Pferd unvermittelt an einem Waldstück Halt macht, mit allem. Kurz scheint es so, als würde sie ihr Lebenswille verlassen. Doch dann besinnt sie sich:

The woods are lovely, dark and deep
But I have promises to keep
And miles to go before I sleep
And miles to go before I sleep

Randall Thompson vertonte (Öffnet in neuem Fenster) Frosts Gedicht bereits 1959 sehr passend (aber das ist ein anderer Schleichweg). Er starb 1963 und seine Nachlassverwaltung hatte offenbar keine Lust, die Musik des im Jahr 2000 noch unbekannten Komponisten aus Nevada mit einem Frost-Text zu adeln. Sie untersagten Whitacre die Verwendung des Gedichts – am Tag vor der Uraufführung von “Sleep”.

Auftritt Charles Anthony Silvestri. Whitacres Briefing an den befreundeten Dichter lautete: Schreib mir noch in dieser Nacht einen Text auf das Metrum von Frosts Gedicht. Einzige inhaltliche Vorgabe: Er muss auf das Wort sleep enden. Silvestri erledigte den Auftrag innerhalb von acht Stunden, und im Lichte dieser Umstände erscheint seine Arbeit zumindest etwas, je nun: beeindruckender.

Es gibt tatsächlich einige wenige Aufnahmen von Chören, die die Musik auf den Text von Robert Frost singen (Öffnet in neuem Fenster). So wie es ursprünglich gedacht war. Und es ergibt musikalisch so viel mehr Sinn! So liegen die anfangs erwähnten Missklänge nicht einfach irgendwo im Text, sondern da, wo sie hingehören. Zum Beispiel an der Stelle, als das Pferdchen sich fragt, warum angehalten wird, obwohl nirgends eine Scheune steht:

My little horse might think it queer
To stop without a farmhouse near

Jahre später erteilte die Stiftung, die den Nachlass Robert Frosts verwaltet, Whitacre die Erlaubnis zur Verwendung von “Stopping by Woods on a Snowy Evening”. Er lehnte ab. “Sleep” war ein Werk von eigenem Rang geworden, gesungen von Chören überall auf der Welt. Mit den schlichten Lyrics von Silvestri.

Am besten drüber hinweghören – und die Musik genießen.

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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