Zum Hauptinhalt springen

Eine leuchtende Wolke aus Klassik, Pop und Jazz

Krzysztof Lenczowski: Supernova (2019)

Ein Supernova-Überrest im Sternbild Cassiopeia (Foto: NASA (Öffnet in neuem Fenster)/CXC/SAO/IXPE)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Öffnet in neuem Fenster).

Der Berichterstattung über galaktische Phänomene haben wir den Eindruck zu verdanken, sie geschähen entweder kurz nach Anbeginn der Zeit (die Entstehung der Atome nach dem Urknall) oder erst in ferner Zukunft (der Kollaps unserer Sonne). Deshalb klingt es nach einer merkwürdigen Ungleichzeitigkeit, wenn ein Stern, sagen wir, im 17. Jahrhundert explodiert. Aber Sterne scheren sich nicht um unsere Zeitrechnung, sie gehören zu den Objekten, die der Philosoph Timothy Morton “Hyperobjekte” nennt: Dinge, die uns durchaus betreffen, die aber größer sind als unsere Vorstellungskraft von Raum und Zeit, die daher schwer zu fassen sind. Für Morton fallen auch Phänomene wie der Klimawandel in die Kategorie der Hyperobjekte: Sie sind reale Dinge, die wir beeinflussen, die sich aber in Raum und Zeit so weit ausdehnen, dass es schwierig ist, sich mit ihnen zu befassen. Woraufhin manche die Existenz dieser Objekte schlichtweg leugnen.

(Timothy Morton arbeitete an dem zu Weihnachten 2021 erschienenen Netflix-Film “Don't look up” mit, in dem die Unfähigkeit der Menschheit, sich auf die Problematik eines auf die Erde zufliegenden Kometen zu einigen und entsprechend zu handeln, zu einer Katastrophe mit Ansage führt. Die Filmproduktionsfirma heißt Hyperobject Industries.)

Hätten wir im Jahr 1680 unserer Zeitrechnung durch all das kosmische Gas und den Staub in Richtung des Sternbilds Cassiopeia blicken können, wir hätten einen explodierenden Stern gesehen, eine Supernova. Wir wissen das, weil die Explosion eine Wolke hinterlassen hat, die Strahlen von einer Wellenlänge von unter etwa 10 Nanometern aussendet. Diese Strahlung nennen wir Röntgenstrahlen.

Zwei Wochen vor letztem Weihnachten schickten die NASA zusammen mit der italienischen Weltraumbehörde ASI das Weltraumobservatorium IXPE in einen Orbit am Äquator, um galaktische Phänomene mithilfe eben dieser Röntgenstrahlen zu erkunden, darunter die Wolke aus dem 17. Jahrhundert. Wir nennen diese Wolke nach ihrem Sternbild “Cassiopeia A”.

All diese Dinge, den Urknall, die Röntgenstrahlung und den 1680 explodierten Stern, gäbe es auch ohne unser Zutun, wir haben diese Dinge nur entdeckt, wie man so schön sagt, und ihnen Namen gegeben. Aber wir haben diese Dinge nur entdeckt, so wie Kolumbus Amerika entdeckt hat, denn diese Dinge waren ja vorher nicht vermisst worden. Sie hätten sehr gut weiter existieren können, ohne entdeckt worden zu sein. Zudem ja Amerika nicht das war, was sich Kolumbus darunter vorgestellt hat, nämlich Indien, und Kolumbus war auch nicht der erste Europäer auf amerikanischem Boden; das war wohl kurz vor dem Jahr 1.000 ein Wikinger. Schließlich heißt Amerika so, weil der deutsche Renaissance-Kartograf Martin Waldseemüller den für Europäer neuen Doppelkontinent nach dem in Florenz geborenen Entdecker Amerigo Vespuci so genannt hat. Der Name hat nichts mit den auf besagtem Doppelkontinent lebenden Menschen zu tun, sondern ist eine koloniale Fremdzuschreibung.

Und die Röntgenstrahlung heißt so, weil es Wilhelm Conrad Röntgen war, dem zuerst aufging, wie bedeutend diese Strahlen sein würden, als er an einem Freitag Abend in seinem Labor ihre merkwürdigen Effekte zufällig beobachtet hatte. Er hat die Röntgenstrahlung nicht erschaffen und entdeckt hat er sie eigentlich auch nicht; das geschah schon vorher, unter anderem durch den britischen Physiker William Crookes. Bescheidenerweise benannte Röntgen seine “Entdeckung” auch nicht nach ihm selbst, das besorgten andere für ihn. “X-Strahlen” war sein Begriff, der außerhalb bestimmter europäischer Länder auch heute noch der gängige Name für die Strahlen ist (x-rays).

Und den Urknall hat tatsächlich niemand entdeckt, er ist schlicht das Ergebnis einer Zurückrechnung der Entwicklung des Kosmos. Ein Knall ist er eigentlich auch nicht, weil es vor ihm gar keinen Raum und keine Zeit gab, in dem und in der etwas hätte knallen können. Und Knallmaterie gab es schon gar nicht. Zu allem Überfluss beschreiben Urknalltheorien auch gar nicht den Knall, der keiner war, sondern das was unmittelbar danach passiert, zum Beispiel die Transparentwerdung des Kosmos und die Entstehung der Atome.

Wir benennen die Dinge einfach irgendwie und, das ist das Merkwürdige daran, es funktioniert. Der Philosoph Saul Kripke beschrieb die Benennung von Dingen als eine Art Taufe – die Sprachgemeinschaft einigt sich einfach darauf, wie etwas heißen soll, was am Ende einer Kette aus Dingen und Ereignissen steht. So ein Ding könnte zum Beispiel eine große Landmasse westlich von Europa sein und ein Ereignis die Betretung dieser Landmasse durch gut finanzierte Europäer zu einem bestimmten Zeitpunkt. Am Ende einer solchen Kette steht dann hoffentlich die Sache selbst. Unter Umständen erschafft man durch eine solche Taufe eine Sache erst, die gar nicht da ist (“Menschenrassen”) oder von der man nur will, dass sie in den Köpfen der Menschen existiert, um sie gegeneinander aufzuwiegeln (“Rassismus gegen Weiße”).

Egal, ob es die beschriebenen Dinge gibt oder nicht, Begriffe entwickeln ein Eigenleben. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts entstand zum Beispiel der Begriff “Streichquartett” für einerseits ein Ensemble aus zwei Geigen, einer Bratsche und einem Cello, andererseits für die Musikgattung, also Stücke für eben diese Besetzung. Der Begriff wurde wichtig, weil so viel bedeutende Musik für dieses Setup komponiert wurde. Wenn von Kammermusik die Rede ist, dann geht es nicht ohne das Streichquartett. Es ist die prototypische klassische Kammermusikform.

Diese Tradition ist Fundus und Last zugleich, wie immer in der Klassik. Als junge*r Komponist*in trittst du in die Fußstapfen der Leute, die dieses Genre überhaupt erst zu dem gemacht haben, was es ist, die gemacht haben, dass überhaupt ein Begriff dafür entstand. Wie weit willst du dich davon entfernen, wenn auch du Musik für zwei Geigen, Bratsche und Cello schreibst? Traust du dich überhaupt daran, wenn du unweigerlich mit den Meistern des Genres verglichen werden wirst? So hat Igor Strawinsky zwar Musik für die klassische Streichquartettsbesetzung geschrieben, aber den Begriff “Streichquartett” vermieden. Auch so kann man versuchen, der Tradition zu entgehen.

Das Stück, das ich heute vorstelle, ist – wie so viele in den Schleichwegen vorgestellten Werke – nicht wirklich “klassische” Musik. Es ist aber Musik für klassische Instrumente, für klassische Besetzung: Streichquartett und Streichorchester. Wobei es sich in diesem Fall um ein “Jazz-Streichquartett” handelt, das der 1986 geborene Krzysztof Lenczowski im Kopf hatte, als er seine gut siebenminütige Komposition schrieb.

Lenczowski ist gar nicht in erster Linie Komponist, sondern vor allem Cellist im Atom String Quartet, einem polnischen Streichquartett, das seit 2010 daran arbeitet, die Bedeutung des Begriffs “Streichquartett” zu erweitern. Die vier Polen spielen Klassik, Jazz und alles Mögliche dazwischen. Und manchmal komponieren ihre Mitglieder auch eigene Werke. Aus der zwei Jahre langen Zusammenarbeit mit dem NFM Leopoldinum Orkiestra in Breslau gingen mehrere Werke hervor, für die sich das vierköpfige Ensemble Unterstützung von einem großen Orchester geholt hat.

Das Stück, das bislang nur in einer (guten) Live-Aufnahme vorliegt, ist eigentlich Pop: fette Synkopen, blue notes, treibende Basslinien; hier ist alles drin, was man einem Streichquartett sonst nicht zumuten würde. Kleine Zwischenspiele, die unvermittelt an Alte Musik erinnern, wechseln sich mit eingängigen, jazzigen Motiven ab. Es ist unterhaltsame Musik, zu unterhaltsam für manche.

Aber das muss uns nicht stören. Hört euch die neueste Musik für klassische Instrumente an, die ich bisher vorgestellt habe: Ein 2019 explodierter Stern, von dem eine leuchtende Wolke aus Klassik, Jazz und Pop zurückgeblieben ist: “Supernova” von Krzysztof Lenczowski.

https://www.youtube.com/watch?v=MRvBvbymTKc (Öffnet in neuem Fenster)

Hier findest du das Stück bei den Streamingdiensten (Öffnet in neuem Fenster).

Übrigens: Auf dem gleichen Konzert, auf dem obige Live-Aufnahme entstand, wurde auch Hanna Kulentys fantastisches “Concerto Rosso” von 2017 aufgeführt, über das ich bereits (Öffnet in neuem Fenster) schrieb.  

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

P.S.: Danke, dass du die Schleichwege liest. Wenn dir dieser Newsletter ein Schlüssel zu klassischer Musik ist, unterstütze meine Arbeit auf Steady (Öffnet in neuem Fenster). Als kleinen Dank erhältst du eine Playlist (für Spotify und Apple Music) mit fast einhundert Lieblingsstücken zum Entdecken.

Kategorie Neoklassik & Crossover

1 Kommentar

Möchtest du die Kommentare sehen?
Werde Mitglied von Gabriel Yoran: Schleichwege zur Klassik und diskutiere mit.
Mitglied werden