Zum Hauptinhalt springen

Something pure to emulate: Essex Hemphill (1957-95)

"It is not enough to tell us that one was a brilliant poet, scientist, educator, or rebel. Whom did he love? It makes a difference. I can't become a whole man simply on what is fed to me: watered-down versions of Black life in America. I need the ass-splitting truth to be told, so I will have something pure to emulate, a reason to remain loyal.” 

Dieser Absatz aus Essex Hemphills Essay Loyalty steht symptomatisch für das Schaffen des 1995 verstorbenen Dichters und Aktivisten. Darin lässt sich Hemphills poetologisches Prinzip erkennen; das Bedürfnis, freimütig Zeugnis abzulegen, aufzuklären, Sichtbarkeit zu schaffen, die Lyrik als Verhandlungsort des Spannungsfelds der Identität(en) zu nutzen. 

Sexuelles Begehren trifft auf Gesellschaftskritik

Hemphills Werk löst konsequent die Grenze zwischen dem Politischen und dem Privaten auf. Es adressiert Homophobie, Rassismus und Klassismus, verbindet sexuelles Begehren mit Gesellschaftskritik, ist explizit und körperlich, konfrontativ und erotisch. Exemplarisch hierfür ist etwa seine Wahl des Begriffs "ass-splitting" als Metapher im obigen Zitat, der eigentlich eine raue Form des Analsex bezeichnet.

Hemphill wurde 1957 in Chicago geboren und wuchs in Washington D. C. auf, wo er den Großteil seines Lebens verbringen sollte, bevor er sich in Philadelphia niederließ. Die Lyrik bot ihm bereits in seiner Jugend eine Zuflucht vor den ärmlichen Verhältnissen, in denen er aufwuchs und dem Gefühl des Andersseins, das sich aus seinen Erfahrungen als Schwarzer Jugendlicher und seiner aufkeimenden Homosexualität, speiste. 

Nach einem abgebrochenen Journalismusstudium wurde er Teil der Washingtoner Kunstszene und präsentierte seine Spoken-Word-Gedichte (Öffnet in neuem Fenster) unter anderem bei Open-Mic-Nights und auf verschiedenen Kleinkunstbühnen. 1979 gründete er gemeinsam mit Kathy Elaine Anderson das Nethula Journal of Contemporary Literature, das zeitgenössischen Schwarzen Autor*innen eine Plattform bot. Ein Jahr später outete er sich im Rahmen einer Lesung öffentlich als homosexuell.

Chronist seiner Zeit

Anfang der 1980er-Jahre begann Hemphill eigene Gedichtbände zu veröffentlichen. Größere Aufmerksamkeit bescherte ihm die Publikation einiger seiner Werke in Joseph Fairchild Beams Anthologie In the Life (Öffnet in neuem Fenster) (1986), einer als bahnbrechend geltenden Sammlung von Texten Schwarzer, schwuler Autoren. 

Beam, ein enger Freund Audre Lordes, war ein angesehener und einflussreicher Journalist, Aktivist, Autor und Dichter, der wie Hemphill Rassismus, Klassismus und die Homophobie innerhalb Schwarzer Communites anprangerte. Er spielte eine wichtige Rolle in Hemphills Leben und Werk, sowohl als Idol und Mentor als auch als Freund und kurzzeitiger Liebhaber. 

Nachdem Beam 1988 an einer AIDS-bedingten Krankheit starb, widmete Hemphill ihm das Gedicht When My Brother Fell, eine Mischung aus Klagelied und Fanal gegen die Ignoranz der US-amerikanischen Regierung den Erkrankten und Verstorbenen gegenüber.

When my brother fell / I picked up his weapons / and never once questioned / whether I could carry / the weight and grief, / the responsibility he shouldered. / I never questioned / whether I could aim / or be as precise as he. / He had fallen, / and the passing ceremonies / marking his death / did not stop the war

(erste Strophe)

Mit "sewing quilts" referenziert Hemphill den AIDS Memorial Quilt (Öffnet in neuem Fenster). Die Kriegsmetaphorik, die das Gedicht prägt, durchzieht sowohl viele seiner Texte über die AIDS-Epidemie als auch den damaligen Diskurs. Sie illustriert den verzweifelten Kampf von Betroffenen und deren Angehörigen um Unterstützung und Anerkennung. 

Die Auswirkungen der AIDS-Krise in Hemphills Werk

Die Auswirkungen von HIV und AIDS auf die queeren und Schwarzen Communities und die damit einhergehende Stigmatisierung und Untätigkeit politischer wie gesellschaftlicher Institutionen, thematisierte der Dichter bereits in seinen Bänden Earth Life (1985) und Conditions (1986). Im Gedicht "Now We Think" adressierte er die Angst, die mit dem Aufkommen von HIV/AIDS in das Sexualleben vieler schwuler Männer einzog:

Now we think / as we fuck / this nut / might kill us. / There might be / a pin-sized hole / in the condom. / A lethal leak.

We stop kissing / tall dark strangers, / sucking mustaches, / putting lips / tongues / everywhere. / We return to pictures. / Telephones. / Toys. / Recent lovers. / Private lives.

Now we think / as we fuck / this nut might kill. / This kiss could turn / to stone.

Im Jahr 1991 gab Hemphill die Anthologie Brother to Brother: New Writing by Black Gay Men heraus, eine Fortsetzung von Beams In the Life, die er nach dessen Tod vollendete. Ein Jahr später veröffentlichte er mit Ceremonies:  Prose and Poetry sein umfangreichstes Werk, das sowohl bereits veröffentlichte Gedichte als auch neue Lyrik und Prosatexte enthielt.

In den darin enthaltenen Essays To Be Real und Does Your Mama Know About me setzt er sich unter anderem am Beispiel von Madonnas Song Vogue mit kultureller Aneignung auseinander und kritisiert die Fetischisierung Schwarzer Männerkörper in der schwulen Community und im Werk des Fotografen Robert Mapplethorpe.  

Lebenszeichen als Abschied

Kurz nach der Publikation von Ceremonies erhielt er mehrere Stipendien prestigeträchtiger Institutionen und eine Position als Gastdozent in Santa Monica. 

Hemphill dokumentierte seine eigene AIDS-Erkrankung in seinem epischen Gedicht Vital Signs, das im Jahr 1993 entstand. Darin reflektiert er sein bisheriges Leben und setzt sich mit dem Verschwinden der lebenswichtigen Helferzellen (auch T-Zellen genannt) auseinander, das symptomatisch für die Krankheit ist:

I am sorting out / my patterns of habit, / those things genetics / cannot precisely pinpoint, / those things religion / cannot precisely refute

Those things / the paramedics cannot save.

This kiss, this cum, / this single T cell / I cling to, / these are my referents, / this is my religion, / my resistance, / my desire.

(Auszug aus Vital Signs XXIX)

Von Sommer 1994 an verschlechterte sich Hemphills Gesundheitszustands zusehends. Am 4. November 1995 starb er an Komplikationen, die im Rahmen seiner Krankheit auftraten.  

Einfluss und Filmauftritte

Essex Hemphills Werk hat vor allem in den USA viele Autor*innen, Dichter*innen und andere Künstler*innen beeinflusst. Unter ihnen etwa der queere Schwarze Dichter Jericho Brown, der Hemphill in seinem 2020 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Band The Tradition das Gedicht After Essex Hemphill (Öffnet in neuem Fenster) gewidmet hat. Auch der queere Dichter Danez Smith (Öffnet in neuem Fenster) zählt Essex zu seinen Vorbildern. 

Darüber hinaus wirkte Hemphill in den Dokumentationen Tongues Untied (Öffnet in neuem Fenster) (1989) und Black is... Black Ain't (Öffnet in neuem Fenster) (1991) seines Freundes Marlon Riggs mit und trat 1989 in Isaac Juliens Film Looking for Langston auf, der sich mit Schwarzer und schwuler Identität im Zeitalter der Harlem Renaissance auseinandersetzt.

Essex Hemphills Gedichte und Texte wurde bislang nichts ins Deutsche übersetzt. Auch die englischen Ausgaben seiner Werke sind selbst antiquarisch nur schwer erhältlich. (Tobi)

Kategorie Essays

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Queerer Kanon? und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden