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Es sind wieder Gefühle auf dem Markt

William Bolcom: The Graceful Ghost Rag (1970)

William Bolcom, 1985 mit seiner Frau, der Mezzosopranistin Joan Morris (Foto: Bernard Gotfryd (Ausschnitt), Public Domain via Wikimedia Commons (Öffnet in neuem Fenster))

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Nach Jahren der Corona-Hemmung habe ich wieder Menschen eingeladen, eigentlich um meinen Geburtstag nachzufeiern. Es fühlte sich dann aber eher an als feierten wir all das nach, was seit März 2020 unbefeiert geblieben ist, nicht nur Geburtstage, auch Geburten, Umzüge, Kündigungen, lange überfällige Enden und vorsichtige Neuanfänge. Die Pandemie hat die unterschiedlichen Zerrissenheiten unserer Biografien für ein paar Jahre synchronisiert, so wie es nur Katastrophen können. Weißt du noch, wo du beim ersten Lockdown warst? Eben.

Wir hatten Bier und Wein, Wasser und Saft besorgt, aber bald merkte ich, dass die über die Abendstunden des heißen Sommertags hereinschlurfenden Gäste auf die Frage, was sie trinken möchten, auch gleich die Antwort haben wollten. Also schob ich irgendwann einfach den Satz hinterher: “Alle trinken Campari Amalfi.”

Der Satz wurde mit jeder Stunde wahrer. Die Neuankömmlinge sahen das leuchtend rote Getränk in den großen Weingläsern der anderen Gäste, aber es war offenbar nicht der allgegenwärtige Aperol Spritz. Mein Freund, der Gastronom, mixte gelassen einen bittersüßen Amalfi nach dem anderen, während ich das neue Getränk bewarb. Es war genau anders genug, um interessant zu sein, ein bisschen erklärungsbedürftig auch (Campari mit Bitter Lemon und Grapefruitsaft auf Eis und einem Grapefruitschnitz), aber eben nah genug an dem Trenddrink der letzten Jahre.

“Oh ja, das nehme ich auch.”

Manchmal muss man einfach was anbieten.

Ich war nervös gewesen, so viele Menschen auf einmal! Ich wusste gar nicht mehr, wie das geht: Party. Was mache ich, wenn die Gäste nicht miteinander können? Wie viel Essen braucht es? Wird es nicht viel zu anstrengend? Was das freidrehende Hirn sich eben so überlegt, denn zumindest meines erbringt Spitzenleistungen im sich Sorgen machen. Angeregt durch einen Artikel (Öffnet in neuem Fenster) von Theresa Bäuerlein lese ich deshalb derzeit ein Buch des Psychiaters und Neurowissenschaftlers Judson Brewer, der die Theorie vertritt, dass man sich aus Gewohnheit sorgt – und diese Gewohnheit verlernbar ist.

Wir sorgen uns, sagt Brewer, weil die Sorge befriedigender ist als das Aushalten von Angst und Unsicherheit. Das alles ist natürlich völlig unproduktiv, weil diese Art Sorge noch kein einziges Problem gelöst hat. Und die Gefühle, um die es eigentlich geht, ungefühlt und unverstanden bleiben.

Manchmal fühle ich etwas und weiß nicht warum. Es reicht dann, dass mir jemand ein Wort dafür nennt, ein Label für das Gefühl. Nach der Party mit den lieben Menschen, die ich teils schon Jahrzehnte kenne, war ich traurig; das sei doch Melancholie oder vielleicht Nostalgie, schlug mir dann jemand vor.

Und es stimmt. Es war gar kein unerklärliches Gefühl, sondern sogar ein sehr erklärliches; ich kam nur nicht drauf, weil ich mich gar nicht für einen besonders nostalgischen Menschen halte. Vielleicht ändert sich das auch gerade, vielleicht sind nach zweieinhalb Jahren Corona jetzt wieder mehr Gefühle auf dem Markt. Man musste mir nur ein Wort oder zwei vorschlagen und schon ging es besser. Manchmal muss man einfach was anbieten.

Eine gute Musikrichtung für Nostalgiker und solche, die es werden wollen, ist der Ragtime, eine Art Vorläufer des Jazz. Jeder kennt “The Entertainer (Öffnet in neuem Fenster)” von Scott Joplin. Er ist der Erfinder der klassischen Rags, diesen meist fürs Klavier geschriebenen Stücken mit synkopierter Melodie. Es ist schwer, jemandem zu erklären, was eine Synkope ist, der nicht weiß, was eine Synkope ist. Ich versuche es trotzdem und zwar, weil sie so schön nostalgisch ist, am Beispiel der Titelmusik von Lassie. Über das gesamte Stück hinweg erklingen Harfenakkorde, aber ausschließlich auf unbetonten Taktteilen. Hört euch das mal an:

https://www.youtube.com/watch?v=aDKuVQ8-zrs (Öffnet in neuem Fenster)

Mit Synkopen entsteht eine merkwürdige Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Betonungen, der Rhythmus will etwas anderes als die Melodie (oder umgekehrt). So ist es auch in Joplins “Entertainer”. Während die linke Hand den Zwei-Viertel-Rhythmus spielt, in dem das Stück notiert ist, nimmt sich die rechte Hand die Freiheit heraus, einen Akzent immer kurz neben den Rhythmus der linken Hand zu legen. Vermutlich kommt aus dieser Gleichzeitigkeit verschiedener Metren das Wort Ragtime: die gängige Erklärung sieht den Ursprung des Worts in ragged time, also zerrissene Zeit.

Ende der 1960er kam das Interesse an Scott Joplins Musik wieder auf und viele Komponisten versuchten sich an eigenen Ragtimes, darunter auch der Amerikaner William Bolcom. 1970 schrieb er The Graceful Ghost, einen Rag für seinen verstorbenen Vater. Man darf das Stück getrost nostalgisch nennen. Der Geist des Vaters spukt elegant durch die rechte Hand, während die linke den Zweiviertel-Takt hält. Das Stück wurde mit Abstand Bolcoms beliebtestes.

Darf ich euch das mal anbieten?

https://www.youtube.com/watch?v=YufmYPb2zZE (Öffnet in neuem Fenster)

Hier gibt es das Stück im Streaming (Öffnet in neuem Fenster).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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