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Hallo!

In einer Zeit, in der ich keine Lust mehr habe, die individuellen Verdummungsfaktoren von Precht, Welzer, Merz, Trump gegeneinander abzuwägen, und auch keine Lust mehr, darüber nachzudenken, wie kalkuliert sie jeweils handeln, als wären sie doch irgendwie vernunftgeleitet und nicht einfach auf tollwütige Weise eitel, tröste ich mich mit toten französischen Philosophen und Althistorikern. Später kommen noch Horkheimer und Adorno dazu.

(Bildbeschreibung: Ein Trieb von Epiphyllum crenatum mit Luftwurzeln versucht, die „Dialektik der Aufklärung zu überwuchern.)

I. Paul Veyne

Vom Althistoriker Paul Veyne (gestorben am 29. September) hatte ich noch nie gehört, aber in den Nachrufen gab es einen Buchtitel, der bei mir einen Bestellreflex auslöste: „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ (Deutsche Übersetzung in der edition suhrkamp 1987, geliefert als frischgedruckte Erstauflage in einer Book-on-Demand-Qualität, die so schrottig ist, dass man den Glauben an das Mythos Buch sofort verliert.)

Die Frage im Titel berührt natürlich die Frage danach, was Glaube und Mythos sind, auch einander. Auf den paar Buchseiten, die ich bisher geschafft habe, geht es im weitesten Sinne um die Bedingungen, unter denen Gruppen (hier: im alten Griechenland) ihre Wahrheiten konstruieren und in der Folge ertragen – mit Hilfe einer Art „Literatur vor der Literatur“, deren Wert dann vom „Aufkommen neuer affirmativer Mächte (die historische Erhebung, die spekulative Physik) erschüttert“ wird. Von wissenschaftlichen Konkurrenzerzählungen, die jetzt die aus Wahrheitssplittern, Hörensagen und Erfindungen zusammengesetzte alte Geschichtsschreibung zu einer glaubwürdigen Quelle ummünzen und ihr ein Gewicht zusprechen, die sie nie besaß und die auch nie von ihr verlangt worden war. Die Antike: ein einziges Missverständnis.

Glauben wir an unsere Mythen? Interessant finde ich die Fragestellung in Bezug auf unsere meiner Beobachtung nach stark regressive Geschichtsschreibung der Gegenwart, zusammengesetzt aus Wahrheitssplittern, Hörensagen und gefühlten Fakten, die uns über Talkshows vermittelt werden und inzwischen von einer so heftig anschwellenden Wahnhaftigkeit sind, dass wir das Ganze nur noch schwer mit den Ansprüchen unserer Vernunftkultur zur Deckung bringen können. Auch deshalb, weil unsere Vernunftkultur verlernt hat, Wahn und Mythos einen Platz zu geben, an dem beide nicht überschätzt oder verachtet werden.

Paul Veyne spricht historisch von der „Säuberung des Mythischen durch den Logos“, sagt aber, Mythos und Logos stünden einander nicht gegenüber wie Wahrheit und Lüge. Das wird Querdenkern genauso viel zu denken geben wie mir. Das letzte Kapitel des Buches heißt „Man muss sich zwischen der Kultur und dem Glauben an eine Wahrheit entscheiden“ - eine mannhafte Setzung, von der mir ganz schwindelig wird, weil ich noch nicht weiß, was Kultur, Glaube und Wahrheit hier bedeuten. Ich bin gespannt und nehme das Buch mit auf meine einmonatige Schreibklausur in Marseille

Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass dieses Buch über das alte Griechenland und dessen Spiegelung durch die Geschichtsschreiber des alten Roms, über Methoden und Grenzen der Geschichtsschreibung überhaupt, mich ziemlich genau in die Nebel des Wahns führt, in dem wir gerade alle leben (und vielleicht schon immer gelebt haben, nur dass es bisher besser zu verschmerzen war).

Ich verlange von Paul Veyne ja keine Antworten. Nur Fragen. Ich möchte einfach nur Zeit mit jemandem verbringen, der denken möchte, weil die stolze Verweigerung des Denkens rundherum bei mir Erstickungsanfälle auslöst.

(Bildbeschreibung: Griechische Mythen - zwei Erscheinungsformen der Odyssee von Homer und anderen)

II. Bruno Latour

Ich habe seit 1995 immer wieder versucht, Bruno Latour zu lesen und bin dabei nie glücklich geworden. Etwas an den Texten war mir unsympathisch, wahrscheinlich die Leichtfertigkeit, das champagnerhafte Perlen der Setzungen und Behauptungen, die Verschmitztheit. Ich bin Norddeutscher, und mein Denken ist geprägt vom schweren Gang im Regen durch die Matsche, von Hügelgrab zu Hügelgrab.

Ein sehr kluger Nach-Nachruf von Philipp Sarasin auf dem von ihm mit geleiteten Schweizer Portal „Geschichte der Gegenwart“ - Link unten - hat mir erklärt, worum es bei Latour gehen könnte: Um eine Art allumfassender Relationalitiät, eine Enthierarchisierung des Verhältnisses von Mensch und Ding, die Latour zu einer Art Onkel der objektorientierten Ontologie von Graham Harman macht. Um metaphysische Anwandlungen bis hin zu Sympathien für die Gaia-Hypothese von Lynn Margulis und James Lovelock aus der Mitte der Siebzigerjahre, die den Planeten Erde als großen Organismus versteht, was sehr schön ist, aber auch sehr kitschig – die Gaia-Hypothese hängt am Latour wie Timothy Morton am Harman.

Vor allem aber: Sarasin beschreibt Latours Denken als Akt der Rebellion gegen bestimmte in Marmor geschlagene erkenntnistheoretische Positionen, die in der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis eine Art heilige Reinheit anstreben. Sarasin spricht vom „Gegensatz zwischen einem ‚körperlosen Beobachter‘ und dem ‚Ding-an-sich‘ bei Immanuel Kant, mit dem für Latour die ‚Katastrophe‘ der modernen und postmodernen Erkenntnistheorie anfing.“ Die Vernunft, der sich die Erkenntnis in diesem Denken bedient, ist „körperlos“, ihr Gegenstand „unfassbar“.

Latour verschmutzt gewissermaßen die Erkenntnistheorie, in dem der dem, was erkannt werden soll, eigene Handlungsmacht zuschreibt, bis es gar kein reines Erkennen mehr geben kann, weil wir vor einem Gegenstand stehen, der unseren Blick erwidert und seinerseits daran scheitert, uns zu erkennen. Er postuliert eine Unmöglichkeit der Reinheit. So wie Paul Veyne möglicherweise eine Unmöglichkeit postuliert, Mythos, Wahrheit, Logos und Wahn säuberlich voneinander zu trennen.

III. Horkheimer/Adorno

Was ich hier postuliere, ist die Tröstlichkeit des Verfahrens, etwas auf den Begriff zu bringen oder dabei zuzusehen, wie andere es versuchen. Der Trost liegt in der Fähigkeit, etwas genau zu beschreiben, so schrecklich das Beschriebene sein mag.

So geht es mir mit dem Begriff der „bürgerlichen Kälte“, den Horkheimer und Adorno geprägt haben und den ich in einem Tweet gefunden habe, der Margarete Stokowski gegen die Verächtlichmachung ihrer Krankheit Long Covid in Schutz nahm:

Wir sind auf schmerzhafte Weise in den inneren Widersprüchen des Kapitalismus gefangen. Wir sollen gute Menschen sein und trotzdem in Konkurrenzverhältnissen funktionieren und uns durchsetzen oder uns von anderen dabei funktionalisieren lassen. Wir möchten helfen, aber wir dürfen das System nicht infrage stellen, und in dem Moment, in dem wir die Flüchtenden im Mittelmeer ertrinken lassen, setzt die bürgerliche Kälte sich in uns durch. Barmherzigkeit ist verboten.

Ich bin dann auf einen Text von Andreas Stückler aus der Zeitschrift „Soziologie“ gestoßen, in dem ein Buch von Andreas Gruschka vorkommt: „Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung“ (1994). Da geht es auch um den Umgang mit der bürgerlichen Kälte und Strategien zu deren Überwindung - Stückler über Gruschka:

„Nicht durch Hitze oder Wärme also, sondern nur durch Kälte ist die Kälte zu überwinden. Konkret bedeutet das gerade den bewussten Verzicht auf die meisten Strategien und Praxen, die heute gemeinhin mit kritischem Handeln, nämlich im Sinne einer eingreifenden Praxis, assoziiert werden. Die für die Überwindung der Kälte erforderliche Kälte besteht dagegen vielmehr in einer konsequenten Distanzierung vom gesellschaftlichen Getriebe, aus der die Kraft zu einer Kritik, die politisch veränderndes Handeln überhaupt erst ermöglichen könnte, erwachsen soll. (…) ‚Die Distanziertheit des Zuschauers wird zur Alternative des zwanghaften, durch Affekte bestimmten Mitmachens.‘“

Zu dem Thema erscheint im Januar ein Buch von Henrike Kohpeiß, das „die Gewaltgeschichte des europäischen Kolonialismus“ mit Hilfe des Begriffs als „Affekttheorie bürgerlicher Subjektivität“ lesen will, ich bin sehr gespannt, Link unten.

IV. Danke

Danke. Dankedankedanke. Christof Schlingensief hat sich gegen Ende seines Lebens eine „Kirche der Angst“ gebaut, ich baue mir jetzt die Kirche des klaren Gedankens. (Einer genügt.) Ich flüchte mich in die Gemeinschaft derer, die nicht verstehen und trotzdem weiterdenken, so klar sie können. In die Gemeinschaft jener, die sich eingestehen, dass es im Leben nicht um sie selbst geht, nicht um ihre Erkenntnis, ihre Theorie und ihren Sieg – vergl. die letzten Zeilen in meinem Lieblingslied einer meiner beiden musikalischen Hausgöttinnen, Joni Mitchell. Video unten. (Wer die andere errät, bekommt ein Freiabo dieses Newsletters, den sowieso alle umsonst abonnieren können.)

Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

Links und Vids

Paul Veyne (Warnung für alle, die das Buch aus farblichen Gründen bestellen: Das gelieferte Cover war bei mir nicht hellgrau, sondern krachgrün.)

https://www.suhrkamp.de/buch/paul-veyne-glaubten-die-griechen-an-ihre-mytheno-t-9783518112267 (Öffnet in neuem Fenster)

Philipp Sarasin über Bruno Latour

https://geschichtedergegenwart.ch/menschen-und-nichtmenschen-zum-tod-von-bruno-latour/ (Öffnet in neuem Fenster)

Bürgerliche Kälte

https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/philosophie/buergerliche_kaelte-17482.html (Öffnet in neuem Fenster)

Joni Mitchell

https://www.youtube.com/watch?v=tKQSlH-LLTQ (Öffnet in neuem Fenster)

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