Newsletter 05+06 / 23
Liebe Leserschaft,
liebe Mitstreiter:innen und Fachleute in der Projekte-Szene,
sehr geehrte Damen und Herren,
Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, was das Bauen eigentlich mit Kultur zu tun hat?
Heute denken wir beim Bauen nur an den renditeorientierten Wohnungsmarkt, an steigende Kosten und daran, wie jede:r sich das Wohnen noch leisten kann.
"Können wir uns dann auch noch die „Baukultur“ leisten?"
Zu dieser Frage sollen im Folgenden einige Denkanstöße gegeben werden.
Zunächst soll der Begriff „Baukultur“ definiert werden:
"Baukultur beschreibt die Summe menschlicher Leistungen zur Veränderung der natürlichen oder gebauten Umwelt. Baukultur hat neben sozialen, ökologischen und ökonomischen Bezügen auch eine emotionale und ästhetische Dimension. Baukultur ist mehr als gebaute Umwelt. Sie bedeutet Lebensqualität, stiftet Identität und vermittelt Heimat. Die Verantwortung für die Qualität der gebauten Umwelt liegt nicht allein bei den Fachleuten, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“.
In Deutschland ist der Begriff „Baukultur“ vor allem im Zusammenhang mit der Initiative Architektur und Baukultur bekannt geworden. Ziel der Initiative war es, das Niveau der Baukultur zu heben. Ergebnis des politischen Prozesses war die Einrichtung einer Bundesstiftung Baukultur (Öffnet in neuem Fenster) als Interessenvertreterin für hochwertige und nachhaltige Bauplanung und -umsetzung und als bundesweite Plattform zur Vernetzung Bauschaffender aller Disziplinen. Auf dieser Ebene wurden und werden die Herausforderungen der Zukunft öffentlich diskutiert (Umbaukultur, Umgang mit historischer Bausubstanz, Klimaschutz, Nutzung öffentlicher Räume, ...).
Baukultur kann nur erreicht werden, wenn die Bauschaffenden aller Disziplinen entsprechende Kompetenzen entwickeln. Neben der universitären Ausbildung ist vor allem die Weiterbildung der bereits Berufstätigen notwendig. Insbesondere der Bewegung „Architects for Future" ist es zu verdanken, dass das Bewusstsein für nachhaltigen Wandel im Bauwesen geschärft wurde und die Beteiligten endlich selbst Verantwortung übernehmen.
Folgerichtig mussten die Architektenkammern nachziehen. Der Vorstand der Bayerischen Architektenkammer hat seine Arbeit unter das Motto „KlimaKulturKompetenz“ gestellt. Architekten sollen eine Schlüsselkompetenz entwickeln, die benötigt wird, um die Klimaziele zu erreichen und eine Welt zu gestalten, die künftig lebenswert ist, robust gegenüber veränderungsmächtigen Ereignissen und zugleich erd- und menschenverträglich ist.
https://www.byak.de/data/bilder/News/2022/AT2023_DAB-12-2022_KlimaKulturKompetenz.pdf (Öffnet in neuem Fenster)So wie die Politik aufgrund ihrer demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen nur schwerfällig (re)agieren kann, so sind auch große Organisationen und öffentlich-rechtliche Körperschaften selten von sich aus innovativ.
"Motor und Bindeglied zwischen den verschiedenen Fachrichtungen und politischen Ebenen ist das Engagement Einzelner oder von Gruppen"
Getragen von einer Idee suchen Bürger:innen gemeinsam Wege zur Realisierung. Aus den positiven und negativen Erfahrungen lässt sich viel lernen. Auch wenn manches (noch) an aktuellen Rahmenbedingungen scheitert, kann auf gesellschaftspolitischer Ebene für die Zukunft eine Änderung erreicht werden. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg ... auch wenn dies sehr zeitaufwendig und kräftezehrend ist. Der unbedingte Wille zum Durchhalten ist nur bei den (betroffenen) Bürger:innen zu finden. Gut ist es, wenn Dachorganisationen, Lotsen oder Stiftungen helfen und unterstützen.
Mit dem Wunsch nach "gemeinschaftlichem Wohnen" werden vielfältige gesellschaftliche Themen in Eigeninitiative angegangen (Miteinander gegen Einsamkeit, Hilfe im Alltag durch Nachbarschaftshilfe, Pflege und Betreuung, Kostenersparnis durch Sharing, ...). Es geht also um die Verbesserung oder Vorsorge von Lebensqualität - irgendwo zwischen Freiwilligkeit (... nichts muss, alles kann...) und Verbindlichkeit. Viele Präambeln und Leitlinien definieren ihr Projekt über diese sozialen Komponenten. In der einfachsten Version geht es um Selbsthilfe.
Manche Wohnprojekte und Immobilien gehen einen Schritt weiter und leben "Baukultur" im Sinne der obigen Definition, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein.
Zwei Aspekte möchte ich hier vertiefen, die ich bisher nur selten in Präambeln oder Leitziele meiner Projekte gefunden habe.
Diese Aspekte können bei Bewerbungen im Konzeptvergabeverfahren eine Rolle spielen. Sie können aber auch neue Fördermöglichkeiten eröffnen.
a) Immovielien als Teil der Soziokultur
Soziokulturelle Einrichtungen sind nicht nur Kulturanbieter, sondern auch Orte der Demokratie und des Dialogs, der Prävention und Partizipation, der Teilhabe und Mitgestaltung. Nicht die Produktion und der Konsum von Kunst und Kultur stehen im Vordergrund der Soziokultur, sondern die aktive Teilhabe.
https://soziokultur.de/bundesverband/ueberuns/ (Öffnet in neuem Fenster)Gemeinschaftsräume sind das Herzstück aller Wohnprojekte. Hier ist mehr möglich als Kaffeetrinken. Gemeinschaftsräume können bewusst als Orte der „Ermöglichungskultur“ verstanden werden. Eine Ermöglichungskultur kann dazu beitragen, dass Menschen in Möglichkeiten und Lösungen statt in Problemen und Einschränkungen denken. Sie kann auch dazu beitragen, Innovationen zu fördern und Resilienz zu stärken. Es geht darum, mehr auf das Ermöglichen zu setzen und den Zusammenhalt zu stärken.
Vielversprechende Ansätze finden sich gerade in ländlichen Räumen. Als Einstieg empfehle ich gerne das Netzwerk / die Wissensplatzform "Zukunftsorte" (Öffnet in neuem Fenster) oder Utopolis (Öffnet in neuem Fenster) oder die Dokumentation aus dem Landesverband Niedersachsen
https://www.soziokultur-niedersachsen.de/files/pages/ueber-uns/veroeffentlichungen/Tagung%20Stadtentwicklung%20Juni%202022%20Dokumentation.pdf (Öffnet in neuem Fenster)Bürger:innen vor Ort treffen sich, um Lösungen selbst zu erarbeiten.
Im ländlichen Kontext sind dies: Umgang mit Leerstand, fehlender Infrastruktur, Einsamkeit, landwirtschaftlichen Produkten, ...
Im städtischen Kontext könnten andere Probleme der Daseinsvorsorge angegangen werden.
Es ist viel zu wenig bekannt, dass es auf Bundesebene die Kulturstaatsministerin Claudia Roth gibt, die für die Kulturpolitik und damit auch für die Soziokultur zuständig ist.
Die Kulturstaatsministerin fördert Einrichtungen und Projekte in allen Bereichen von Kunst und Kultur. Ja, es gibt staatliche Förderungen für soziokulturelle Einrichtungen.
Ein Beispiel für ein Förderprogramm ist NEUSTART KULTUR, das vom Bundesverband Soziokultur betreut wird. Eine Antragstellung ist leider nicht mehr möglich. Einige Projekte werden auch auf Instagram vorgestellt und sind zu finden unter
https://soziokultur.neustartkultur.de/foerderkarte/ (Öffnet in neuem Fenster)Aktuell unterstützt der "Kulturfonds Energie" des Bundes Kultureinrichtungen zusätzlich zu den Preisbremsen. Bei soziokulturellen Zentren wird der nachgewiesene förderfähige Mehrbedarf an Energiekosten unabhängig von der Trägerschaft mit bis zu 80 Prozent gefördert.
https://soziokultur.de/online-beratung-kulturfonds-energie-fuer-soziokulturelle-zentren/ (Öffnet in neuem Fenster)Fördermöglichkeiten gibt es auch über die Landschaftsverbände (Öffnet in neuem Fenster) der Soziokultur.
Die Abgrenzung zum "Bürgerschaftlichen Engagement" ist fließend. Während die Soziokultur als Resonanzboden für einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess zu betrachten ist, agiert das bürgerschaftliche Engagement in "gewohnten" Bahnen.
Erfreulich ist, dass die Bundesministerin Lisa Paus (BMFSFJ) die Strategie mit Bürgerbeteiligung überdenkt:
https://www.zukunft-des-engagements.de/ (Öffnet in neuem Fenster)Es gibt verschiedene Ansätze zur Förderung von bürgerschaftlichem Engagement auf kommunaler Ebene. Eine Möglichkeit ist die Einrichtung von Arbeitsgruppen, die sich mit der Förderung von Engagement auf kommunaler Ebene beschäftigen b-b-e.de (Öffnet in neuem Fenster). Eine weitere Möglichkeit ist die Förderung von Projekten, die das bürgerschaftliche Engagement fördern, z. B. durch das Mikroförderprogramm der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt deutsche-stiftung-engagement-und-ehrenamt.de (Öffnet in neuem Fenster).
b) Immovielien als Unternehmen
Viele Projekte leisten einen aktiven Beitrag zur Gestaltung des Gemeinwesens - zum Beispiel in Wohngenossenschaften, durch selbstverwaltete Energieversorgung, Urban Farming oder Carsharing. Für diese Art des Wirtschaftens gibt es wenig Verständnis und Unterstützung.
Vor diesem Hintergrund versucht das Projekt „Teilgabe“ durch theoretische Reflexion und interdisziplinäre empirische Sozialforschung zu verstehen, wie die Zivilgesellschaft wirtschaftet und inwieweit dies als gemeinwohlförderlich bezeichnet werden kann. Darüber hinaus sollen Kooperationen mit Praxispartnern helfen, deren Handlungsbedingungen zu evaluieren, um die Entwicklung gemeinwohlförderlicher Strukturen zu unterstützen. Konkret besteht das praxisorientierte Ziel des Projektes darin, die Forschungsergebnisse für den Aufbau von Strukturen in einem bestimmten Versorgungsbereich zu nutzen. Durch einen bereichsübergreifenden Erfahrungsaustausch sollen in möglichst vielen Versorgungsbereichen Praktiken verbessert werden.
Viele Fördermittel wie das Programm „REACT with impact – Förderung des Sozialunternehmertums“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), sind gut gemeint, um gemeinwohlorientierte kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und Social Startups zu unterstützen.
Für zivilgesellschaftliches Wirtschaften sind die Anforderungen leider völlig überzogen. Häufig würde eine kleine Förderung für den Aufbau einer Prozessstruktur völlig ausreichen. Im Kontext gemeinschaftlich organisierter Projekte ist eine sensible Form der Unterstützung notwendig, da ein Zuviel an Professionalisierung einen Verlust an Authentizität und Innovation zur Folge haben kann.
Das Projekt „Teilgabe“ (Öffnet in neuem Fenster) ist eine Kooperation des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung mit der Universität zu Köln (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie) und der Universität Hamburg (Fachbereich Sozialökonomie). Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
Am 24. Juni 2023 findet in Kassel erstmalig eine Bundesversammlung des kooperativen Wirtschaftens in Deutschland statt. Alle Akteure, die sich für kooperatives Wirtschaften einsetzen, sind herzlich eingeladen! Die Teilnahme ist kostenlos. Eine Anmeldung ist bis zum 16. Juni 23 möglich.
https://www.ioew.de/veranstaltung/bundesversammlung-des-kooperativen-wirtschaftens-in-deutschland (Öffnet in neuem Fenster)
c) Weitere Veranstaltungshinweise
Abschließend noch einige weitere Veranstaltungshinweise, die genau die oben beschriebene Vielfältigkeit der Wohnprojekte und Immovielien zeigen.
Am 10. Juni 2023 veranstalten das Netzwerk für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen und die MitStadtZentrale im Haus der Architektur Köln wieder den alljährlichen Wohnprojektetag. Baukultur NRW unterstützt das Projekt. Das diesjährige Thema ist die soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit in gemeinschaftlichen Wohnprojekten.
https://baukultur.nrw/projekte/9-koelner-wohnprojektetag/ (Öffnet in neuem Fenster)Am 08. September 2023 feiert der Wohnprojektetag NRW sein 20. Jubiläum ganztägig im Wissenschaftspark Gelsenkirchen. Unter dem Motto "Blick zurück nach vorn: 20 Jahre Wohnprojektetag NRW" möchten die WohnBund‐Beratung NRW GmbH und die Stiftung trias gemeinsam mit Ihnen und Euch auf zwei Jahrzehnte des gemeinschaftlichen Wohnens zurückblicken, das Erreichte feiern und neuen Schwung holen.
http://www.wohnprojektetag.nrw/ (Öffnet in neuem Fenster)Am 06. und 07. Oktober finden die Münchner Wohnprojekttage statt
KLIMA / GERECHT – bauen und wohnen
06.10.2023 | 14–18.00 Uhr | Fachtag in der Architekturgalerie München
München und die Metropolregion wachsen beständig weiter. Um den Bedarf an Wohnraum zu decken, wird auf Neubau gesetzt. Doch ein wesentlicher Anteil am globalen CO2-Ausstoß wird durch Gebäude verursacht. Wie könnte es anders gehen? Wie schafft man eine Ausgewogenheit zwischen ökologischem Bauen und leistbarem Wohnen zur Teilhabe aller? Das ist Thema des Fachtags 2023 am 6.10.23 Infos und Anmeldung
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07.10.2023 | 13–18.00 Uhr | Wohnprojekttag im Kulturzentrum LUISE | Ruppertstraße 5 | München
Der Wohnprojekttag am 7.10.23 bietet Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch und Vernetzen unter und zwischen Fachleuten, Projekten und Initiativen. An Infoständen informieren die Akteure über ihre Angebote, ihre Pläne und beantworten Ihre Fragen. Infos und Anmeldung (Öffnet in neuem Fenster)
Mit diesem Newsletter habe ich versucht, die Bedeutung von Wohnprojekten bzw. Immovielien zu "verorten".
Ich wünsche Ihnen ein wunderschönen Juni.
Angelika Majchrzak-Rummel
Rechtsanwältin und Projektberaterin