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15. gemeinsame Wetugabung (9. Kriegsausgabe)

Hallo,

ein ungeheurer Kulturbruch hat stattgefunden, die Machtübernahme von Elon Musk bei Twitter. Eine Völkerwanderung von Twitter nach Mastodon ist im Gange, und ich berichte live aus Marseille! Dann geht es noch um das Berlin-Kreuzberger "Café Anal" der späten Neunzigerjahre, um Flippern und performative Kommunikation. Und alles hängt mit allem zusammen.

I.

Ich bin für einen Monat in eine Dachkammer in der Altstadt von Marseille gezogen, die ein bisschen wie ein Kajütboot eingerichtet ist: überall charmant mit Seemannsknoten gesicherte Notlösungen. Die Koje ist ein Hochbett, und so wie man da raufkraxelt, stelle ich mir Bouldern vor. Man muss sich hier jeden Schritt gut überlegen, das ist keine Wohnung, die einem entgegenkommt. Sie stellt Ansprüche. So hat man sich früher in der Alternativszene eingerichtet, in verlassenen Fabriketagen, hat selbstbestimmt gewohnt und morgens gefroren. Hier der Blick aus meinem Fenster.

Und außerdem bin ich ins Fediverse umgezogen. Ich habe meinen Twitter-Account gelöscht – den einzigen Ort, an dem ich erfolgreich Werbung für diesen Newsletter machen konnte (auf Instagram interessiert er wirklich niemanden), aufmerksamkeitsökonomisch also eine Art Selbstverstümmelung. Aber man muss manchmal Schnitte setzen.

Jetzt bin ich also auf Mastodon. Das ist keine Social-Media-Plattform, die einem entgegenkommt. Sie stellt Ansprüche. Und weil die Zahl der Menschen, die seit dem Herrscherwechsel aus Twitterstan flüchten, dort jetzt mindestens sechsstellig ist und weiter wächst, kommt es bei Neuankömmlingen wie Alteingesessenen zu heftigen Kulturschocks, die man sehr unterhaltsam finden kann: ein Autounfall in Zeitlupe, eine Kollision der aufmerksamkeitsökonomischen Ansprüche einer globalisierten Elite mit ihrem ganzen aktivistischen Wumms mit dem trägen, freundlichen und provinziellen Stolz der vielen kleinen Server-Dörfer, aus denen Mastodon besteht.

Da ist jetzt allseits großes Ohrenwackeln. Alt-Aussteiger*innen, die sich in ihrer Enklave eingerichtet hatten, treffen auf Jetset-Aussteiger*innen mit Rimowa-Koffern. Alte Themen wie „Alternativkultur oder Mainstream“, „Engagement oder Kommerzialisierung“, „Eitelkeit oder Langeweile“ werden auf geradezu rührende Weise wieder durchgekaut, 1978 reloaded.

Auf Mastodon heißt Twitter nur noch „the birdsite“ und der neue Besitzer „Melon Husk“. („Enno Muskel“ finde ich aber auch sehr schön.) Unten Links zu zwei Artikeln über den sehr jungen Alleinherrscher über den Code von Mastodon, der open source ist, so dass ihn inzwischen leider auch Donald Trump für sein eigenes Netzwerk Truth Social nutzen kann.

Sehr verwirrend, das alles. Das ist keine bedienungsfreundliche Benutzeroberfläche, und man muss da durch. Man muss da raufkraxeln wie beim Bouldern.

Mich erinnert der ganze Kladderadatsch übrigens an einen anderen Ortswechsel, den Umzug von Windows und MacOS auf Linux, den ich vor bestimmt zehn Jahren vollzogen habe, oder auch an den Umzug auf eine neue Linux-Distro, wenn ich es geschafft habe, meine zu schrotten. Beides erinnert mich an Linux, meine Dachkammer in Marseille und mein neues soziales Medium mit den Stoßzähnen.

II.

Auf Mastodon lautet ein Hauptvorwurf der „Alten“ an die „Neuen“: „performatives Sprechen“: Die Neuen würden ja auftreten, als wäre man ihr Publikum! Mir dagegen fällt es schwer, mir in der Teilöffentlichkeit eines sozialen Netzwerks überhaupt etwas anderes vorzustellen als performatives Sprechen. Was sollte das den sein? Und was wäre das von den „Alten“ propagierte „authentische“ Sprechen anderes als performative Bescheidenheit?

Aber nur dem performativen Sprechen der „Neuen“ werden Eitelkeit und Geltungssucht unterstellt. Es gibt im deutschen Alt-Mastodon überhaupt sehr feste Vorstellungen von Anstand und Benimm, und man soll sich bitte auch erstmal ordentlich vorstellen.

Man bleibt in den daraus entstehenden  Auseinandersetzungen stecken wie in einem Sumpf. Aber sie laufen ja erst ein paar Tage, mal sehen, wie es weitergeht.

Grundsätzlich ist Mastodon eine von Aussteiger*innen gegründete Einrichtung – weg vom Kommerz, vom Datenklau der großen Konzerne, hin zu einem besseren Online-Leben, am besten ganz, kombiniert also mit einem alternativen Smartphone OS und einem Konto bei einer nachhaltigen Alternativ-Bank. Sehr deutsch, man muss ein bisschen an die Wandervogel-Bewegung denken.

Am Ende kommt man an eine Hütte im Wald, und man klopft an, und es öffnet ein Mann, der einem erklärt, dass diese Hütte der einzig mögliche Weg wahrhaftigen Lebens ist und er sie deshalb gebaut habe. In dieser Hütte sitze er nun und lebe den Richtigen Weg, und etwas anderes gebe es nicht - als da zu sitzen, bescheiden, und selbstangebaute Möhren zu essen. Auf keinen Fall aber Möhren aus dem Supermarkt! Alles andere sei eitel.

Ich finde, diese Art von Eitelkeit reicht souverän an die von Enno Muskel heran. Andererseits höre ich oft, dass mir manchmal auch ein bisschen mehr Bescheidenheit gut anstehen würde. Wer authentisch ist, der werfe die erste Möhre!

Über die Trauer auf Mastodon im Angesicht der Invasion der Twitteranten gibt es einen wirklich schönen, verletzlichen und verwundeten Text von Hugh Rundle aus Australien, den ich unten verlinke.

III.

Ende der Neunzigerjahre waren wir manchmal im "Café Anal" in Kreuzberg, weil da gute Flipper standen. Sie standen allerdings auf einer kleinen Bühne, und wenn die drag queens auftraten, mussten wir aufhören, weil sie weggeräumt wurden. An sie denke ich, wenn ich „performatives Sprechen“ höre.

Deren Performance sagt: Was ich euch zeige, ist nicht echt! Es ist nicht wahr! Und gleichzeitig: Das bin ich! Das ist mein wahres Ich! Nichts anderes ist wahr, und ihr könnt mich mal.

Daraus folgt: Es gibt nichts Echtes, echte Genderorientierung eingeschlossen. Das performative Sprechen, das ich meine, weiß das. Es posiert und macht sich dabei verletzlich. Es kennt die Gegenreaktionen auf diese Art von Ehrlichkeit, und setzt aus Trotz noch eins drauf. 

Es ist grotesk, dass ich hier stehe. Aber meine Groteske ist auf tiefere Weise wahr als eure Bürgerlichkeit.

So habe ich eigentlich früher als Kritiker gearbeitet, und so habe ich mir die Protest-Telegramme und wütenden Beschwerden bei diversen Chefredaktionen eingefangen, von Luc Bondy oder Mario Adorf, die ich immer als Zeichen dafür verstanden habe, dass ich etwas richtig mache. (Die Chefredakteure haben das nicht immer so gesehen.)

Das ist der junge Volker Spengler in Fassbinders-Film „In einem Jahr mit 13 Monden“ von 1978. Seine Figur, ein Transmensch, setzt sich hier gerade aus und macht sich auf der Kühlerhaube des Lebensgefährten, der sie gerade verlässt, verletzlich - ein heroischer Akt in der bürgerlichen Kälte der alten Bundesrepublik, die diese Figuren umgibt und die Fassbinders Thema ist.

Man muss sich natürlich nicht aussetzen wollen, man kann sich auch durchsetzen wollen, und auch dafür gibt es Formen des performativen Sprechens, die gesellschaftlich tatsächlich belohnt werden. Dann behauptet man sich nicht im poetischen Sinn – indem man sich als Behauptung auf die Bühne wirft, auf die Gefahr hin, verachtet zu werden – sondern im machtpolitischen Sinn. Indem man verachtet, zum eigenen Nutzen. Indem man sich unangreifbar macht, ohne sich einzugestehen, in welchem Maß man es aus Angst davor tut, verachtet zu werden.

Ich verachte das tief.

IV.

Danke, danke, danke. Danke fürs Lesen, danke für den Abschluss eines Bezahlabos, wenn das Geld reicht. Übrigens bin ich der Ansicht, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

Links

TIME-Interview mit Eugen Rochko

https://time.com/6229230/mastodon-eugen-rochko-interview/ (Öffnet in neuem Fenster)

Kritik an Eugen Rochko (2019)

https://www.dailydot.com/debug/mastodon-fediverse-eugen-rochko/ (Öffnet in neuem Fenster)

Trauer im Angesicht der Invasion

https://www.hughrundle.net/home-invasion/ (Öffnet in neuem Fenster)

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