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Der Teufel ist nicht totzukriegen

Witold Lutosławski: Variationen über ein Thema von Paganini, Fassung für Klavier und Orchester (1977-78)

Vorab eine kleine Bitte: Für die Schleichwege zu bezahlen, ist freiwillig. Fast alle Texte sind gratis zu lesen. Damit das funktioniert, gibt es Sponsoren. Die würden jedoch gerne ein bisschen mehr über euch erfahren. Beantwortet ihr mir daher bitte diese ganz kurze anonyme Umfrage (Öffnet in neuem Fenster)? Merci!

Wenn einer zu gut ist in seiner Profession, muss Gott seine Hände im Spiel haben. Oder Satan.

Der italienische Geiger, Bratschist und Komponist Niccolò Paganini stirbt am 27. Mai 1840, bevor ein Geistlicher herbeigerufen werden kann. Da sein Geigenspiel mit irdischen Fähigkeiten nicht zu erklären war, muss er mit dem Leibhaftigen im Bunde gewesen sein. Also verweigert die katholische Kirche ihm ein Begräbnis in seiner Heimatstadt Genua.

Erst 36 Jahre später und in einer anderen Stadt, Parma, findet Paganini seine letzte Ruhe. Für immerhin siebzehn Jahre.

Denn 1893 wollte ein tschechischer Geiger die Gebeine des “Teufelsgeigers” betrachten – und Paganinis Enkelsohn willigt ein. Erst Jahre später kommt er wieder unter die Erde.

Sponsor

Die heutige Ausgabe der Schleichwege wird präsentiert von note 1 music (Öffnet in neuem Fenster). note 1 vertreibt nicht nur ein breites Spektrum noch so nischiger Klassik, sondern produziert mit eigenen Labels auch Aufnahmen von Musik, die man nicht überall hören kann. Auch Werke von Lutosławski findest du im Katalog von note 1. Auf meinen Text hat der Sponsor keinen Einfluss.

Tatsächlich kommt Paganini bis heute nicht zur Ruhe. Und zwar nicht wegen seiner innovativen Spieltechnik oder seiner getuneten Instrumente (ungewöhnlich dünne Saiten, besonders gerader Bogen), sondern wegen einer musikalischen Idee. Im letzten seiner “24 Capricci für Solovioline” stellt er ein Thema vor (eine Melodie), das er als Grundlage für elf Variationen verwendet.

Das Thema dauert, wenn die Geigerin Hilary Hahn es spielt, ungefähr sechzehn Sekunden. Hört es euch an, im folgenden Video von 0:08 bis 0:24.

Niccolò Paganini: Caprice 24 (1820)

https://youtu.be/8OmhhxntAzM?si=yaEMwyDzSMlUMi2x&t=8 (Öffnet in neuem Fenster)

Seit 1820 geistert dieses Thema nun durch die Musikgeschichte. Alleine diese Liste (Öffnet in neuem Fenster) nennt Dutzende Werke für alle erdenklichen Soloinstrumente und Besetzungen, die sich an Paganinis Thema abarbeiten (“Besetzung” bedeutet die Instrumente, für die ein Werk geschrieben wurde).

1838 zum Beispiel schreibt der Komponist und Klaviervirtuose Franz Liszt eine Fassung der Paganini-Variationen für Klavier solo, die technisch so schwierig ist, dass Profis sich weigern, sie zu spielen. Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin begründet das (Öffnet in neuem Fenster) in diesem Beitrag des Bayerischen Rundfunks. Zum Glück legt Liszt 1851 eine zweite Fassung vor, die Hamelin “eleganter” nennt und die zudem leichter zu spielen ist.

Auch Johannes Brahms komponiert seine eigenen Paganini-Variationen, aber eigentlich nur für sich selbst, sie sind nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Im Gegensatz zu der Liszt-Fassung sind sie nicht nur Transkriptionen. Brahms erfindet ganz neues musikalisches Material. Zum Glück änderte er nach einigen Jahren seine Meinung und veröffentlicht das Werk. So können wir seinen sehr freien Umgang mit dem Paganini-Thema erleben. Wie versonnen und grüblerisch diese Variationen zum Teil klingen, ist fantastisch, fraglos ein Werk von eigenem Rang. Hier ein Mitschnitt mit dem legendären Emil Gilels am Klavier:

Johannes Brahms: Variationen über ein Thema von Paganini (1862/63)

https://www.youtube.com/watch?v=SHw2RthV2pM (Öffnet in neuem Fenster)

Mein erstes Mal mit den Paganini-Variationen war in der Fassung des russischen Spätromantikers Sergei Rachmaninow. Er nennt sein Werk eine “Rhapsodie”, also ein Stück, das keiner festen Form folgt. Einerseits gibt es auch bei ihm Paganinis Thema und dann Variationen (vierundzwanzig an der Zahl). Tatsächlich ist bei Rachmaninow aber alles ein bisschen anders, so wird das Thema erst nach der ersten Variation vorgestellt. Vor allem aber benutzt er in mehreren Variationen eine weitere Melodie, die erstmals im 13. Jahrhundert aufgetaucht ist: Die Vertonung eines mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht: “Dies irae” (“Tag des Zorns“).

Rachmaninow selbst schreibt, dass er damit den Dialog Paganinis mit dem Teufel vertonen wollte. Der russische Komponist greift, 20. Jahrhundert hin oder her, den Teufelsgeiger-Mythos in seiner Musik wieder auf.

Der folgende Mitschnitt eines Konzerts in Russland hat nicht nur den großen Vorteil, dass im Video rechts unten Nummer und Bezeichnung der aktuellen Variation eingeblendet wird, es sind auch alle Variationen unter dem Video verlinkt und im Video markiert, so das man sehr gut sehen kann, wie unterschiedlich lang sie auch sind, von ein paar Sekunden am Anfang zu einer schmelzenden, elegischen Variation XVIII, die fast drei Minuten dauert. Das Dies-irae-Motiv ist erstmals in Variation VII zu hören (im Video bei 3:44).

Sergei Rachmaninow: Rhapsodie über ein Thema von Paganini (1934)

https://youtu.be/zbGajVU7CGk?si=J19mCrZMTxKXc8Nf&t=9 (Öffnet in neuem Fenster)

Als Rachmaninows Paganini-Variationen 1934 in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland uraufgeführt werden, ist im alten Europa bereits das Teufelswerk des Nationalsozialismus ins Werk gesetzt worden. Die Deutschen hatten sich ihren Satan selbst gewählt, sie hatten die junge Demokratie der Weimarer Republik kaputtgewählt.

Wenige Jahre später flieht ein junger Mann durch Polen. Seine beiden Eltern, polnischer Landadel, waren 1918 von einem russischen Erschießungskommando getötet worden. Witold Lutosławski ist 26, als die Nazis in den Westen und die Sowjets in den Osten Polens einfallen, beide ohne Kriegserklärung. Er wird von der Wehrmacht festgenommen, aber auf dem Weg ins Gefangenenlager schafft er die Flucht. Er geht zu Fuß zurück nach Warschau, vierhundert Kilometer. Sein Bruder gerät in russische Kriegsgefangenschaft und stirbt in einem sibirischen Arbeitslager.

Um zu überleben, tritt Lutosławski zusammen mit seinem Freund, dem Komponisten Andrzej Panufnik (um ihn wird es in einem späteren Schleichweg auch noch gehen), im besetzten Warschau als Klavierduo in Cafés auf. Die beiden spielen Werke, die Lutosławski für Klavier vierhändig oder zwei Klaviere arrangiert. Da er der bessere Pianist von den beiden ist, schreibt er zwei unterschiedliche schwere Stimmen und gibt Panufnik die leichtere. Eines dieser Stücke ist, man ahnt es, die Variationen über ein Thema von Paganini.

Ein älterer weißhaariger Herr im Anzug sitzt am Flügel, den linken Arm auf den aufgeklappten Klavierdeckel gelehnt. Auf dem Notenständer lehnt eine Partitur im Arbeitszustand.

Witold Lutosławski am Klavier (Quelle: Karol Langner in der englischen Wikipedia, via Wikimedia Commons (Öffnet in neuem Fenster))

Im Gegensatz zu den Werken von Liszt, Brahms oder Rachmaninow enthält Lutosławskis Version eigentlich keine neue Musik, sie ist eine – wenn auch sehr fantasievolle – Transkription Paganinis eigener Variationen. Der amerikanische Musikwissenschaftler und Komponist Steven Stucky schreibt in seinem Lutosławski-Buch, dass das Werk des Polen darin Liszts Version viel näher ist, da keine neuen Variationen erfunden werden. Tatsächlich überträgt Lutosławski in jeder Variation die ursprüngliche Paganini-Violinstimme in die Tonsprache des Klaviers.

Lutosławski, schreibt Stucky, wäre nach Paris gegangen, wenn der leidige Krieg nicht ausgebrochen wäre. Aber mit seinen leicht ironischen, im Café uraufgeführten Paganini-Variationen, kam er der “glitzernden französischen Oberflächlichkeit“ (Stucky) so nah wie nie. (Das ist, da bin ich mir ziemlich sicher, nicht böse gemeint.)

Sämtliche Transkriptionen aus Lutosławskis Zeit in den Warschauer Cafés sind verloren gegangen – sämtliche außer seinen Paganini-Variationen. Und so hören sie sich an:

Witold Lutosławski: Variationen über ein Thema von Paganini, Fassung für zwei Klaviere (1941)

https://www.youtube.com/watch?v=vsQo0z5CqM8 (Öffnet in neuem Fenster)

Der Krieg endet, und in Polen wird eine Repression durch eine andere ersetzt. Die Kommunisten mögen überhaupt nicht, dass Lutosławskis Musik mittlerweile deutlich experimenteller, innovativer geworden ist. Er experimentiert mit Zufallselementen, der sogenannten “Aleatorik”. Sie erlaubt in einem festgesteckten Rahmen gewisse freie musikalische Elemente. Und überhaupt verabschiedet er sich von den (neo)klassischen Formen und macht sich auf die Suche nach einer eigenen Tonsprache.

Offiziell ist das Ziel kultureller Tätigkeit in den Ostblockstaaten die “Bildung der Massen” (so die “Große Sowjetische Enzyklopädie”), aber was darunter zu verstehen sei, machen kleingeistige Kulturfunktionäre durch die großzügige Verhängung von Auffühungsverboten klar. Stalin macht “Formalismus” zu einem Schimpfwort. Der Begriff steht nun für vom sozialistischen Realismus abweichenden Stil, für Arbeiten, die nur einer Elite zugänglich sind, für “westliche Dekadenz”. Lutosławskis erste Sinfonie (vollendet 1947) gilt als so ein Fall – und wird von den Stalinisten verboten.

Viele Jahrzehnte später wendet sich Lutosławski noch einmal den Paganini-Variationen zu. Es ist die Wiederholung einer Wiederholung – von einer Wiederholung. Und trotzdem könnte es kaum spannender sein: Zwischen 1977 und 1978 arrangiert er seine eigene Bearbeitung für zwei Klaviere noch einmal neu, diesmal für Klavier und Orchester. Und macht aus seiner Salonmusik ein glitzerndes, fetziges Orchesterspektakel, das alles zeigt, was er in der Zwischenzeit an Instrumentation gelernt hat.

Witold Lutosławski: Variationen über ein Thema von Paganini, Fassung für Klavier und Orchester (1977-78)

https://www.youtube.com/watch?v=q5zYkWK-rkM (Öffnet in neuem Fenster)

Lutosławskis Paganini-Variationen für Klavier und Orchester findest du übrigens auf der CD “Orchesterwerke Vol. 2” (Öffnet in neuem Fenster), die beim Schleichwege-Sponsor note 1 music erhältlich ist. In dem du nicht nur streamst, sondern auch CDs kaufst, unterstützt du die Arbeit der Musiker*innen.

Es ist über zweihundert Jahre her, dass die Noten zu Paganinis “24 Capricci” erstmals erscheinen. Er selbst hat das Werk nie öffentlich aufgeführt. Aber, auf eine Art, die halbe Musikwelt für Jahrhunderte und Jahrhunderte. Wenn das nicht mit dem Teufel zugeht.

Herzliche Grüße aus Berlin
Gabriel

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Kategorie Moderne

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