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Es ist die Freiheit, die wir lieben müssen

Jean-Philippe Rameau: Die Boreaden – Suite (1763)

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Eine Frau, die einen mysteriösen Fremden ohne Rang und Namen liebt und dafür alles aufgibt; eine Frau, die um der Liebe Willen das Gesetz ignoriert. Das war vielleicht doch zu revolutionär für das absolutistische Frankreich. Jedenfalls wurde die Premiere von Jean-Philippe Rameaus Oper mit ebenjener Handlung im Jahr 1764 kurzfristig abgesagt. Danach sollte es über zweihundert Jahre dauern bis “Die Boreaden oder der Triumph des Abaris” endlich auf die Opernbühne kommen sollte, in einem sehr anderen Frankreich, in einem sehr anderen Europa.

Französische Opernlibrettisten (also die Autoren der Texte zur Musik) des 18. Jahrhunderts verwendeten gerne mythologisches Material, so auch Louis de Cahusac, dem das Libretto zu den Boreaden zugeschrieben wird. Der fantastische Stoff hat den Vorteil, etwaige gesellschaftliche Kommentare in plain sight verstecken zu können. Zudem geben Geschichten um Göttinnen und Götter immer Anlass für knallige Bühneneffekte.

Die independent woman, um die es in Rameaus Oper geht, ist die Königin von Baktrien, einer Gegend im heutigen Afghanistan. Sie muss, so will es das Gesetz, ihren Ehemann aus den Boreaden wählen, den Nachkommen von Boreas, dem Gott des Nordwinds. Aber sie will nicht, denn ihre Liebe gilt einem mysteriösen Fremden. Für ihre Freiheit, zu lieben wen sie will, verzichtet sie sogar auf die Krone. Boreas ist not amused und nimmt furchtbare Rache, mit dem einzigen was er kann: Wind, Sturm, Orkan. Wenn man sich mit einem Windgott anlegt, gibt es nicht nur schlechtes Wetter, das ganze Klima ist in Gefahr.

Boreas droht der Königin mit Folter, wozu es zum Glück nicht mehr kommt, denn Apollon selbst taucht auf – ein deus ex machina im Wortsinn. Der mysteriöse Geliebte der Königin ist tatsächlich ein Sohn Apollons, der ja Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung, der Weissagung, der Bogenschützen, der Dichtkunst, der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs ist. Das schlägt natürlich den läppischen Nordwind, das ist ja sofort einsichtig. Die Königin kann den Fremden, Abaris, also gefahrlos heiraten, alles gut. Die Pointe dieser Oper könnte also sein: Wenn du nur deinem Herzen folgst statt dem Gesetz, fügen sich dir noch die höchsten Mächte.

All dies ist möglicherweise aufrührerisch und natürlich wunderbar, aber für den Genuss der Musik relativ unerheblich. Französische Opern des 18. Jahrhunderts waren voller Instrumentalmusik und Tänze, die die Handlung keinen Zentimeter voranbrachten, aber dennoch oft die unterhaltsamen Höhepunkte darstellten. Rameau selbst blieb dieses Phänomen nicht verborgen. Er schrieb bereits 1735 über seine Oper Les Indes galantes, dass das Publikum die reinen Orchesterstücke viel lieber zu mögen schien als den Rest seiner Oper. Also begann er, die Stücke ohne Gesang separat herauszugeben, damit sie auch ohne Operntamtam aufgeführt werden konnten. Diese Best-Ofs von Opernmusik für Orchester allein heißen Suiten – und es gibt sie bis heute.

Bei den Boreaden kam Rameau nicht mehr dazu, eine Suite herauszugeben, er starb noch während der Proben. Wer also heute eine Suite aus Rameaus Oper aufführen möchte, muss sich selbst behelfen und auswählen, welche Instrumentalstücke gespielt werden sollen.

Über dem zweiten Akt steht: “Es ist die Freiheit, die wir lieben müssen, sie ist der höchste Gott.” War das Kritik am Gesetz, das ja auch nur ein Mythos ist – oder am real existierenden, absolutistischen Herrscher Frankreichs? Die Oper wurde nicht aufgeführt, aber diese Ideen waren in der Welt.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod Rameaus verabschiedet die französische Nationalversammlung die Menschen- und Bürgerrechte, deren Artikel 1 mit den Worten beginnt: “Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.” Der höchste Gott wurde Recht. Es war das Jahr 1789.

Ein guter Einstieg in Rameaus Musik ist dieses zarte Zwischenspiel aus den Boreaden, hier gespielt vom hr-Sinfonieorchester: 

https://youtu.be/PjVbFmuYcIk?t=383 (Öffnet in neuem Fenster)

Und hier die Klavierbearbeitung des isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson, die ein solcher Hit zu werden versprach, dass sein Plattenlabel Deutsche Grammophon ein Musikvideo dafür drehen ließ. (Es wurde ein Hit.)

https://www.youtube.com/watch?v=qTwqBVt2Clw (Öffnet in neuem Fenster)

Hier findet ihr die Streaminglinks zu Ólafssons Klavierbearbeitung (Öffnet in neuem Fenster) und der Orchesterfassung (Öffnet in neuem Fenster) in einer Aufnahme unter der Leitung von Teodor Currentzis.

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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